Wie der Mensch sich die Haustiere schuf
Die menschliche Kultur ist seit Jahrtausenden schier untrennbar mit den Tieren verbunden. Das war nicht immer so. Während unsere Vorfahr* innen einst vor allem Wildtiere jagten, lernten sie vor rund 10 000 Jahren, verschiedene Tiere lebend zu sich zu nehmen und zu ihrem Nutzen zu verändern.
Samuel Krähenbühl, Illustration: Sonja Berger
Ein männlicher Wolf kann bis zu 1,6 Meter lang werden, eine Schulterhöhe von bis zu 90 Zentimetern erreichen und bis zu 80 Kilogramm schwer werden. Hunde der Rasse Chihuahua haben eine Schulterhöhe von etwa 15 Zentimetern und wiegen etwa drei Kilogramm. Doch vor gut 10 000 Jahren hatten beide – der stattliche Wolfsrüde und der kleine Chihuahua – noch die gleichen Vorfahren.
Auerochsstiere hatten einst eine Schulterhöhe von bis zu zwei Metern. Und wogen weit über 1000 Kilogramm. Das Dahomey-Zwergrind hingegen wird etwa 90 Zentimeter gross, Stiere etwa 100 Zentimeter. Stiere werden maximal 300 Kilogramm schwer. Auch sie beide – die vor rund 400 Jahren ausgestorbenen Auerochsen und das Dahomey-Zwergrind – hatten einst vor Jahrtausenden die gleichen Vorfahren.
Hunde wurden zuerst domestiziert
Den Unterschied zwischen diesen völlig unterschiedlichen Verwandten hat eine andere Spezies hergestellt: Wir Menschen! Der Fachausdruck für diese menschengemachte Veränderung von wilden Tieren zu sogenannten Haustieren nennt sich Domestizierung. Nicht alle unsere bekannten Haustiere wurden zur gleichen Zeit domestiziert. Wo sich die Wissenschaft einig ist: Das erste Tier, welches überhaupt domestiziert wurde, ist unser Haushund. Je nach Sichtweise begann die Hundwerdung des Wolfes bereits vor rund 30 000 Jahren. Bald einmal folgten Schafe und Ziegen, Schweine und Rinder. Etwas später auch die Katze.
Die frühen Domestizierungen erfolgten meist im Nahen und Mittleren Osten oder auch in China. Das ist kein Zufall. Denn in diesen Gebieten erfolgte vor mehr als 10 000 Jahren eine grundlegende Umwandlung der Wirtschaftsverhältnisse, welche wir heute als Neolithische Revolution bezeichnen. Während zuvor kleine Gruppen von Menschen sich nomadisierend als Jäger* innen und Sammler*innen am Leben erhielten, veränderten sich im Neolithikum (Jungsteinzeit) die Lebensgrundlagen massiv. Die Menschen assen nicht einfach mehr nur das, was ohnehin wuchs oder ihnen vor die Speere sprang. Nein, sie begannen, Tiere und Pflanzen gezielt zu züchten. Und sie sich laufend verfügbar zu machen. Dabei ging es nicht nur darum, das Fleisch der Tiere zu essen oder ihre Milch zu trinken. Dass frische Kuh-, Ziegen- oder Schafmilch von Erwachsenen getrunken werden konnte, dazu brauchte es beim Menschen zuerst auch eine genetische Anpassung. Denn von Natur aus haben Erwachsene eine sogenannte Laktoseintoleranz. Also eine Unverträglichkeit mit Milchzucker. Hunde etwa wurden gehalten, um Wildtiere fernzuhalten. Katzen sollten die Mäuse von den Getreidevorräten fernhalten. Und selbst das Rindvieh diente nicht einfach nur als Milch- und Fleischlieferant, sondern wurde als Zugtier vor dem Pflug eingesetzt.
Ackerbau und Tierhaltung entstanden
So entstanden Ackerbau und Tierhaltung. Das heisst nichts anderes, als dass die Samen von Pflanzen von den Menschen gesammelt und im nächsten Jahr wieder gezielt gesät wurden. Tiere wurden gefangen gehalten, ja, man muss es sagen: eingesperrt. Und damit begann ein langer Prozess, während dem unsere Vorfahr*innen Tiere und Pflanzen für ihre Zwecke veränderten. Dies erfolgte durch genetische Auslese. Diese schleichende Veränderung erfolgte wohl nicht einmal immer bewusst. Man muss sich vorstellen, dass die Steinzeitmenschen Welpen von verstorbenen Wolfsmüttern zu sich genommen und aufgezogen haben. Diejenigen Jungwölfe, welche eher ein sanftes, den Menschen zugewandtes Wesen hatten, wurden dann wohl für die Weiterzucht verwendet. Generation um Generation wurde geboren. Und die ehemaligen Wölfe entwickelten sich immer mehr in Richtung Hund. Die Auerochsen in Richtung unseres heutigen Rindviehs. Die Wildschweine zu Hausschweinen. Das Bankivahuhn zum Haushuhn. Und, und, und.
Zähmung ist nicht Domestizierung
Zu betonen ist allerdings auch, dass die Domestizierung mit vielen Tierarten nicht gelang. Denn die Domestizierung von Wildtieren sollte nicht mit der Zähmung eines einzelnen Wildtiers verwechselt werden. Menschen haben stets auch Tierarten gehalten, welche nicht domestiziert waren. Nur bei wenigen Arten ist eine Domestizierung gelungen, während andere, obwohl sie teilweise seit Jahrtausenden gezähmt und gehalten werden, niemals domestiziert werden konnten. Denken wir beispielsweise an Dammhirsche, welche sehr wohl in Gehegen gehalten werden können, jedoch trotzdem nicht domestiziert wurden. Auch Elefanten wurden zwar seit Jahrtausenden etwa auf dem indischen Subkontinent als sogenannte Arbeitselefanten gezähmt. Trotzdem blieben sie im Wesen stets Wildtiere.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es viele Tierarten gibt, welche sich nicht einmal zähmen, geschweige denn domestizieren lassen. Insekten etwa sind per se nicht zähmbar, wenn wir den speziellen Fall der Bienen mal ausklammern. Aber auch Säugetierarten wie etwa Zebras oder Feldhasen lassen sich kaum domestizieren. Hasen sind Fluchttiere. Sie lassen sich deshalb kaum einsperren. Dies im Gegensatz zu den Kaninchen, mit denen sie oft verwechselt werden. Denn Kaninchen sind eine ganz andere Tierart mit einem völlig anderen Verhalten. Kaninchen ducken sich oder verziehen sich in Höhlen, wenn sie sich bedroht fühlen. Deshalb lassen sie sich auch in Gehegen halten.
Domestizierung bedeutet Veränderung des Genoms
Was macht denn den Unterschied zwischen Domestizierung und Zähmung aus? Zähmen bedeutet, dass man mit einem Einzeltier so weit kommt, dass es sich an den Menschen gewöhnt, die Fluchtdistanz verringert, keine Angst mehr hat, vielleicht sogar Kooperationen zeigt. Im Gegensatz zum Zähmen bedeutet domestizieren, dass ich das Genom einer Tierart so verändere, dass ich immer wieder mit Individuen dieser Tierart züchten kann und entweder bewusst oder unbewusst dabei selektiere.
Oder anders ausgedrückt: Zähmung ist die Anpassung eines einzelnen Wildtiers an die Menschen. Domestizierung ist eine genetische Anpassung einer Tierart an den Menschen, welche über viele Generationen erfolgt. Es gibt einige Trends, welche bei den meisten domestizierten Tierarten festzustellen sind:
- Grösse: Die meisten domestizierten Tiere werden tendenziell kleiner. Dies, weil sie so für die Menschen besser zu halten sind.
- Färbung: Wildtiere haben oft eine sogenannte Wildfärbung, welche die Tiere in der Natur gut tarnt. Bei domestizierten Tieren treten oft andere Färbungen auf.
- Proportionen: Domestizierte Tiere haben oft auch andere Proportionen als ihre Wildform. So haben domestizierte Hunderassen fast immer kürzere Schnauzen als Wölfe.
Und so veränderten sich die Tiere über die Jahrtausende immer mehr und wurden zu den heutigen Haustieren, wie wir sie kennen. Allerdings muss auch betont werden, dass die Intensität der Veränderung in den letzten rund 200 Jahren noch mal intensiviert wurde. Denn mit der Einführung systematischer Zuchtmethoden erfolgen die Veränderungen immer schneller. So sind alte Landschläge von Tierrassen verschwunden oder zumindest vom Verschwinden bedroht, während neue Tierrassen gezielt gezüchtet werden. Besonders eindrücklich ist das etwa bei den Hunderassen zu sehen.
So haben Bernhardinerhunde von heute nur mehr wenig mit dem legendären Vorfahren «Barry» zu tun, der vor rund 200 Jahren am Grossen St. Bernhard Menschen aus Lawinen rettete.
Chihuahua und Wolf bleiben gleiche Tierart
Die teils riesigen Unterschiede zwischen Wildformen und domestizierten Tieren sind zwar frappant. Trotzdem bleiben im Grunde der kleine Chihuahua und der grosse Wolf die gleiche Tierart. Das sieht man auch am lateinischen Namen. So heisst der europäische Wolf «Canis lupus lupus». Der Haushund «Canis lupus familiaris». Aber beide gehören weiterhin zur Art «Canis lupus». Im Grunde können auch heute sämtliche Haushunde mit Wölfen gepaart werden. Probleme wie etwa zu grosse Welpen für Hündinnen bei kleinen Hunderassen bei der Geburt mal ausgeklammert. Beim Rindvieh, welches eines der wichtigsten Nutztiere für uns Menschen überhaupt ist, existiert die Wildform hingegen nicht mehr. Die letzte Auerochsenkuh starb 1627 in Polen.
Menschen haben sich auch verändert
Spannend ist auch, dass die Domestizierung von Tieren und auch Pflanzen auch uns Menschen selber verändert hat. Unsere Vorfahr*innen haben die Tiere nicht gefragt, ob diese sich domestizieren lassen wollen. Und Nutzen haben im Grunde nur sie daraus gezogen. Die Haltung von Nutztieren und der Anbau von Ackerfrüchten hat die Nahrungsgrundlage der Jungsteinzeitmenschen massiv verbessert. Die Bevölkerung wuchs denn auch stark an. Interessanterweise wurden die damaligen Menschen jedoch wie die Tiere auch kleiner. Das zeigen Skelettfunde. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Versorgung mit Kohlehydraten durch den Ackerbau wesentlich besser war als mit Eiweiss. Denn auch wenn Tiere jetzt gehalten und nicht mehr nur gejagt wurden, assen jedoch viel mehr Münder mit.
Erstaunlicherweise nahm auch die Lebenserwartung der Menschen ab. Als einen der Gründe dafür werden Krankheiten vermutet, welche von den Haustieren auf die Menschen übertragen wurden. Die Verfügbarmachung von Tieren für menschliche Zwecke hatte also nicht nur Vorteile, wie wir bis in jüngste Zeit mit Viren, welche von Mensch zu Tier springen, erfahren müssen.
Wildpflanzen wurden zu Nutzpflanzen
Die im Beitrag beschriebenen Prozesse der Domestizierung von Wild- zu Haustieren geschahen in erstaunlich ähnlicher Art bei den Pflanzen. So entstand aus der Kreuzung mehrerer Getreide- und Wildgrasarten der Weizen. Die ersten angebauten Weizenarten waren Einkorn (Triticum monococcum) und Emmer (Triticum dicoccum). Ihr Herkunftsgebiet ist der Vordere Orient (Fruchtbarer Halbmond). Die Veränderungen der einfachen Wildgrasarten, welche nur sehr wenige Körner trugen, zu den modernen, sehr ertragreichen Getreidesorten, ist ähnlich frappant wie die Domestizierung der Tiere.