Waldbaden ist eine in Japan erforschte und anerkannte Therapie gegen Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck, Stress, Burn-out und Stoffwechselerkrankungen. Der Aufenthalt in Wäldern stärkt unser Immunsystem, hellt unser Gemüt auf und tut uns einfach gut.
Robert Gallmann, Yoshifumi Miyazaki
Der Begriff «Naturtherapie» umfasst eine breite Palette von Therapien wie Wandertherapie und Waldtherapie, Holztherapie oder Geruchstherapie. Ihr gemeinsames Ziel ist es, die entspannende Wirkung der Natur zu nutzen, um Menschen in Einklang mit der Natur zu versetzen und ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu steigern bzw. zu stärken.
Die Grundidee der Naturtherapie wurde von den neuseeländischen Forschern M. A. O'Grady und L. Meinecke als «Back-to-Nature-Theorie» bezeichnet. So betrachtet kann Waldbaden als die Brücke von unserem modernen Leben zurück zur Natur gesehen werden und auf diese Weise helfen, den Mangel an Komfort zu überwinden. Der Aufenthalt in der Natur soll uns unserem natürlichen Zustand, mitunter uns selbst, näherbringen. Das Beste daran ist, dass Waldbaden keiner speziellen Fähigkeiten, Kondition oder Vorbereitung bedarf und ausserdem gratis ist.
« Die Stille des Waldes bringt uns zur Ruhe, während wir uns im Tempo der Natur synchronisieren. »
Viel Sauerstoff und reinigend
Bäume absorbieren im Rahmen der Fotosynthese CO2, setzen erhebliche Mengen Sauerstoff frei und reinigen die Luft von Feinstaub. Besonders nach einem Gewitter ist die Luft frei von Pollen und angereichert mit negativ geladenen Ionen, diese sogenannten freien Radikale neutralisieren, revitalisieren und wirken gleichzeitig beruhigend. Der Effekt kann durch eine gleichmässige abdominale Atmung erhöht werden. Statt, wie es oft im sitzenden Zustand der Fall ist, bloss oberflächlich zu atmen, wird tief eingeatmet und die Lungen werden vollständig mit Luft gefüllt. Wir bewegen uns beim Waldbaden in unserem angestammten Lebensraum, atmen sauerstoffreiche Luft, setzen uns natürlichem Sonnenlicht aus und geniessen die Ruhe unter dem Blätterdach der Bäume. Wieso sich nicht einfach in eine Hängematte legen oder sich auf einen Baumstrunk setzen und meditieren? Hier können wir entspannen, uns sammeln oder gesunden Schlaf und neue Kraft tanken. Indem wir uns den Elementen des Wetters und der Jahreszeiten aussetzen, der Hitze und Kälte, der Sonne, dem Schnee und Regen, frische Luft atmen, uns bewegen und unseren Körper gebrauchen, wofür er gemacht wurde, aktivieren wir die in unserem Körper schlummernden Energien. Durch die Synchronisation mit dem Tempo der Natur und der Stille des Waldes bringen wir uns selbst zur Ruhe.
Darüber hinaus hat Waldbaden einen bioregulatorischen Effekt, wonach es den Blutdruck bei Menschen mit hohem Blutdruck senkt und bei Menschen mit niedrigem Blutdruck erhöht. Derselbe natürliche Regulierungseffekt lässt sich tendenziell auch beim Blutzuckerspiegel beobachten.
Der japanische Arzt Gotō Konzan ist der Ansicht, dass Krankheiten durch aufgestaute Energien im Körper hervorgerufen werden. Seine Behandlung zielt darauf, die Blockierung zu beseitigen und den natürlichen Energiefluss im Körper wiederherzustellen. Wer beim Waldbaden seine Schuhe auszieht und barfuss geht, wird die entspannende Wirkung feststellen – wir sind geerdet, unsere Energie kann frei fliessen.
Wirksamkeit des Waldbadens und Messmethoden
Der menschliche Körper ist für natürliche Anwendungen konzipiert. Wenn wir mit der natürlichen Umgebung oder mit natürlich vorkommenden Reizen in Berührung kommen, gelangen wir unbewusst von selbst in einen Zustand der Entspannung. Dieses Phänomen ist empirisch schon seit Langem bekannt, aber die wissenschaftlichen Daten sind bisher unzureichend gewesen. Bis vor Kurzem wurden die Entspannungseffekte der Natur hauptsächlich subjektiv durch Fragebögen und Interviews bewertet, da physiologische Messmethoden für das menschliche Gehirn und den Körper noch nicht etabliert waren.
Über einen Zeitraum von 13 Jahren, von 2005 bis 2018, wurden Waldtherapie-Experimente mit 756 Proband*innen in 63 Wäldern und benachbarten Städten durchgeführt, von Hokkaido im nördlichsten Teil Japans bis Okinawa im südlichsten Teil Japans. Bei den Studien wurde eine Gruppe der Proband*innen zu Wanderungen in urbane Stadtgebiete geschickt und die zweite Vergleichsgruppe zu Wanderungen in Wäldern.
15 Minuten Waldbaden wirken bereits
Experimente beweisen einen direkten Zusammenhang zwischen Waldbaden und der Aktivität des parasympathischen Nervensystems: Bereits ein 15-minütiger Spaziergang in einem Waldgebiet erhöhte die Aktivität des parasympathischen Nervensystems um 102 % im Vergleich zu einem Spaziergang in einem städtischen Gebiet, was eine signifikante Steigerung der Entspannung bedeutet. Auch das reine Verweilen im Wald, etwa bei einem 15-minütigen Sitzen und Beobachten im Wald, erhöhte das Entspannungsniveau um 56,1 % im Vergleich zum Sitzen in der Stadt. Die Konzentration von Kortisol im Speichel der Proband*innen sank nach einem 15-minütigen Waldspaziergang im Vergleich zum Stadtspaziergang um 15,8 %, was auf eine Verringerung des Stresszustandes hindeutet. Ein 15-minütiger Spaziergang in einem Waldgebiet reduzierte dabei den Stresszustand um 19,4 % im Vergleich zu einem Spaziergang in einem städtischen Gebiet.
« Die Waldumgebung zeigt eine deutlich geringere Gehirnaktivität, was auf eine Entspannung des Gehirns hindeutet. »
Es wurde dadurch festgestellt, dass der Stresszustand unterdrückt wurde. Interessant sind auch die Auswirkungen dieses Experiments auf unser Gehirn, gemessen an der Aktivität des präfrontalen Kortex. Die Gehirnaktivität der Testpersonen war im Wald deutlich geringer als in der Stadt, was auf eine Entspannung des Gehirns hindeutet. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Waldumgebung in Bezug auf visuelle Reize ruhiger ist als die städtische Umgebung mit ihrer Reizüberflutung.
Je mehr wir eine Tätigkeit als angenehm empfinden, desto höher ist der Grad der körperlichen Entspannung. Insbesondere bei körperlichen Aktivitäten in der Natur, die wir als harmonisch empfinden, schüttet unser Körper das Glückshormon Dopamin aus. Dieser Effekt wird unter Exposition von Tageslicht noch verstärkt. Dopamin ist ein natürliches Antidepressivum, es wirkt sich positiv auf unseren Gemütszustand, unser Selbstwertgefühl und unsere Laune aus und stimmt uns positiv, fröhlich und zuversichtlich. Empirische Studien mit der sogenannten «Profil of Mood State (POMS)»-Methode belegen, dass sich die Proband*innen nach dem Aufenthalt im Wald ausgeglichener und zufriedener fühlten, Gefühle wie Anspannung, Niedergeschlagenheit, Trauer und Wut nahmen ab.
Bei einem Experiment unter der Leitung der Nippon Medical School unternahmen Proband*innen an drei aufeinanderfolgenden Tagen je eine zweistündige Wanderung durch den Wald, am Ende des Tages wurde jeweils die NK-Zellkonzentration im Blut gemessen. Die NK-Zellaktivität erhöhte sich im Laufe der drei Tage kontinuierlich, was auf eine Stärkung des Immunsystems schliessen lässt. In einem weiteren Versuch wurde festgestellt, dass die Werte 7 Tage und 30 Tage nach der Rückkehr an den Arbeitsplatz immer noch höher waren als die vorherigen Werte. In dem Experiment mit weiblichen Probanden wurde eine kontinuierliche Wirkung über 7 Tage beobachtet, was darauf hindeutet, dass der Prozess ähnlich wie bei Männern verlief. Schliesslich wurde das gleiche Experiment mit männlichen Probanden in einem städtischen Gebiet nach dem gleichen Versuchsplan durchgeführt. Die Ergebnisse zeigten, dass sich die NK-Zellaktivität am ersten und zweiten Tag nicht veränderte. In der Waldtherapie stieg sie dagegen an, sodass der Effekt als Vorteil des Waldes interpretiert wird.
« Durch regelmässige Aufenthalte im Wald erleben wir nicht nur eine Senkung des Stressniveaus, sondern auch eine Verbesserung unseres Wohlbefindens. »
Darüber hinaus wurden der Blutdruck und andere Parameter 1, 3 und 5 Tage nach Beendigung des Programms gemessen, und es wurde ein Versuchsplan entwickelt, um die anhaltenden Auswirkungen des Programms zu bewerten. Die Messungen wurden vor dem Frühstück, vor dem Mittagessen und vor dem Abendessen durchgeführt. Alle Messungen ergaben niedrigere Werte als 3 Tage vor dem Waldtherapieprogramm.
Tieferer Blutdruck, besserer Schlaf
Die Senkung des Blutdrucks ging im Übrigen mit einer Verbesserung der Schlafqualität einher. Die Schlafdauer insgesamt als auch die Tiefschlafdauer waren länger, und die Proband*innen fühlten sich erholter. Wenn man Schlaf als die beste natürliche Medizin betrachtet, ist dies kein unwesentlicher Nebeneffekt. Bereits 15-minütige Waldspaziergänge wirken sich positiv auf den Blutdruck aus, wobei eine interessante negative Korrelation festgestellt wurde. Die Ergebnisse belegen, dass die Waldtherapie tendenziell den Blutdruck bei Menschen mit hohem Blutdruck senkt, bei Menschen mit niedrigem Blutdruck aber erhöht. In beiden Fällen hat der Aufenthalt im Wald für die betroffenen Personen eine gesundheitlich positive Auswirkung, da sich der Blutdruck dem natürlichen (erwünschten) Blutdruck annähert.
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass regelmässige, längere Aufenthalte im Wald zu einer nachhaltigen Senkung des Stressniveaus führen. Kombiniert mit sportlicher Aktivität wie beispielsweise Wandern kann das zu einer Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands und Wohlbefindens (sowie zu einer gesteigerten Lebenserwartung) massgeblich beitragen.
Wurzeln des Waldbadens in der japanischen Kultur
In der westlichen Geschichte stand der Mensch stets im Wettstreit mit der Natur und musste sich von ihr Lebensraum erkämpfen. Nicht umsonst steht in der Bibel, dass der Mensch sich die Natur untertan machen soll. Im japanischen Selbstverständnis sind die Menschen traditionell eng mit der Natur verbunden, sie fühlen sich ihr nicht übergeordnet, sondern als gleichberechtigter Partner als deren Teil. Dies ist tief im Zen-Buddhismus und in der japanischen Kultur verwurzelt und zieht sich konsequent durch die Geschichte, die Traditionen und die Gesellschaft. Japan besteht zu drei Vierteln aus Gebirge, nur ein kleiner Teil des Landes ist wirtschaftlich nutzbar, entsprechend dicht besiedelt sind die urbanen Gebiete. Rund 70 % Japans sind bewaldet, die Wälder sind ursprünglich und ausgesprochen artenreich: Buchen, Eichen, Ahornbäume, Birken, Kiefern, japanische Pinien, Lärchen, Zedern und Hinoki-Scheinzypressen – um nur einige Baumarten zu nennen. Die Japaner*innen verehren alte Bäume als Kraftorte und glauben, dass in ihnen Naturgeister wohnen, nicht selten werden ihnen Schreine (Tempel) errichtet, viele der 34 Nationalpärke dienen dem Schutz von Wäldern von besonderer Schönheit.