Orte für die Seele
Kategorie: Natur
Städte sind nicht nur Anziehungspunkte für die unterschiedlichsten Menschen von nah und fern. Auch die Vielfalt der Tiere und Pflanzen ist im urbanen Raum besonders gross. Ein Augenschein auf der Ziegenwiese in Zürich-Seebach.
Der Weissdorn blüht neben dem Ziegenstall und wenn seine Blüten auf den Boden fallen, ist alles weiss wie Schnee. Die Böschung dahinter beim Wasserschutzgebiet ist ein blaugrün wogendes Meer aus blühendem Wiesensalbei. Später hat dort der gelbe Klappertopf seinen Auftritt. Die Robinien sind sowieso da, wenn auch nicht richtig geliebt.
Denn Robinien sind Neophyten, also nicht einheimische invasive Pflanzen. Sie werden als solche für den Artenrückgang verantwortlich gemacht, weil sie sich unkontrolliert verbreiten. Es wird aber auch berichtet, dass keine andere Laubholzart derart hohe Holzproduktionsleistungen erbringt wie die Robinie.
Und die Bienen lieben deren besonders zuckerhaltigen Nektar. Trotzdem. Fremdes hat halt oft kein gutes Ansehen.
Es wird aber auch berichtet, dass keine andere Laubholzart derart hohe Holzproduktionsleistungen erbringt wie die Robinie.
Und die Bienen lieben deren besonders zuckerhaltigen Nektar. Trotzdem. Fremdes hat halt oft kein gutes Ansehen. Doch auf der Wiese sind die Robinien kein Problem. «Die Geissen reduzieren sie innert Kürze», sagt Julia Hofstetter, Ziegenhirtin, Biologin und Umweltpädagogin.
Die Geissen, Stiefelgeissen aus Göschenen, um genau zu sein, sind zu siebt am Grasen, fünf Weibchen, zwei Böcke. Wie kommen sie hier nach Zürich, mitten in die Stadt? Um das zu beantworten, müssen wir etwas ausholen.
«Ich wollte die Wiese in einen Ort verwandeln, wo Kinder wild, Erwachsene entspannt und Ziegen glücklich sein können.»
Julia Hofstetter Ziegenhirtin, Biologin und Umweltpädagogin
Wilde Kinder und glückliche Ziegen
Die Wiese ist ein Hektar unbebautes Land in Zürichs Norden. In den 1940er-Jahren war hier eine Kiesgrube. Bahntrassees wurden damals gebaut, für die man Kies brauchte, deshalb sieht das Gelände ein bisschen aus wie ein halbierter Topf: Nach vorne zur Bahnlinie ist es offen und flach, die Steilhänge dahinter vermitteln ein Gefühl der Geborgenheit. Mitten im Abhang liegt eine Reservequelle der Trinkwasserversorgung. Sie ist der Grund, dass die Wiese nicht verbaut werden darf. Rundherum die turbulente Nachbarschaft: ein Hochhaus, eine Kirche, Strassen und Wohnhäuser.
Lange Zeit war das Stück Land, das der Stadt gehört, zur Pacht ausgeschrieben. Die Leute, die vorher hier Schafe hielten, waren alt geworden und konnten die Arbeit nicht mehr leisten, die eine solche Wiese macht. Julia Hofstetter hatte ebenfalls Respekt davor. Aber auch eine Idee: «Ich wollte die Wiese in einen Ort verwandeln, wo Kinder wild, Erwachsene entspannt und Ziegen glücklich sein können», schreibt sie im Buch «Stadtgeiss». Die Stiefelgeissen aus Göschenen zogen 2013 ein, in den ehemaligen Schafstall, der von tatkräftigen Händen renoviert und zum Ziegenstall umgebaut worden war. Lockten Kinder und Erwachsene auf die Wiese. Und dann ist alles schnell sehr bunt geworden.
Ein Netz für die Artenvielfalt
Die Stadt ist nicht nur eine Ansammlung von Häusern, Läden, Verkehrswegen, Fahrzeugen und Menschen. Auch wenn Landbewohner das manchmal meinen. Im Gegenteil: Die meisten Städte sind artenreicher als ihr Umland. Das ergaben zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahre. In einer Studie von 2015 etwa haben zwei Forscherinnen des Instituts für Ökologie und Evolution der Universität Bern gezeigt, dass die Biodiversität von baumbewohnenden Insekten und Spinnen in Schweizer Städten gleich gross oder sogar grösser sein kann als im intensiv genutzten Agrarland. Entscheidend sei jedoch, dass das besiedelte Gebiet ausreichend Grünelemente enthalte. Die Käfer, Wanzen, Zikaden und Spinnen wimmeln und wuseln nämlich da besonders zahlreich, wo es in der Nähe kleine Gärten oder Bäume hat.
Städte tragen deshalb bezüglich Biodiversität eine besondere Verantwortung. Im Vergleich zum landwirtschaftlich geprägten Umland, das von Monokulturen dominiert ist, gelten städtische Lebensräume heute als Hotspots der Biodiversität. Hier gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensräume: Da sind die exakt geschnittenen Rasenflächen und von Profis gestalteten Grünanlagen mit ausgewählten, möglichst pflegeleichten Pflanzen. Aber auch wild wucherndes Grün auf unge- nutzten Bahnarealen, Einzelbäume am Strassenrand, unweit davon ganze Baumgruppen in grossflächigen Parks, alte und verwilderte Villengärten, verschiedenartigste Familiengärten und immer mehr Gemeinschaftsgärten mit experimentellem Charakter. Solche Orte «ersetzen heute Lebensräume, welche in der Natur- und Kulturlandschaft selten geworden oder gar verschwunden sind», schrieb die Eidgenössische Forschungsanstalt WSL im Bericht zur BiodiverCity-Studie von 2012.
Als Lebensraum für Tiere und Pflanzen fanden Städte jedoch lange Zeit keine Beachtung. Erst in den letzten Jahren hat sich die Stadtökologie als neue Forschungsdisziplin etabliert. «In Grossagglomerationen wie Wien, Frankfurt oder Zürich leben rund 20 000 verschiedene Organismen», zitiert das WSL eine Untersuchung. Wir Menschen sind also bei Weitem nicht die einzigen Lebewesen in der Stadt, auch wenn wir das manchmal vergessen. Wilde Möhren drängen durch die Ritzen des Fusswegs vor dem Wohnhaus, auf der Kiesinsel in der Limmat hockt ein Graureiher und hoch oben am Himmel zieht der Rotmilan seine Kreise.
2015 hat der Zürcher Tierökologe André Rey im Auftrag von Grün Stadt Zürich im Gebiet zwischen Hardturm und Hauptbahnhofshalle die Vielfalt der Reptilien, Amphibien, Tagfalter, Heuschrecken, Libellen und Wildbienen erfasst; ebenso besondere Brutvögel und Tiergruppen wie Leuchtkäfer, Nachtfalter, Ameisen und Wespen. Resultat: Er und sein Team konnten 171 Tierarten nachweisen, 47 davon mit spezialisierten Lebensraumansprüchen, die für die Biodiversität besonders wertvoll sind. Fast die Hälfte der Arten waren Wildbienen, wovon einige zu den seltenen und gefährdeten gehören.
FUTTER | Früh blühende Blumen sind eine gute Bienenweide. Hier labt sich eine Rote Mauerbiene (Osmia bicornis) am Nektar, einer Trauben-hyazinthe.
Wildbienen in Zürich
Für Wildbienen ist die Stadt Zürich weder eine Betonwüste noch eine ökologische Einöde: 164 der in der Schweiz heimischen rund 600 Wildbienenarten kommen in Zürich vor. Dies haben Forscher der Eidg. -Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL und von der Concordia Universität in Montreal, Kanada, herausgefunden. Damit konnten sie zeigen, dass das Wachstum der Stadtflächen zumindest bei diesen Tierarten nicht unbedingt zu einer Vereinheitlichung der Fauna mit einigen wenigen Arten führen muss, wie häufig befürchtet wird. Immerhin 25 bis 30 Wildbienenarten summen in einem durchschnittlichen Zürcher Haus- oder Schrebergarten, so die Forscher. «Die Stadt bietet vielfältige Lebensräume und die Wildbienen, die hier leben, scheinen gut an die Bedingungen angepasst zu sein.» www.wsl.ch
Die Stadtnatur retten
Der Kanton Zürich soll sich stärker als bisher für die Natur engagieren. Das fordert eine Initiative on BirdLife Zürich, Pro Natura, WWF Zürich, Aqua Viva und dem Fischereiverband Kanton Zürich. 27,5 Millionen Franken sollen zusätzlich zu den -heutigen 27,5 Millionen jährlich in den Natur- und Heimatschutzfonds eingelegt werden. Für mehr -Blumenwiesen, mehr Vielfalt im Wald und im Siedlungsraum, mehr und besseren Schutz für die Moore, mehr Gewässerrenaturierungen. Der Kantonsrat berät zurzeit einen Gegenvorschlag.
www.natur-initiative.ch
Endlich im Dreck wühlen
In normalen Zeiten, wenn keine Viren uns zu Hausarrest zwingen, bietet die Umweltpädagogin Milena Fuchs ein offenes Wiesenatelier an. Und manchmal führt Julia Hofstetter auf der Ziegenwiese Workshops für Schulklassen durch. Mit den Stiefelgeissen holt sie die Schülerinnen und Schüler beim Schulhaus ab. Es sind wilde Spaziergänge und die Kinder brauchen Mut und Kraft, um die Ziegen zu halten. Unterwegs knabbern sie hier an einem Pflänzchen, dort entdecken sie etwas Essbares.
«In der Stadt wird die Artenvielfalt nicht erwartet», sagt die Pädagogin, «doch die Natur hält sich nicht an die Struktur des Menschen.» Auch die Stiefelgeissen wären in der Schweiz übrigens fast ausgestorben. Nur noch 27 weibliche und sieben männliche Stammtiere gab es Anfang der 1980er-Jahre, als Pro Specie Rara sich der Rasse und ihrem Erhalt annahm. Heute führt das Herdebuch gut tausend Tiere; neue Züchter für die robuste Rasse werden nach wie vor gesucht.
Manche Kinder wollen den Stall ausmisten, arbeiten ausdauernd, lassen nicht locker, bis auch die letzte Schubkarrenfahrt zum Misthaufen erledigt ist. Andere bauen Ziegen aus Holz oder legen kleine Gärten an. «Viele Kinder dürfen heute nicht mehr dreckig werden», sagt Julia Hofstetter, «doch Dreck ist wichtig. Er ist der Anfang von allem.» In der Erde wühlen und grübeln, einen Regenwurm entdecken, ein paar Springschwänze, einen Tausendfüssler. Julia Hofstetter findet es wichtig, dass wir die Namen der Lebewesen in unserer Umgebung, der Insekten und Vögel, der Kräuter und Blumen kennen. «Erst wenn wir sie mit Namen ansprechen, tragen wir ihnen auch Sorge.»
HABITATE | Ein Netz von naturnahen Gärten, -Blühstreifen entlang von Strassen und Schienen, Hecken und kleinen Feuchtgebieten sind in -urbanen Gegenden wichtige Elemente zur Förderung der Artenvielfalt.
Ein Stück Lebensqualität
Trotzdem reduziert sie ihre Workshops am liebsten aufs inhaltliche Minimum. Die Ziegenwiese soll ein Ort sein zum Durchatmen. Eine Pause im oft hektischen Alltag. Ganz ohne Botschaften oder ausformulierte Lernziele. Es gibt Kinder, die eine Weile brauchen, bis sie hier, ohne Animation, eine Beschäftigung finden. Doch irgendwann klappt es bei allen. «Das Schönste ist, dass die Kinder den ganzen Tag kein einziges Mal gestritten haben», sagt eine Lehrerin am Ende des Tages.
Stadtnatur ist Lebensqualität, zu diesem Schluss kommt auch die BiodiverCity-Studie des WSL: «Grünräume bieten einen erholsamen Kontrast zur bebauten Umwelt, tragen zur mentalen Gesundheit und zur physischen Fitness bei und ermöglichen Begegnungen.» Doch die Artenvielfalt in der Stadt hat noch weitere bedeutende Funktionen: Sie ist in der warmen Jahreszeit wichtig für die Beschattung und Temperatur-Regulation der versiegelten Flächen und Gebäude. Sie trägt zur Reinigung der Luft bei und reichert sie mit Sauerstoff an. Und sie gestaltet und verschönert das Stadtbild. «Unsere verplante und überdesignte Stadt hat solche planlosen, wilden, gewachsenen Orte nötig», findet Ökologe André Rey. «Orte die offen und frei sind, wo sich etwas entwickeln kann. Solche Orte sind Orte für die Seele. Wir können es uns nicht leisten, sie zu verlieren.» //
Buchtipp
Julia Hofstetter
«Stadtgeiss. Vom Leben
mit Ziegen in der Stadt»,
AT-Verlag, Fr. 29.90
Fotos: sofia mangili | zvg krea/zvg (at-verlag.ch) | julia hofstettler