Natur schreibt Geschichte

Kategorie: Natur


Wieso eigentlich haben die Inuit nie die Weltherrschaft übernommen? Was unterscheidet Babylonier, Sumerer und Römer von Inkas, Mayas und Azteken? Und was haben Bodenschätze mit der Europäischen Union zu tun? Historiker Benedikt Meyer beschreibt, wie die Natur Geschichte schreibt.



«Wieso eigentlich habt ihr uns entdeckt und nicht wir euch?»









Sag mir» fragte ein Einheimischer den Biologen Jared Diamond am Strand von Neu Guinea: «Warum haben wir so wenig und ihr so viel? Und wieso habt eigentlich ihr uns entdeckt und nicht wir euch?» Der Biologe kam ins Grübeln. Er grübelte so sehr, dass er ein Buch schrieb. Über 500 Seiten zählt sein Werk «Arm und Reich». Als Biologe betrachtete Diamond die Weltgeschichte, wie einen Ameisenhaufen: neugierig, aber mit einer gesunden Distanz. Auch Ameisen sind nicht alle gleich erfolgreich. Den einen legt das Schicksal eine tote Maus vor die Tür, die anderen werden von Ameisenbären gefressen. Der Unterschied liegt nicht bei den Ameisen – sondern in der Natur. Die Inuit und die verpasste Weltherrschaft Bei uns Menschen ist es dasselbe. Dass die Inuit nie die Weltherrschaft an sich gerissen haben, überrascht niemanden. Auch die Aborigines hatten nicht den einfachsten Start. In Australien gibt es beispielsweise keine Kühe, keine Pferde und keine Gräser, die sich für den Ackerbau eignen. Im «fruchtbaren Halbmond» (Nildelta, Israel, Libanon, Syrien, Irak) hingegen gab es wilde Getreidesorten, Hülsenfrüchte, und leicht zu domestizierende Tiere. So verwundert es nicht, dass die Menschen ausgerechnet dort zuerst sesshaft geworden sind. Die Landwirtschaft führte mit der Zeit zu Nahrungsmittelüberschüssen, zu Bevölkerungswachstum und zu Hochkulturen. Und diese standen seit Jahrtausenden miteinander in Kontakt – allerdings nicht überall gleich. So hat Eurasien eine Ost-West-Ausrichtung. Eine neue Ackerbautechnik oder eine verbesserte Züchtung verbreitete sich folglich schnell über die Seidenstrasse oder entlang der Küsten des Mittelmeers. Babylonier, Sumerer, Perser, Griechen und Römer konnten also leicht voneinander abkupfern. Für Inkas, Mayas und Azteken war das sehr viel schwieriger, weil sie in komplett unterschiedlichen Klimazonen lebten. Der fiese Nutzen von Krankheiten Die Landwirtschaft führte zu Bevölkerungswachstum und dieses führte zu Krankheiten. Die verbreiten sich dort am besten, wo es viele Menschen hat. Krankheiten erwiesen sich mitunter als ein entscheidender Vorteil: Als die Europäer Amerika entdeckten, lebten sie schon seit Jahrhunderten mit Masern und Pocken. Die Indigenen hingegen starben in Scharen an den für sie neuen Erregern: In manchen Regionen starben über 90 Prozent der Einheimischen an den für sie neuen Krankheiten. Mit den übrig gebliebenen hatten die Konquistadoren leichtes Spiel. «Arm und Reich» von Jared Diamond ist ein Standardwerk. Nun hat sich der Schweizer Biologe Sebastian Jutzi ähnliche Gedanken gemacht. Nicht in einem grossen, welthistorischen Überblick, aber in vielen spannenden, unterhaltsamen und oft amüsanten Details. Denn auch in Europa hat die Natur oft in die Geschichte eingegriffen. Beispielsweise bei der Belagerung Wiens. Das Wetter macht Helden 1529 belagerten die Osmanen unter Sultan Suleiman Wien; sie wurden bei ihrem Feldzug aber von chronisch schlechtem Wetter geplagt. Dieses hatte bereits ihren Treck über den Balkan verlangsamt und führte sogar dazu, dass ihr schweres Geschütz im Schlamm stecken blieb. Mit den leichteren Kanonen aber war die Wiener Verteidigung nicht zu knacken. Schlimmer noch für die Türken: Auch ihre Versorgung blieb in den schlammigen Strassen stecken, und als es dann auch schon Anfang Oktober anfing zu schneien, zog sich der Sultan zermürbt zurück und ging nach Hause. Vergleichbares erlitten die Spanier knapp 60 Jahre später. Denn eigentlich hätte es ihre Armada durchaus mit der britischen Flotte aufnehmen können. Der Wind aber blies so konstant zum Vorteil der Engländer, dass es für die Iberer nicht nur 1588 eine Niederlage absetzte, sondern 1596 und 1597 gleich nochmals. Auch in jüngerer Zeit haben Naturereignisse den Lauf der Geschichte mitbestimmt. Hätte nicht 1937 ein Blitz in Lakehurst in einen Zeppelin eingeschlagen, man sähe die «fliegenden Zigarren» vielleicht noch heute am Himmel. Und hätte nicht am 11. März 2011 im Meer vor Fukushima die Erde gebebt, dann wäre das AKW Mühleberg ziemlich sicher noch am Netz. Aber die Natur greift nicht nur mit, Bazillen, Blitz und Donner in die Geschichte ein; sie inspiriert uns auch immer wieder und bringt uns als Menschheit so weiter. 1660 zum Beispiel soll ein vom Baum fallender Apfel Isaac Newton zu seiner Gravitationstheorie inspiriert haben. 123 Jahre später beobachteten die Papierfabrikanten Jacques und Joseph de Montgolfier, wie heisse Luft eine Papiertüte hochwirbelte – wenig später bauten sie den ersten Heissluftballon. Und ein Hund, der sich beim Spielen in einer Schnur verhedderte, brachte 1857 John Appleby auf die Idee für eine Maschine, die Garben zusammenschnürte.






«Wenn es in Paris regnet, tropft es auf Kelmis»










Wie Exkremente Rätsel lösen Die Natur hilft uns aber auch, die Geschichte überhaupt zu verstehen. Etwa so: Im arktischen und antarktischen Eis sind jahrtausendealte Luftbläschen eingeschlossen, weshalb Forscher tief in die Gletscher bohren, um Eisproben zu entnehmen. Schmilzt das Eis, entweicht die Luft und gibt Hinweise auf das Klima früherer Jahrtausende. Manchmal helfen aber auch ganz andere Überreste, ungeklärte Fragen zu lösen. Im Jahr 218 v.Chr. zog der karthagische Feldherr Hannibal mit (vermutlich) über 50000 Soldaten, 9000 Reitern und 37 Elefanten von Tunesien über Spanien nach Frankreich und von dort über die Alpen, um die Römer von Norden her zu attackieren. Diese Alpenüberquerung gilt als eines der kühnsten Manöver der Geschichte. Gerade deshalb beschäftigte die Frage, wo Hannibal die Alpen überquert hat, die Experten seit Jahrhunderten – bis sie mithilfe der Natur beantwortet wurde. Genauer: Dank der Natur der Pferde. Die 9000 Pferde produzierten nämlich pro Tag und Tier zwischen zirka 10 und 30 Kilogramm Kot. Das ergibt mindestens hundert Tonnen am Tag. Dagegen waren die fünf Tonnen Kot der 37 Elefanten ein bescheidenes Häufchen! Sicher ist: Hannibals Heer produzierte ziemlich viel organisches Material. Hinweise auf solche Kotresten wurden vor fünf Jahren in grosser Zahl am 2947 Meter hohen Col de la Traversette gefunden, einem 2947 Meter hohen Pass in den Cottischen Alpen, an der Grenze zwischen Frankreich und Italien. Das Rätsel scheint mithilfe dieser versteinerten «Bodenschätze» gelöst. Neutral-Moresnet und die EU Ein ganz anderer Bodenschatz, nämlich Zink, prägte die Geschichte von Neutral-Moresnet. Dieses war mit 3,4 km2 Fläche vielleicht nicht das grösste Land Europas und mit 103 Jahren Lebensdauer auch nicht das beständigste. Dafür aber ein Ziel für Ganoven, Träumer und Fantasten. Es begann 1815 mit einem Streit am Wiener Kongress, wo sich Preussen und Niederländer nicht auf die Grenze in den Zink-Abbaugebieten westlich von Aachen einigen konnten. Schliesslich wurde ein Streifen auf dem Gebiet der Gemeinde Kelmis unter gemeinsame Verwaltung gestellt: Neutral-Moresnet. Zink ist von Natur aus rostfrei und darum wurden im 19. Jahrhundert damit Giesskannen, Badewannen, Schiffsrümpfe und Dachrinnen gemacht. Insbesondere für die Dächer von Paris. «Wenn es in Paris regnet, tropft es auf Kelmis», lautete ein Sprichwort. Die Bevölkerung in Neutral-Moresnet wuchs rasant, auch weil die Einwohner bis 1847 keinen Wehrdienst leisten mussten. Aber auch für Schmuggler und Glücksspieler war das Ländchen ein Paradies. 1907 gab es sogar Bemühungen, die Kunstsprache «Esperanto» zur Amtssprache und aus dem Kuriosum einen richtigen Staat zu machen. Dann kam der Erste Weltkrieg und Neutral-Moresnet verschwand von der Landkarte. Auch Zink wird dort heute nicht mehr abgebaut. Nur die auf zinkhaltigen Böden spriessenden Galmeiveilchen erinnern heute noch an den Zwergstaat. Einen ganz anderen Weg wählte man nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch damals ging es wieder um Bodenschätze, doch statt sich darum zu streiten, gründeten Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder 1951 die Montan-Union. Diese regelte die Nutzung der Kohle- und Stahlvorkommen und schuf für diese einen gemeinsamen Markt. Die Bergleute sollten zudem frei zirkulieren können. Die Montan-Union war das erste Überstaatliche Gebilde in Europa – und der Grundstein auf dem später die Europäische Union aufgebaut wurde. Die Natur hat auf uns und unsere Geschichte also einen sehr erheblichen Einfluss. Aber wem muss man das in Zeiten von Corona-Virus und Klimaveränderung überhaupt noch sagen?

Buchtipps Jared Diamond: «Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften», Fischer 2006, ca. Fr. 16.– Sebastian Jutzi: «Als ein Virus Napoleon besiegte. Wie die Natur Geschichte macht», Hirzel 2019, ca. Fr. 30.–

Fotos: iStock.com

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