Unsere grüne Apotheke

Im Wald wachsen nicht nur Bäume. Ein ganzer Blumenstrauss an heilkräftigen Kräutern und Sträuchern wartet darauf, entdeckt zu werden. Der Heilpflanzenexperte nimmt uns mit auf einen Waldspaziergang.

Yves Scherer


Der Wald ist mein Erholungsraum. Am liebsten gehe ich abseits der ausgetretenen Pfade durchs Unterholz. Hier finde ich Vogelfedern, Fuchsbauten, die Schlafplätze der Rehe und an einem abgelegenen Teich geniesse ich das Konzert der Wasserfrösche. Hier gibt es keinen nervigen Lärm, keinen Gestank, keinen Zeitdruck und niemanden, der sich lauthals profilieren muss – ausser die Frösche. Ich setze mich unter einen alten Baum. Dieser ist die Ruhe selbst, tief und sturmfest verwurzelt. Ich konzentriere mich auf meine Atmung: Ruhig und tief lasse ich die Luft in den Körper einströmen und beim Ausatmen lasse ich alles gehen, was nicht mehr dienlich ist. Sauerstoff einatmen, Kohlendioxid ausatmen. Der Baum tut das genaue Gegenteil: Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen, Sauerstoff abgeben. Meine Lunge und der Baum sind eine Einheit. Der Wald ist der äussere Teil unseres Atmungssystems.
Regelmässige Waldspaziergänge sind Erholung pur: sie helfen Stress reduzieren, senken den Blutdruck, beugen psychischen Erkrankungen wie Burn-out und Depression vor und stärken unsere Abwehrkräfte. Das menschliche Immunsystems ist evolutionsgeschichtlich unter dem Einfluss pflanzlicher Wirkstoffe entstanden. Tatsächlich brauchen wir den Wald, um gesund zu bleiben.

Grosse Artenvielfalt – viele Heilpflanzen
In einem strukturreichen Laubmischwald ist die Artenvielfalt gross. Hier gedeihen viele heilkräftige Wildkräuter, Sträucher und Bäume. Genau genommen sind alle Pflanzen Heilpflanzen. Und alle Pflanzen sind auch Giftpflanzen. Denn, wie Paracelsus sagte: «In allen Dingen ist ein Gift und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht's, dass ein Ding ein Gift sei oder nicht.»
Gemächlich setze ich meinen Spaziergang durch den Wald fort. An einem Wasserlauf stehen drei Fieberheilmittel dicht beieinander: Weide, Mädesüss und Wasserdost. Sie vermögen Beschwerden zu heilen, die im feucht-kühlen Klima entstehen, in welchem sie gerne wachsen. Die Rinde junger Weidenzweige und das blühende Mädesüsskraut enthalten Salicylsäure. Dieser Wirkstoff vermag Fieber zu senken und Schmerzen zu lindern. Früher kannte man das Mädesüss auch unter dem Namen Spierstaude (Spiraea ulmaria). Nach ihr wurde das Medikament Aspirin benannt. Die therapeutischen Eigenschaften von Weide und Mädesüss sind sehr ähnlich. Auch der Wasserdost kann als schmerzlinderndes Fieberheilmittel eingesetzt werden. Zudem stärkt er das Immunsystem (siehe auch Kolumne Heilpflanze zum Thema Wasserdost auf Seite 56).

Der Saft der Holunderbeeren wirkt antioxidativ und kräftigend.


Heilsamer Holunder
Am Rande einer kleinen Lichtung stehen mehrere Holunderbüsche. Es ist der Schwarze Holunder, nicht der Rote. Ich erkenne ihn an den tellerförmigen, weissen Blüten. Der Tee frischer oder getrockneter Holunderblüten wirkt stark schweisstreibend. Bei einer Erkältung unterstützt das Schwitzen den Heilungsprozess. Holunderblütentee wirkt ausserdem stark antiviral.

Die reifen Holunderbeeren kann man 20 bis 30 Minuten kochen und auspressen. Dieser Saft, warm getrunken, wirkt antioxidativ und kräftigend. Die getrockneten Beeren kann man in geringen Mengen roh geniessen. Sie enthalten viel Vitamin B2, Vitamin C und Folsäure. Präventiv über zwei bis drei Wochen eingenommen, unterstützen sie die Abwehr gegen grippale Infekte. Die Blätter und die innere Rinde des Holunders können nach Einnahme Übelkeit und Erbrechen erzeugen. Diese Wirkung ist ein Schutz der Pflanze vor allzu gefrässigen Tieren. Anders als oft behauptet, ist der Schwarze Holunder nicht giftig. Eine Tinktur aus den Blättern hat nervenstärkende Wirkung und mag als Begleittherapie bei Epilepsie, Demenzerkrankungen oder Bewegungsstörungen in Erwägung gezogen werden. Vorausgesetzt, die (zurückhaltend dosierte) Anwendung wird gut vertragen.

«Unsere Wälder sind voll von heilkräftigen Pflanzen, die sich vielfältig nutzen lassen.»

 

Baldrian für starke Nerven
Eine andere nervenstärkende Pflanze, die gerne auf feuchtem Boden wächst und häufig im Verbund mit Mädesüss an Bachufern anzutreffen ist, ist der Echte Baldrian. Seine Blüten ergeben einen wohlschmeckenden Tee. Zur Nervenstärkung verwendet man vorwiegend die Wurzel, die im zeitigen Frühjahr oder im Herbst geerntet wird. Niedrig dosiert (1 bis 2 Esslöffel Droge auf einen Liter Wasser) während des Tages getrunken, fördert ein Absud der Wurzel die Konzentrationsfähigkeit und unterstützt den Stressabbau. Hochdosiert (4 bis 5 Esslöffel Droge auf einen Liter Wasser) und abends getrunken, fördert der Absud die Schlafbereitschaft und erhöht die Schlafqualität. Wer trotzdem noch Mühe hat, den Schlaf zu finden, kann dem Baldrian-Absud nachträglich noch Hopfenzapfen zufügen.

Der Echte Baldrian stärkt die Nerven.

Eine stark gerbstoffhaltige Droge sind die Blätter der Brombeersträucher, denen man im Wald immer wieder begegnet. Brombeerblätter-Tee schmeckt am besten, wenn man die frisch geernteten jungen Blätter fermentiert. Dazu walkt man sie mit einem Nudelholz leicht durch und lässt sie anschliessend einen halben Tag lang antrocknen. Danach werden die Blätter auf ein Küchentuch ausgelegt, mit einer Sprühflasche leicht angefeuchtet und satt in das Tuch eingerollt. Die Blätter werden täglich ausgerollt, neu befeuchtet und wieder eingerollt, bis sie dunkelbraun geworden sind und ein feines rosenartiges Aroma entwickelt haben. Dieser Tee wirkt stopfend bei Durchfall und entzündungshemmend auf Haut und Schleimhäute, die man damit wäscht.

An einer Wegbiegung finde ich eine kniehohe Pflanze mit eher kleinen gelben Blüten. Gräbt man ihren Wurzelstock aus, bemerkt man schnell dessen nelkenartigen Geruch. Im Mittelalter war die Nelkenwurz eine bekannte Heilpflanze, die gegen vielerlei Beschwerden eingesetzt wurde. Ihr Wurzelstock wurde seiner antimikrobiellen Wirkung wegen Kräuterweinen und Likören beigegeben, um diese länger haltbar zu machen und zu aromatisieren.

Die Nelkenwurz enthält noch mehr Gerbstoff als die Blutwurz und eignet sich deswegen auch als Wundheilmittel und zur Behandlung von Durchfallerkrankungen. Die aktuelle Forschung beschäftigt sich mit ihrer antioxidativen, immunmodulierenden und krebsvorbeugenden Wirkung. Eine wunderbare Pflanze also, die es wieder zu entdecken gilt! Weder das bisher Gesagte, noch die nachfolgende Auflistung sind auch nur annähernd vollständig. Unsere Wälder sind voll von heilkräftigen Pflanzen, die sich vielfältig nutzen lassen.


Häufige Krankheitsbilder und ausgewählte Heilpflanzen aus dem Wald:

Durchfall
Brombeeren (Rubus sect. Rubus): Tee der Blätter
Eiche (Quercus spp.): Tee der Rinde junger Zweige
Nelkenwurz, Echte (Geum urbanum): Tee des Wurzelstocks

Entgiftung, Frühjahrskur
Bärlauch (Allium ursinum): roh geniessen, Pesto
Brennessel, Grosse (Urtica dioica): Tee des Krautes
Gundelrebe/Gundermann (Glechoma hederacea): roh geniessen, Pesto

Erkältung, Fieber, grippaler Infekt
Fichte, gemeine (Picea abies): Inhalation mit Zweigen, Zapfen und Harz
Mädesüss, Echtes (Filipendula ulmaria): Tee des blühenden Krautes
Holunder, Roter (Sambuccus racemosa): Tee der Blüten
Holunder, Schwarzer (Sambuccus nigra): Tee der Blüten, wenige Beeren roh geniessen
Wasserdost, Gewöhnlicher (Eupatorium cannabinum): Tee des Krautes (kurzfristig)
Weide (Salix spp.): Tee der Rinde junger Zweige
Weisstanne (Abies alba): Inhalation mit Zweigen und Harz

Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Bärlauch (Allium ursinum): roh geniessen, Pesto
Mistel (Viscum album): Tee und Kaltwasserauszug des Krautes
Waldmeister (Galium odoratum): Tee des blühenden Krautes Warnhinweis: Waldmeister wirkt blutverdünnend!
Weissdorn, Zweigriffeliger (Crataegus laevigata): Tee der Blüten, langfristig

Harnwegsinfekt
Ackerschachtelhalm (Equisetum arvense): Abkochung des Krautes als Tee
Brennessel, Grosse (Urtica dioica): Tee des Krautes

Husten
Efeu (Hedera helix): Kaltwasserauszug der Blätter zum Gurgeln
Huflattich (Tussilago farfara): Tee der Blüten und Blätter
Pestwurze (Petasites albus und Petasites hybridus): Tee der Wurzeln

Immunsystem stärken, antivirale Phytobiotika
Braunelle, Kleine (Prunella vulgaris): Tee des blühenden Krautes
Holunder, Schwarzer (Sambuccus nigra): Tee der Blüten, wenige Beeren roh geniessen
Waldengelwurz (Angelica sylvestris): Tee der Wurzeln
Wasserdost, Gewöhnlicher (Eupatorium cannabinum): Tee des Krautes (kurzfristig)

Kopfschmerzen
Pestwurze (Petasites albus und Petasites hybridus): Tee der Wurzeln
Waldmeister (Galium odoratum): Tee des blühenden Krautes Warnhinweis: Waldmeister wirkt blutverdünnend!
Wasserminze (Mentha aquatica) und weitere Minzen-Arten: Tee des blühenden Krautes

Nerven-Tonika
Baldrian, Echter (Valeriana officinalis): Tee der Blüten, Abkochung der Wurzel
Holunder, Schwarzer (Sambuccus nigra): Tinktur der Blätter (niedrig dosiert!)

Rheumatische Beschwerden
Ackerschachtelhalm (Equisetum arvense): Abkochung des Krautes, innerlich
Adlerfarn (Pteridium aquilinum): Kräuterkissen des getrockneten Krautes
Brennessel, Grosse (Urtica dioica): Tee des Krautes
Holunder, Schwarzer (Sambuccus nigra): Tee der Blüten
Wurmfarn, Echter (Dryopteris filix-mas): Kräuterkissen des getrockneten Krautes

Verdauungsbeschwerden
Bärlauch (Allium ursinum): roh geniessen, Pesto
Knoblauchsrauke (Alliaria petiolata): roh geniessen, Pesto
Nelkenwurz, Echte (Geum urbanum): Tee des Wurzelstocks
Waldengelwurz (Angelica sylvestris): Tee der Wurzeln
Wasserminze (Mentha aquatica) und weitere Minzen-Arten: Tee des blühenden Krautes

Wundheilung, Hauterkrankungen
Ackerschachtelhalm (Equisetum arvense): Abkochung des Krautes, äusserlich
Braunelle, Kleine (Prunella vulgaris): Auflage des Pflanzenbreis
Gundelrebe/Gundermann (Glechoma hederacea): Auflage des Pflanzenbreis
Nelkenwurz, Echte (Geum urbanum): Waschung mit dem Tee des Wurzelstocks
Sanikel (Sanicula europaea): Auflage des Pflanzenbreis, Waschung mit dem Absud
Storchschnabel, Stinkender (Geranium robertianum): Waschung mit dem Tee des Krautes

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