Saatkrähen

Kategorie: Natur


Saatkrähen sind kommunikativ, intelligent und verbringen ihr ganzes Leben in Gemeinschaft. Ein Plädoyer für die menschenscheue Schwester der Rabenkrähe.



Wer zetert denn am lautesten? Die erboste Passantin jedenfalls übertönt die Krähenschwärme in den alten Bäumen des Stadtparks: «Schauen Sie sich das an! Diese Krähen verdrecken alles, und einen Saulärm machen sie noch dazu! Sicher über zwanzig Nester sind da oben, immer mehr von diesen Vögeln, warum wird da nichts unternommen?!» Was die Passantin wohl nicht weiss: Bei diesen ruffreudigen Vögeln handelt es sich mitnichten um «gewöhnliche» Krähen, sondern um Saatkrähen (Corvus frugilegus, was so viel heisst wie «Früchte sammelnder Rabe»). Aus der Ferne sind sie tatsächlich kaum von der viel häufigeren Rabenkrähe (Corvus corone = «krähenartiger Rabe»), zu unterscheiden, die im Volksmund «Krähe», «Gwaagge», Aaskrähe oder einfach nur Rabe genannt wird.


Saatkrähen sind etwa gleich gross wie Rabenkrähen und haben bis zum Alter von acht Monaten auch das typische Kennzeichen der erwachsenen Saatkrähe noch nicht ausgebildet: einen unbefiederten, hellgrauen Schnabelansatz. Im Gegensatz zur Rabenkrähe brütet die Saatkrähe gemeinschaftlich in Kolonien: Kommen also viele Nester zusammen, handelt es sich um Saatkrähen. Diese gehen auch schwarmweise auf Nahrungssuche und übernachten stets gemeinsam an einem Schlafplatz.


Im Windschatten der Zivilisation Auch die Lebensweise und Ernährung der Saatkrähen unterscheiden sich von jener der Rabenkrähen, weiss Livio Rey, Mitarbeiter der Vogelwarte Sempach: «Saatkrähen fressen zwar wie die Rabenkrähe zur Brutzeit hauptsächlich Regenwürmer, Insekten, Mäuse, Vogeleier und Jungvögel, und im Winterhalbjahr vor allem Samen und Keimlinge. Im Gegensatz zur Rabenkrähe fressen Saatkrähen jedoch kaum menschlichen Abfall. Aufgerissene Abfallsäcke gehen also normalerweise auf das Konto der viel keckeren Rabenkrähen.» Die beiden Arten haben aber auch einiges gemein. So sind z. B. alle Rabenvögel äusserst lernfähig und verstehen es, Nahrung sehr effizient zu nutzen. Kein Wunder also, fühlen sich Saatkrähen - wie auch Elstern und Rabenkrähen - in Siedlungen wohl. Denn im Windschatten der Zivilisation finden sie Strukturen, die genügend Brutmöglichkeiten und Nahrung für sie bieten.


«Die Schweiz ist auch Winterquartier für ziehende Saatkrähen aus Nordosteuropa», berichtet Rey weiter. «Diese Schwärme treffen im Spätherbst ein und bleiben bis im März. Sie halten sich vor allem in den Tieflagen des Mittellandes und der Nordwestschweiz auf.» Die grössten Ansammlungen von gegen Zehntausend überwinternden Saatkrähen bildeten sich in der klimatisch milden Gegend von Basel. «Je nach Lebensraum können Saatkrähen Zug oder Standvögel sein», erklärt der Experte. «Ist es ihnen im Osten und Norden zu kalt, fliegen sie für den Winter Richtung Süden und Westen.»


Saatkrähen sind recht standorttreu. Noch im Winter kehren sie zu ihren angestammten Brutbäumen zurück, wo sie sich in den frühen Morgenstunden versammeln, um potenzielle Nistplätze im Geäst zu begutachten. Im März beginnen die Paare dann mit dem Nestbau. Kunstvoll verbauen sie dürre Zweige in ihre Nester, die sie mit Moos, Flaum, etc. weich auspolstern – wobei schon mal was herunterfallen kann, wie auf jeder Baustelle. Zwischen den Artgenossen verteidigen sie nur die nächste Nestumgebung. Ist ein Nachbarnest unbewacht, werden Zweige fürs eigene Nest stibitzt. Sind mehrere Nester unbesetzt, können regelrechte Plündereien stattfinden. Im April brüten die Paare bis zu vier Eier aus (rund 18 Tage lang); im Mai ziehen sie ihre krakeelenden Küken auf; binnen rund 30 Tagen entwickeln sich die Nestlinge zu flugfähigen Vögeln. In Sachen Nachwuchs herrscht bei den Saatkrähen Gleichberechtigung: Männchen und Weibchen teilen sich Brut- und Versorgungspflichten.


Wohnt man so eng beisammen, ist Organisation und Kommunikation nötig. Immer wieder geht es laut zu und her auf Saatkrähenbäumen, etwa, wenn der brütende Vogel vom Partner gefüttert wird. Später, wenn beide Eltern ihren Nachwuchs versorgen, ertönen auffordernde, heisere Bettelrufe hungriger Jungschnäbel. Ab und zu kraxeln die Jungvögel zum Nestrand, drehen sich um, recken die Kloake übers Nest und – plitsch! Oh weh, wenn unter dem Baum gerade Spaziergänger flanieren oder Autos parkieren, dann sind Konflikte nicht fern. Oft werden diese noch durch generelle Vorurteile gegenüber Rabenvögeln bekräftigt, die sich seit Generationen in den Köpfen festgekrallt haben: vom «Galgen- und Totenvogel» bis hin zu den Bildern aus Alfred Hitchcocks Horrorfilm «Die Vögel» (1963). Mit dem wahren Leben der Rabenvögel hat solcherlei jedoch nicht im Geringsten was zu tun.





Gemeinsam sind sie stark: Saatkrähen leben in Dauerehe und bleiben gleichzeitig stets in Schwärmen verbunden.

Rabenvögel der Schweiz



01 | Rabenkrähe (Corvus corone) Reinschwarzes Gefieder; unterscheidet sich von der ausgewachsenen Saatkrähe durch die befiederte Schnabelwurzel und den weniger spitzen Schnabel. Lebensraum Wald, Kulturland und Siedlungen. Population in der Schweiz 80 000–120 000 Brutpaare


02 | Nebelkrähe (Corvus cornix) Hellgraue Krähe mit schwarzen Flügeln und schwarzem Kopf. Zwillingsart der Rabenkrähe: Früher wurden beide Arten als «Aaskrähe» zusammengefasst, die Nebelkrähe ist jedoch laut DNA-Analysen eine eigene Art; es kommen aber auch Mischungen (Hybriden) zwischen Raben und Nebelkrähen vor. Lebensraum Wald, Kulturland und Siedlungen. Population in der Schweiz 2000–3000 Brutpaare.



03 | Saatkrähe (Corvus frugilegus) Grösse wie Raben- und Nebelkrähe; wichtigstes Kennzeichen ist die nackte, helle Schnabelwurzel. Brütet in Kolonien und lebt immer im Schwarm. Lebensraum Kulturland und Siedlungen. Population in der Schweiz 5800–7300 Brutpaare.

04 | Kolkrabe (Corvus corax) Kolkraben sind die grössten Singvögel überhaupt (etwa bussardgross). Gefieder reinschwarz mit grünlich bis bläulich-metallischem Glanz, Schwanzende keilförmig; kräftiger und leicht gebogener Schnabel. Stimme: vom sonoren «Korrk» und «Grogg»über raues «Rrab» bis zum schönen «Klong» (über 80 Laute). Lebensraum Gebirge, Felsen, Wald (ab und zu auch in bewaldeten Pärken). Population in der Schweiz 2000–3000 Brutpaare.



05 | Dohle (Corvus monedula) Dunkelgrauer Vogel mit hellgrauem Nacken, kurzem Schnabel und heller Iris; kleiner als Saat-, Raben- und Nebelkrähe, schnellerer Flügelschlag. Meist angenehm klingende, kurze Rufe: «kja», oft mehrfach wiederholt, und härteres «kjack!» oder gezogenes «kjaar». Lebensraum Höchste Siedlungsdichten in Städten. Höhlenbrüter in Felswänden, alten Bäumen und Gebäuden (Kamine, Kirchtürme), bildet oft kleine Kolonien. Population in der Schweiz 1250–1500 Brutpaare.

06 | Alpendohle (Pyrrhocorax graculus) Grösse ähnlich der «normalen» Dohle, Gefieder aber komplett schwarz. Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal sind der gelbe Schnabel und die roten Beine. Alpendohlen sind Allesfresser. Im Winter besuchen sie auch die Siedlungen. Ausserhalb des Alpenraums kaum zu beobachten. Lebensraum Gesamter Alpenraum. Population in der Schweiz 11 000–21 000 Brutpaare.



07 | Alpenkrähe (Pyrrhocorax pyrrhocorax) Die Alpenkrähe brütet bei uns nur noch im Wallis und zählt zu den stark bedrohten Brutvögeln. Die Nistplätze liegen im Gebirge in Höhen zwischen 1600 und 3000 m ü.M. Bestimmte Neststandorte können über eine lange Zeit immer wieder benutzt werden. Die Paare bleiben sich lebenslang treu. Nur beim Tod eines Partners kommt es zu einer Neuverpaarung. Obwohl Alpenkrähe und Alpendohle im Wallis zusammen vorkommen, werden sie selten in gemischten Gruppen angetroffen. Lebensraum Gebirge im Kanton Wallis. Population in der Schweiz 70–80 Brutpaare.


08 | Elster (Pica pica) Schlanker Rabenvogel mit auffällig langem Schwanz; mit der typischen Schwarz-Weiss-Färbung unverwechselbar. Der Bestand der Elster ist in den letzten Jahrzehnten insgesamt nur leicht angestiegen. Sie ist aber vermehrt ins Siedlungsgebiet eingewandert und zu einem eigentlichen Kulturfolger geworden. Lebensraum Kulturland, Siedlungen. Population in der Schweiz 35 000–40 000 Brutpaare.








09 | Eichelhäher (Garrulus glandarius) Rot-beige Grundfärbung, gestrichelter Scheitel, schwarzer Bartstreif und blaue Flügelbugfedern. Laute, rätschende Rufe, auch bussardähnliche Pfiffe. Lebensraum Wald, Obstgärten, Siedlungen. Population in der Schweiz 60 000–75 000 Brutpaare.









10 | Tannenhäher (Nucifraga caryocatactes) Grösse wie Eichelhäher, Gefieder braun mit dichter weisser Fleckung. Vogel der Nadelwälder, bevorzugte Nahrung Kiefern und Fichtensamen sowie Haselnüsse, auch Beeren und Obst. Ruft schnarrend und meist wiederholt «krääähh.» Lebensraum Nadelwälder. Population in der Schweiz 20 000–25 000 Brutpaare.




Im Windschatten der Zivilisation finden Saatkrähen genügend Brutmöglichkeiten und Nahrung.



Lautstarke Kommunikation Faktisch erweist sich auch das menschliche Lärmempfinden als subjektiv. So haben Lärmmessungen bei grösseren Saatkrähenkolonien Werte von 60 bis 75 dB ergeben. Zum Vergleich: Autoverkehr beträgt 80 bis 90 dB. Schallpegelmessungen in der Stadt Bern haben gezeigt, dass die Werte von Saatkrähenrufen deutlich unter denen des Verkehrslärms liegen. Geräusche von Personen- und Lastwagen, Bussen, Trams, Eisenbahnen und Kirchenglocken gibt es in unterschiedlichster Intensität sogar rund um die Uhr. «Das Krächzen der Saatkrähen hingegen ist auf den Tag beschränkt, mit den stärksten Lautäusserungen in den frühen Morgenstunden und am Abend», erklärt Livio Rey. Das könne durchaus störend wirken, räumt er ein. Auf einem anderen Blatt steht, in welchem Ausmass der Mensch für die Tiere störend einwirkt – man denke nur etwa an die Lichtverschmutzung.


Zudem: Was können diese Singvögel (ja, Rabenvögel sind Singvögel!) dafür, dass sie nicht zu den wohlklingenden Sängern gehören? Ihre Begabung ist eben kommunikativer Art: Saatkrähen verfügen über eine bewundernswerte Palette an Lautäusserungen. So wird heiser gekrächzt, gegluckst, begrüsst oder lautstark gewarnt in den Kolonien. «Krah» ist eben nicht gleich «Krah»! Je nachdem, ob es beim rituellen Verbeugen sich begrüssender Partner eingesetzt wird oder in aggressiven Situationen, wo es zum deutlich länger und höheren «Krääääh» mutiert. Charmant ist das besonders im Frühjahr in die längeren Krächzlaute eingebettete leise, gurrende «Schwätzen». Auch Jungvögel und Nestlinge rufen sehr laut und quietschend. Schliesslich haben sie grossen Hunger, was sie mit durchdringenden «Rrrahs» kundtun. Nimmt man sich die Zeit, die Saatkrähen zu beobachten, findet man sich wieder in einem belebten «Dorf» mit regem Austausch. Wer dem Treiben einer Kolonie länger zuschaut, wird bald staunen über die akrobatischen Flugspiele, die Vielzahl der Laute, vor allem aber über die berührende Fürsorge und ein faszinierendes Miteinander.


Einer für alle Ende Juni sind die letzten Jungvögel flügge. Sie verlassen ihre Brutbäume und streifen mit den Altvögeln zur Nahrungssuche umher. Manchmal schliessen sich ihnen auch andere Arten an, etwa Rabenkrähen oder Dohlen, ganz nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stark! Saatkrähen leben in Dauerehe, bleiben aber gleichzeitig stets in Schwärmen. In diesen brüten sie, suchen zusammen Nahrung und abends beziehen sie den gemeinschaftlichen Schlafplatz. «So sind Saatkrähen nie wirklich alleine, haben kein echtes Revier und sind höchst sozial. Eine Strategie mit Vor- und Nachteilen», erläutert Rey: «Zwar sind sie so gegen Angreifer besser geschützt, doch können sich Krankheiten durch das nahe Beisammensein leichter ausbreiten. Zudem ist der Platz begrenzt.»

Tagsüber verlassen Saatkrähen die Stadt und suchen die Landwirtschaftsgebiete bis zirka zehn Kilometer ausserhalb der Agglomerationen auf. «So geniessen sie am Tag die Vorteile des Landlebens, sammeln Früchte, Samen, Engerlinge, Würmer, Wühlmäuse und ähnliches, während sie nachts wieder den Schutz und die Wärme der Stadt suchen, wo auch ihre Feinde deutlich weniger häufig sind, etwa Greifvögel.» Vom Menschen halten sich die vorsichtigen Saatkrähen eher fern. Ganz im Gegensatz zur Rabenkrähe.


Geschützt und gejagt Als 1963 erstmals ein Saatkrähenpaar in der Schweiz brütete, freute man sich. Die Anzahl Paare nahm zwar kontinuierlich zu, jedoch langsam. Trotzdem wurden sie bejagt. Erst 1986 setzte man die Art auf die Rote Liste der gefährdeten Vogelarten und ihr Abschuss wurde verboten. Der Bestand nahm in der Folge deutlich zu, sodass Saatkrähen 2010 neu als «nicht gefährdet» eingestuft und mit der Änderung der Jagdverordnung 2012 wieder zur jagdbaren Art erklärt wurden. Während der Schonzeit vom 16. Februar bis zum 31. Juli ist das Jagen sowie Zerstören der Nester, Eier und Jungvögel nach wie vor verboten. Heute brüten schätzungsweise 5800 bis 7300 Paare in der Schweiz. Zum Vergleich: Von der Rabenkrähe gibt es rund 80 000 bis 120 000 Paare.


Die Kolonien der Saatkrähen bevorzugen Alleen und Parkanlagen. Nester werden gern auf Platanen, aber auch auf Eschen, Robinien, Buchen, Ahornen etc. errichtet. Allfällige Vertreibungsversuche, wie sie immer wieder durchgeführt werden, durchschauen die schlauen Vögel meist schnell. Das macht es schwierig, sie zu vertreiben. Patentrezepte gibt es sowieso nicht, denn jede Kolonie spricht auf andere Methoden besser an. Meist bewirkt menschliches Eingreifen deshalb wenig, und eine Kolonie wächst rasch wieder zu alter Grösse heran. «Die Ausbreitung der Saatkrähe in der Schweiz verlief sehr dynamisch», sagt Rey: «Einzelne Kolonien blieben über Jahre klein oder wurden schon im ersten oder nach wenigen Jahren aufgegeben, andere wiederum wuchsen stark an.»


Neben Vertreibungsversuchen wird immer wieder eine Regulation der Population gefordert. Der Abschuss setzt aber natürliche Regulationsmechanismen ausser Kraft, die eine unbegrenzte Zunahme der Bestände einschränken: Wenn die Bestandsdichte zu hoch ist, treten natürlicherweise vermehrt Nichtbrüter auf. Das stört die Brutpaare bei der Jungenaufzucht erheblich und schmälert auch den Bruterfolg. Zudem nehmen Aggressionen zwischen benachbarten Brutpaaren zu und in der Folge nimmt die Siedlungsdichte ab. Es ist die Regel, dass sich die Natur selbst reguliert, wenn der Mensch nicht reinpfuscht. Bei den Saatkrähen ist es nicht anders.


Warum also nicht akzeptieren, dass diese Vögel als Kulturfolger Spiegel der menschlichen Expansion sind? Wäre es nicht sinnvoller, generell die Biodiversität zu fördern, statt Arten zu dezimieren? Als anpassungsfähige Vögel kommen Rabenvögel auch gut in monotonen Landschaften zurecht. Wollen wir in unserer Umgebung auch anspruchsvollere Vögel, können wir sie mit einheimischen Sträuchern, Bäumen, unversiegelten Flächen und Blumenwiesen fördern. Dann können wir uns an einem vielstimmigen Vogelkonzert erfreuen und gleichzeitig den Krähen bei ihrem täglichen Treiben zuhören – mehr Lebensqualität für alle Beteiligten.

Fotos: getty-images.com

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