Die Erde atmet
Die Erde scheint mehr zu sein als ein Planet, der Menschen, Tieren und Pflanzen eine Lebensgrundlage bietet. Vielmehr sollte die Erde als lebendiges Wesen betrachtet werden, das atmet und über ein eigenes Bewusstsein verfügt.

Der Puig d’Alaro war für viele Mallorquiner*innen in der Vergangenheit ein Wallfahrtsort. Einst befand sich hier das Castell d’Alaro. Später errichteten Christ*innen auf diesem mächtigen Berg die Kapelle Nostra Senyora del Refugi. Damals herrschte eine grosse Dürre über Mallorca. Mit der Wallfahrt auf den Berg baten die Menschen um Regen. Dieser kam und machte die Insel fruchtbar. Der Puig d’Alaro ist aber mehr als ein Wallfahrtsort: Aus der Sicht der Geomantin Silvia Reichert de Palacio dient der Berg als Einatmungsort, wo kosmische Kräfte in die Erde eingeatmet und in Verbindung mit der Kraft der Erde gewandelt werden. Dadurch entsteht eine für das irdische Leben nährende Energie. Es scheint, als waren die Wallfahrenden damals besonders feinfühlig, als sie mit ihrer Bitte um Regen genau diesen Ort ausgewählt hatten. Laut der Geomantin dient der zweite, gleich daneben liegende Tafelberg, Alcadena genannt, als Ausatmungspunkt der terrestrischen Energie.
Die Erde als Organismus
Die Erde atmet? Ja, und nicht nur das! Rudolf Steiner (1861–1925), der Begründer der Anthroposophie, betrachtete die Erde als Organismus, als Lebewesen. Wie in allen Lebewesen sollen sich demnach auch in der Erde Stoffwechselvorgänge, Atmungs- und Nerven-Sinnesprozesse abspielen. Laut Rudolf Steiner sind allein die unterschiedlichen Jahreszeiten wie auch die Gezeiten ein Ausdruck der Atmung der Erde. Dabei gehe es nicht allein um die Luft, die von der Erde ein- und ausgeatmet werde, sondern um jene Kräfte, die beispielsweise im Frühling die Pflanzen aus der Erde treiben oder die sie im Herbst wieder welk werden lassen. Rudolf Steiner vergleicht den Atmungsvorgang der Erde mit der Lungenatmung des Menschen. Während die Erde im Winter Kräfte einatmet, für sich behält und verarbeitet, atmet sie die Energie im Frühling aus.

Lebewesen mit Körper, Geist und Seele
Natürlich sind die Erkenntnisse von Rudolf Steiner nicht völlig neu. In Platos Timaios aus dem vierten Jahrhundert vor Christus etwa lässt Plato den sternkundigen Timaios darlegen, dass die Welt als ein Kosmos betrachtet werden müsse – als ein Lebewesen mit Körper, Geist und Seele. Diese weibliche Seele sei älter und ehrwürdiger als die Gottheiten selbst. Im 17. Jahrhundert beobachtete der italienische Forscher und Mathematiker Evangelista Torricelli regelmässige Schwankungen des Luftdrucks. Gegen drei Uhr morgens hatte er seinen Tiefstand, sein Maximum gegen neun Uhr, um bis 15 Uhr wieder auf den Tiefstand zu fallen. Diese «atmosphärische Gezeiten» genannten Luftdruckwellen inspirierten Goethe zum Vergleich mit der Ein- und Ausatmung der Erde.
Allgegenwärtiges Bewusstsein der Erde
Für den deutschen Geomanten Stefan Brönnle ist die Erde ein mächtiges Bewusstseinsfeld. Als solches sei die Erde selbst eine Art Makrolebewesen, das uns Menschen gleichsam einbindet. «Jeder unserer eigenen Atemzüge atmet die Präsenz der Erde ein, jede Nahrungsaufnahme verinnerlicht ihren Körper wie in einer immerwährenden Eucharistie», umschreibt der Geomant das energetische Zusammenspiel zwischen Erde und Mensch. «Mutter Erde ist keine leere Worthülse, sondern vielmehr der Ausdruck jener Kraft, die uns und allen hier lebenden Wesen das Leben ermöglicht.» Dieses Bewusstsein der Erde scheint – so Stefan Brönnle – allgegenwärtig. Und doch gebe es Orte, an denen das Erdbewusstsein direkter und unmittelbarer zu den Menschen spreche. Stefan Brönnle spricht bei diesen «Portalen zu Gaia» vom Göttinnenfokus – von Orten des fokussierten Erdenbewusstseins. Wo findet man solche Orte? Oft haben sie ihre Präsenz in sakralen Bauwerken und an Kultplätzen aller Zeiten.
Energetische Trichterstruktur
Stefan Brönnle vergleicht die Portale zu Gaia mit Bewusstseinsporen, mit Kanälen oder Fahrstühlen «in den Thronsaal der Magna Mater». Auf der Suche nach solchen Orten, wo die Erde Energie ein- und ausatmet, stiess Stefan Brönnle auf gewisse feinstoffliche Gemeinsamkeiten, die sich immer wieder in ähnlicher Form präsentierten. «Ätherisch bestehen Göttinnenfokusse aus einem Wall aus dem Elementeäther Erde, der den Ort begrenzt und schützt», erklärt der Geomant. Dieser ätherische Wall sei jedoch im Grunde genommen nur das oberflächennahe Ende einer energetischen Trichterstruktur, die tief ins Erdinnere reiche. Wie ein Netzwerk überziehen diese «Seelenporen der Erde» laut Stefan Brönnle den Globus und atmen die Erdenseele aus, die die Landschaft durchströmt und beseelt.

Kontinuierlich strömender Fluss
Für die Landschaft scheint die Atmung der Erde genauso wie für andere verkörperte Wesen überlebenswichtig, wie der Geomant Marco Pogacnik, Autor verschiedener Bücher wie zum Beispiel «Das geheime Leben der Erde» oder «Die Gaia-Kultur erschaffen», betont. «In der Landschaft dient die Atmung für den Austausch zwischen der atmosphärischen und der unterirdischen Hälfte des Holons. Indem die Lebenskräfte eines Orts zwischen beiden Räumen kreisen, werden sie beständig wieder aufgeladen und erneuert.» Das Ein- und Ausatmen geschehe in einem kontinuierlich strömenden Fluss, ganz im Gegensatz zur rhythmischen Atmung von Tieren oder Menschen. Die Atmung sei ein grundlegender Bestandteil des Lebenskraftsystems einer Landschaft. «Man findet beide Arten von Atmungspunkten auf allen Ebenen eines Holons bzw. einer geistig-seelischen Einheit eines Landschaftsraumes, sei es auch nur ein kleines Zimmer oder ein kleiner Garten, ein Ort, eine Landschaft, ein Kontinent oder der Erdglobus als Ganzer», erklärt Marco Pogacnik. Der Geomant nennt ferner den Begriff vitalenergetischer Zentren als Teil eines Chakra-Systems, das die Erde umspannt. «Vitalenergetische Zentren sind von höchster Bedeutung für die Lebensqualität einer Landschaft. Sie bilden die Quelle frischer Lebenskraft, die vom Zentrum der Erde aufsteigt.»
Erdatmosphäre verändert die Figur
Auch die Wissenschaft beschäftigt sich mit der «Atmung» der Erde. Forscherinnen und Forscher am Institut für Geodäsie und Geophysik der Technischen Universität (TU) Wien untersuchten die Auswirkungen der Erdatmosphäre auf die Figur, das Rotationsverhalten und das Schwerefeld unseres Planeten. Dabei kamen sie zu folgenden Erkenntnissen: Die Erdatmosphäre bildet offenbar nicht nur die Voraussetzung für menschliches Leben auf der Erde, sondern verändert auch deren Figur, das Rotationsverhalten und das Schwerefeld unseres Planeten. Atmosphärische Auflasten (= Luftdruck), zum Beispiel während einer Hochdruckwetterlage, deformieren die quasi elastisch reagierende Erde um bis zu zwei Zentimeter und verändern auch die Erdanziehung. Entsprechend müssen Beobachtungen des Erdschwerefeldes, die etwa mit speziellen Satellitenmissionen durchgeführt werden, wegen atmosphärischer Effekte korrigiert werden. Schliesslich werden auch kleine, aber messbare Schwankungen der Erdrotation, die sich durch die Polbewegung und Veränderungen der Länge eines Tages ausdrücken, zu einem beträchtlichen Teil durch Prozesse in der Atmosphäre verursacht.
Das «Atemvolumen» der Erde
Der Biologe und Kybernetiker James Lovelock erkannte gemeinsam mit der amerikanischen Mikrobiologin Lynn Margulis bei der Erde einen ähnlichen Vorgang wie man es von Menschen, Tieren oder Pflanzen kennt: Sie nehmen Energie, Wasser, Mineralstoffe und Nahrung auf und geben dafür andere Stoffe wieder an die Umwelt ab. Konkret bedeutet dies: Was wir Menschen einatmen, haben andere Lebewesen, insbesondere Pflanzen und Mikroorganismen, erst kürzlich ausgeatmet. Und was wir ausatmen, ist wiederum Basis für den Lebensprozess anderer Lebewesen. Dies gilt laut James Lovelock nicht nur für den bekannten Sauerstoff-Kohlendioxyd-Kreislauf, sondern ebenso für den Stickstoff, der ständig von im Meer lebenden Mikroorganismen freigesetzt wird. Eine Studie um Christian Beer vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Jena zeigte auf, dass der Gesamtumsatz der Erde, sprich, das «Atemvolumen» 123 Milliarden Tonnen CO2 beträgt.
Beseeltheit der Erde
Um das Verständnis für das Wesen der Erde zu verbessern, braucht es wohl neben neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ein anderes Weltbild gegenüber unserem Planeten sowie einen bewussteren Umgang mit Kraftorten wie zum Beispiel Ein- und Ausatmungspunkte. Denn leider seien manche dieser energetischen Orte – so Stefan Brönnle – von den Menschen verändert oder gar zerstört worden, sodass sie ihre einstige Funktion nicht mehr oder nur noch teilweise wahrnehmen können. «Gerade in einer Zeit, in der Landschaft nur noch nach ihrem ökonomischen Wert als Bauerwartungsland geachtet wird, müssen wir unser Herz wieder für die Beseeltheit der Erde öffnen», fordert Stefan Brönnle. Auch die Kirche scheint erkannt zu haben, in welcher Beziehung wir Menschen zur Erde stehen. So nennt Papst Franziskus die Erde in der Enzyklika «Laudato si» als «unsere Schwester Mutter Erde» – in Anlehnung an den Satz des Heiligen Franziskus, der einst sagte: «Das gemeinsame Haus ist wie eine Schwester, mit der wir das Leben teilen.»

Die Kraft des Ortes
Die Energien der Erde erspüren, erkennen und nutzen
Stefan Brönnle
Verlag Neue Erde, ISBN 978-3-89060-540-1, CHF 21.90

Die Gaiakultur erschaffen
Das Visions- und Arbeitsbuch
Marko Pogacnik
Verlag Neue Erde, ISBN 978-3-89060-805-1, CHF 31.90