Biotope der Behaglichkeit
Sie sind selten geworden, aber es gibt sie: Jene Orte, an denen die Seele plötzlich sinnbildlich entspannt die Schultern senkt. Orte, an denen ein altehrwürdiger Baum das Gemüt mehr hebt als ein Podcast-Potpourri zur Selbstfindung. Warum sich in der Natur das Blatt zum Guten wendet.
Daniela Dambach
Die Natur – sie tut etwas mit den Menschen: sie macht sie einen Span glücklicher, mindestens. Besonders dort, wo sie sich noch nicht hat zähmen lassen. Die Wissenschaft kann messen, was Spaziergänger*innen seit Jahrhunderten spüren: Der Aufenthalt in naturbelassenen Gefilden senkt den Cortisolspiegel ebenso wie den Blutdruck, stärkt das Immunsystem und fördert die Kreativität. Schon wenige Minuten draussen oder mit Sicht ins Grüne sollen ausreichen, um diese positiven Effekte herbeizuführen. Um die Gründe, warum dem so sei, ranken sich Theorie so dicht wie Efeu um Eichenstämme.
Die «Aufmerksamkeits-Erholungs-Theorie» (kurz: ART, englisch: «Attention Restoration Theory») etwa definiert vier Kriterien für erholsame Erlebnisse: Die Umgebung lässt lauschige Weite zu, übt eine Faszination aus, der Alltag liegt fern und sie stillt das situative Bedürfnis nach Ruhe oder Aussicht. Überdies beschäftigt sich eine eigene Sparte der Psychologie damit, was Landschaft mit Leib und Laune macht: die Umweltpsychologie. Im akademischen Kleid auch «Environmental Psychology» genannt, erforscht diese das Wechselspiel zwischen Mensch und Umwelt. Es geht darum, wie räumliche, architektonische oder natürliche Umgebungen das Verhalten, die Emotionen und die Gesundheit beeinflussen.
Einatmen erlaubt, eingreifen nicht
Doch nun von der Theorie mitten in die Tannen: Wo sind sie zu finden, die Stückchen Natur, die noch als «Urwald» durchgehen – jene, die nie gerodet, nie geplant, nie aufgeräumt wurden? Überwachsene Böden, die lebendige Archive der Artenvielfalt sind, Stämme, die alt sind wie Stammbäume und Wipfel, die wie Wolkenkratzer in den heiteren Himmel schiessen, sind heute rar gesät. Doch einst war Europa ein Kontinent der Gewächse: Vor rund 6000 Jahren waren etwa 80 bis 90 % der Fläche bewaldet – eine grüne Decke von Portugal bis zum Ural. Heute sind laut WWF weniger als 1 % dieser «Urwälder» erhalten geblieben. Letzte ursprüngliche Rückzugsräume, wo nicht der Förster, sondern der Specht das Sagen hat, erstrecken sich etwa über die Karpaten in Polen, Rumänien, der Ukraine und der Slowakei. Hier wurzeln bis zu 63 Meter hohe Buchen und seltene Tiere wie Bartgeier und Braunbären finden Unterschlupf. Es gibt UNESCO-Weltnaturerbestätten, die noch «echte Urwälder» beherbergen, wie in Deutschland der Nationalpark Hainich in Thüringen oder den Nationalpark Kellerwald-Edersee in Hessen sowie in Österreich der grösste Urwaldrest des Alpenbogens im «Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal» oder der «Rauriser Urwald» im Salzburgerland mit seinen Moortümpeln, alten Spitzfichten, umgefallenen Bäumen und Lichtungen. Weitere blätterreiche Beispiele für sich selbst überlassene Natur in Deutschland sind das «Urwaldgebiet» Mittelsteighütte im Bayerischen Wald oder die 109 ausgewiesenen Bannwälder auf insgesamt 6800 Hektaren, die sich frei von Eingriffen ungestört zu den «Urwäldern von Morgen» entwickeln sollen.
Sanfte Stimulanz in der Schweiz
In der Schweiz ist solch wilder Wuchs noch seltener: Der Fichtenurwald Scatlè bei Brigels im Kanton Graubünden ist einer der letzten seiner Art. Das Gebiet ist nur schwer zugänglich und steht seit über hundert Jahren unter Schutz.
Für die «Aufmerksamkeitsregeneration» muss man gewiss nicht das Dickicht durchforsten: Allein ein Fleckchen Ursprünglichkeit, wo es knarzt und nichts konstruiert wurde, kann die Stimmung heben. Nicht durch Animation, sondern durch Abwesenheit von allem Überflüssigen. Die Büsche urteilen nicht, der Bach murmelt keine Anweisungen, und der Wind wirbelt ohne Leistungsdruck – ein rauschender, raschelnder Reminder, dass der Mensch Teil der Natur ist, und nicht deren Manager. Verschiedene Studien legen nahe, dass sich die positiven gesundheitlichen Effekte bereits entfalten, wenn man sich zwei Stunden pro Woche bzw. rund 20 Minuten täglich in der Natur aufhält – keine Esoterik, sondern Biochemie in grasgrünem Gewand.
Zu seiner eigenen «Natur» finden: Der Bayerische Wald ist der älteste Nationalpark Deutschlands.
Gut, dass es für kürzeres Auftanken auch in der Schweiz solche «Gesundheitszentren ohne Wartezimmer» gibt wie beispielsweise den vor über 7000 Jahren entstandene Bödmerenwald im Kanton Schwyz oder den Walliser Pfynwald zwischen Sierre und Leuk, einer der grössten zusammenhängenden Föhrenwälder der Alpen. Unweit davon befindet sich auch das Walliser Naturschutzgebiet Derborence, mit einem harzigen Herzen aus Urwald voller bis zu 44 Meter hoher, 450 Jahre alter Tannen.
Gleichenorts schillert ein weiterer stiller Verbündeter des inneren Gleichgewichts: Der «Lac de Derborence» ist einer der jüngsten natürlich entstandenen Schweizer Bergseen. Allein der Anblick von Wasserflächen senkt das Stresslevel, so die Umweltpsychologie. Die Natur hält sanfte Stimulanzien bereit, die für Behaglichkeit sorgen, ohne Beipackzettel – oder höchstens mit dem Hinweis: «Für positive Nebenwirkungen fragen Sie den Baum Ihres Vertrauens.»