Kaum ein Haustypus ist so eigen und so vielseitig wie das Engadinerhaus. Wer durch alte Dorfgassen schlendert, dem werden die Gebäude unzählige Geschichten aus vergangenen Zeiten erzählen.
Julia Voormann
Erhaben und geheimnisvoll stehen die charakterstarken Engadinerhäuser mit massiven Mauern, steinernen Dächern, winzigen Fenstern und runden Toren in der eindrücklichen Landschaft. Ursprünglich fanden sich im Oberengadin lose Streuhöfe, bei denen jede Funktion, wie zum Beispiel das Kochen, das Wohnen oder die Behausung der Tiere, in einem eigenen, einräumigen Häuschen aus Stein oder Holz untergebracht war. Als diese Höfe jedoch vermehrt Ziel von Plünderungen und Feuersbrünsten wurden, errichteten sich die wohlhabenderen Bewohner:innen im Hochmittelalter wehrhaftere Turmhäuser. Allein in Zuoz findet man heute noch die Spuren von über 30 solcher Turmund Saalbauten, meistens verbaut im Inneren der heutigen Häuser.
Ein besonders einschneidender Moment in der Geschichte des Tals war der Schwabenkrieg, der 1499 sämtliche Ortschaften bis auf die Grundmauern zerstörte. Beim Wiederaufbau rückten Reich und Arm enger zusammen und schützten ihr Hab und Gut und die hölzernen Fassaden mit steinernen Mauern vor Feuersbrunst, Wind, klirrender Kälte und stechender Sonne. Dabei entwickelten die Engadiner etwas Ausserordentliches: ein Haus, das die vormals freistehenden Elemente des gesamten Hofes verschmilzt: Stall, Scheune, Feuerhaus, Schlafhaus und die verschiedenen Vorratshäuser – alles unter einem Dach.
Mit Sgraffiti geschmückt
Das Engadinerhaus vereint die behaglich wärmende Holzbauweise des Nordens mit den allen Naturgewalten trotzenden Steinmauern des Südens. Denn im harschen Klima des Engadins war weder das eine noch das andere alleine überlebensfähig. Das Herzstück des Hauses wurde aus Kanthölzern gefertigt, auf massige Mauern geschoben und zum besseren Schutz gegen Kälte und Feuer von aussen vermauert. Das Engadinerhaus ist daher eigentlich ein getarnter Holzbau im Mauerkleid.
Mit der Heimkehr der Auswanderer, von denen einige sehr wohlhabend in ihre Heimat zurückfanden, verlor das Engadinerhaus teilweise seine Funktion als landwirtschaftlicher Zweckbau. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann man die Stuben auszukleiden, mehr Innenräume abzuteilen und die Häuser mit reichen Sgraffiti zu schmücken.
Schliesslich baute man eine Treppe vors Haus und ersetzte das grosse Rundbogentor durch eine Tür. Damit machte man deutlich, dass der Eingang nicht mehr mit dem Tier geteilt wurde und im Hausinneren keine Heuwagen mehr an der Stubentür vorbeifuhren. Wer nicht den ganzen Tag hart arbeiten musste, der sass auf der Bank vor dem Haus, beobachtete, tauschte sich aus und entschied als «Vorsitzender» über das Dorfgeschehen.