Auf der Suche nach den Orten der Kraft

Kraftorte! Es gibt sie überall auf der Welt. Sie finden sich in von Menschen geschaffenen Räumen, in der Natur und auch in der eigenen Seele. All diese Orte haben eine heilsame Wirkung, sie entspannen und beruhigen uns mit positiver Energie. Warum sie diese Wirkung auf uns haben, ist nicht zweifelsfrei geklärt – aber ist das überhaupt wichtig? Wir gehen auf Spurensuche.

Markus Kellenberger


Erlauben Sie mir, diese Geschichte über Kraftorte mit einem Paradoxon zu beginnen. Es lautet: Man muss nicht an Kraftorte glauben, um die Kraft bestimmter Orte zu spüren. Und so ist es wohl auch kein Wunder, dass alle von uns das schon erlebt haben. Man betritt einen Raum und ist ergriffen von dem, was er ausstrahlt. Vielleicht ist es die Ruhe, die Grandiosität oder die Harmonie, die ihn so stark macht, vielleicht auch die Tatsache, dass vor einem schon unzählige Menschen von diesem Ort berührt wurden – auf jeden Fall aber ist es eine wohltuende Energie oder Kraft, die man spürt, ohne dafür Worte finden zu müssen. Dasselbe passiert uns immer wieder auch draussen in der Natur. Ein stiller von einzelnen Sonnenstrahlen durchdrungener Wald, ein lebendig sprudelndes Bächlein, ein alter Baum, an dessen dicken Stamm wir uns vertrauensvoll lehnen oder ein mächtiger, wie von Riesen herbeigeschaffter Findling, all das sind Orte, die etwas in uns berühren, das sich jedem rationalen Erklärungsversuch entzieht.

Kraftorte sind also, so könnte man es vereinfacht sagen, Orte, die uns aus irgendeinem Grund guttun, weil sie uns mit Leben, Stärke und Wohlbefinden füllen. Für die Theologin Katharina Fuhrer, die bis zu ihrer Pensionierung als Pfarrerin in der Pauluskirche in Olten tätig war, steht fest: «Solche Orte entstehen durch uns, durch die Menschen, die sich an diesen Orten aufhalten und offen für deren Magie sind.» Doch woher diese Magie genau stammt, entziehe sich ihrer Kenntnis. «Vielleicht ist es das Göttliche, das wir an solchen Orten spüren, das Verbindende», sagt sie, «und vielleicht ist es auch etwas ganz anderes.» Doch was auch immer es sei, das uns an bestimmten Orten so wohltuend berühre, wichtig sei doch einzig, «dass wir immer wieder die Ruhe finden, um uns solchen Wahrnehmungen gegenüber zu öffnen und sie auch annehmen können.»


Eine brennende Kerze kann ein eigener, kleiner Kraftort sein.



Die ungelöste Frage nach der Ursache

Aber wie der Mensch nun mal ist, mit derart erlösend einfachen Antworten gibt er sich selten zufrieden. Er will Beweise dafür haben, weshalb genau Kraftorte Kraftorte sind. Und mehr oder weniger befriedigende Antworten darauf haben sowohl die sogenannte exakte Wissenschaft als auch die einem esoterischen Weltbild zugeneigte Parawissenschaft gefunden. Dazu muss man wissen, vor rund 140 Jahren begann das Zeitalter der modernen Physik und damit die Erkenntnis, dass unterschiedlichste und mit modernen Methoden messbare Energien die Welt zusammenhalten und auch auf den Menschen einwirken. Die Forscherinnen und Forscher beider Denkrichtungen entwickelten deshalb Theorien darüber, ob geheimnisvolle Erdstrahlen oder sogar regelrechte Energieknoten Kraftorte auszeichnen könnten – und lebten sich auch gleich auseinander. Der Grund: während die universitäre Wissenschaft mit ihren Mitteln bis heute keine solchen Kräfte nachweisen konnte, nutzt die Parawissenschaf Instrumente wie Pendel und Wünschelruten, die im «feinstofflichen» Bereich arbeiten und die gesuchten Energien – zum Beispiel in sogenannten Bovis-Einheiten – messen können (siehe Box «Wirksame Kraftort-Energie oder Aberglaube?»).

Über die Frage, ob es nun Erdstrahlen gibt oder nicht und ob sich diese mit Wünschelruten messen lassen, kann man also herrlich in Streit geraten oder es auch einfach sein lassen, denn unbestritten ist bei Natur- und Parawissenschaftlern, dass es Orte gibt, die den Menschen – sofern er sich darauf einlässt – spürbar mit positiver Lebensenergie füllen. Eine andere Erklärung, warum das so ist, könnte auch in der Geschichte der Menschheit liegen, wie der Anthropologe Carel van Schaik aufgrund seiner Forschungsarbeiten immer wieder betont. Während der grössten Teil der Menschwerdung waren unsere Ahnen so eng mit der Erde verbunden, wie wir es uns heute kaum mehr vorstellen können. Hunderttausende von Jahren lang lebte der Mensch als Teil eines Ganzen, bevor er sich vor nicht allzu langer Zeit zur Krone der Schöpfung aufschwang und diese Verbundenheit nach und nach verlor – aber, darin ist sich Carel van Schaik sicher, nie die Sehnsucht danach.


Alte Kulte und neue Wunder

Für unsere Vorfahren war alles in, auf und über der Welt beseelt und untrennbar miteinander verbunden. Überall auf der Welt schufen die Menschen deshalb heilige Orte, an denen sie mit Hilfe von besonders begabten Frauen und Männern, die als Schamanen, Priesterinnen und Seherinnen wirkten, diese Verbundenheit zelebrierten. Das rund 5000 Jahre alte Stonehenge in England zeugt ebenso davon wie die aus derselben Epoche stammenden Menhire im Waadtland, die Steinkreise und Steinreihen im Knonaueramt im Kanton Zürich oder die Megalithen im Bündnerland. Später übernahmen Kelten, dann die Römer und die Alemannen viele solcher Plätze und errichteten dort ihre Kultstätten, über deren Überresten schliesslich die Christen viele ihrer frühen Kirchen bauten.

Dort, wo es keine historischen Kultplätze zum überbauen gab, warben Kirchen mit segenspendenden Reliquien oder man berief sich auf Wunder, die an diesem Orten passiert seien, um eine möglichst grosse Pilgerschar anzuziehen, denn viele Pilger bedeuteten auch ein Einkommen für die Kirchenherren. Die Jungfrau Maria, die viele der einfachen und abergläubischen Menschen dieser Zeit mit den alten vorchristlichen Muttergottheiten in Verbindung brachten, spielte dabei häufig eine wichtige Rolle. So zum Beispiel in Luthern Bad im Luzerner Hinterland. Um das Jahr 1581 soll es gewesen sein, da erschien Maria einem an Gicht erkrankten Bauern im Traum und beschied ihm, er solle hinter dem Haus graben, bis er auf eine Quelle stosse und dann darin baden. Das tat der gläubige Mann und wurde gesund. Kurz darauf schon wurde an diesem Ort eine Kapelle und später ein Brunnen gebaut und Luthern Bad wurde so zu einem kleinen Wallfahrtsort.

Eine ähnliche Geschichte, allerdings in deutlich grösseren Dimensionen, ereignete sich knapp drei Jahrhunderte später in Lourdes im Jahr 1858. Dort erschien die Muttergottes einer Müllerstochter gleich mehrere Male und zeigte ihr dabei eine geweihte Stelle, an der sie eine Heilquelle finden sollte. Die Müllerstochter tat wie geheissen – und seither ist Lourdes einer der weltweit meistbesuchten Wallfahrts- und Kraftorte. Fünf Millionen Besucherinnen und Besucher wollen jährlich die Kraft dieses Ortes spüren und vielleicht sogar Heilung erfahren.


Rund 4000 Jahre alt: ein Steinkreis aus der Bronzezeit in der englischen Grafschaft Devon.


Die Kraft aus der Natur

Viele dieser alten Kultstätten, die darüber errichteten Kirchen oder die aufgrund von «Wundern» gebauten Kapellen gelten heute als starke Kraftorte, und das erstaunt kaum. Unzählige Generationen von Menschen, die dort immer wieder ihre Rituale feiern, haben diese Plätze «mit ihrer Energie aufgeladen». Davon ist die Pfarrerin Katharina Fuhrer überzeugt. «Und diese Energie ist spürbar und schafft eine Verbundenheit untereinander, aber auch mit all den Menschen vor uns und vor allem mit uns selbst.»

Viele religiös-spirituelle Kraftorte werden nach wie vor mit dem Begriff «Heilung» in Verbindung gebracht, weil deren Ausstrahlung Kräfte in den Besucherinnen und Besuchern wecken kann, die sich positiv auf Seele und Körper auswirken können. Mit der Zunehmenden Entfremdung von traditionellen Religionen und Religionsvorstellungen suchen immer mehr Menschen diese heilenden Kräfte aber nicht mehr nur im Umfeld von Sakralplätzen und -bauten, sondern gezielt wieder in der Natur.

Dieser wieder erwachten naturbezogenen Spiritualität, die in ihrer Vielfalt vom einfachen Genusswandern über Schamanismus bis hin zum Mode gewordenen Waldbaden reicht, geht Bron Taylor in seinem Buch «Dunkelgrüne Religion» nach. Taylor ist Professor für Religion, Natur- und Umweltethik an der Universität von Florida und kommt bei seinen Beobachtungen zum Schluss, dass gerade die Klimakrise wesentlich zur Befeuerung dieses Trends beigetragen habe. «Dass wir täglich mit den Folgen unseres Tuns konfrontiert werden», schreibt er, «hat viele Menschen dazu gebracht, sich mit dem Wert der Natur auseinanderzusetzen und wieder eine emotionale Verbindung zu ihr zu suchen.» Auch der Vatikan hat erkannt, dass sich das Verhältnis der Menschen zwischen Religion und Natur verändert und eine neue Beziehung zur Erde entsteht. Papst Franziskus jedenfalls nennt die Erde seit dem Erscheinen seiner Enzyklika «Laudato si» offiziell wieder «unsere Schwester Mutter Erde», so wie es der Heilige Franz von Assisi, der immer eng mit den Naturkräften verbunden war, vor 800 Jahren auch schon tat.

«Die Kraft der Natur erfüllt uns mit heilender Energie und verbindet uns tief mit uns selbst.»


Die seltsame Vermehrung der Kraftorte

Kraftorte in der Natur erfreuen sich also wachsender Beliebtheit. Oft sind das spektakuläre Orte wie die imposante Felsarena Creux du Van im Freiburger Jura oder der mächtige Inselberg Uluru in Australien, welcher der indigenen Bevölkerung heilig ist. Es geht aber auch bescheidener und trotzdem eindrücklich, wie das beispielsweise die Engstligenfälle bei Adelboden im Berner Oberland oder die Gegend zwischen dem Silvaplaner- und dem Silsersee zeigen. Friedrich Nietzsche, heisst es, schöpfte bei seinen Spaziergängen durch diese stille oberengadiner Landschaft nicht nur frische Kraft, sondern fand dort jeweils auch Inspiration für die zentralen Gedankengänge seiner philosophischen Werke.


Die Kirche Wynau steht vermutlich auf einem vorchristlichen Kultplatz an der Aare.


Nietzsches Spaziergänge liegen 150 Jahre zurück – und seither hat sich im Bereich Tourismus einiges getan. Das Bedürfnis der Menschen nach Ruhe und Spiritualität ist zum Massenphänomen geworden, mit dem sich wie schon im Mittelalter gutes Geld verdienen lässt. Keine Tourismusregion, kein Wellnesshotel und keine Stadt verzichtet mehr darauf, auf seine Kraftorte – oder solche, die es sein könnten – hinzuweisen. Dementsprechend wird für Orte der «Ruhe, Inspiration, Trost und Kraft» auf allen Kanälen geworben. Im Internet kurz den Suchbegriff «Kraftort» eingegeben und hunderte von Angeboten poppen auf. Jeder Wald, jeder See, jede noch so unscheinbare Kapelle und jede auch nur verdachtsweise zum historischen Kultplatz erhobene Wiese wird als Kraftort vermarktet. Es gibt «Natur-Kraft-Wanderungen» in den Bergen, «Kraftort-Rundgänge» in Städten und Routenführer zu «magischen Orten».

 
«Esoterischer Tankstellen-Tourismus»

Bei so vielen Kraftorten müsste die Menschheit eigentlich schon längst vor lauter positiver Energie überfliessen und total entspannt in höheren Sphären schweben, könnte man jedenfalls meinen. Doch so einfach ist es nicht, sich an Kraftorten mir nichts, dir nichts die Mankos des Alltags ausgleichen zu lassen. Martin Frischknecht, Gründer und Redaktor von «Spuren – das Magazin für Spiritualität und Ökologie» sieht das jedenfalls kritisch. «Hinfahren, aussteigen, auftanken, sich erholen, die verbrauchten Batterien aufladen … so funktioniert das nicht», schreibt er über den «esoterischen Tankstellen-Tourismus». Denn: «Wir sind die Resonanzkörper, wir sind die Saiten, die erklingen, wenn subtile Kräfte uns streifen.» Und damit daraus ein Ton entstehe, brauche es statt einer Konsumhaltung eine sensitive Fühligkeit.

Zum Glück geht es auch ohne Kraftort-Tourismus, und das aus einem einfachen Grund: Kraftorte gibt es überall rund um uns herum, auch wenn sie nicht als solche ausgewiesen und ausgemessen sind und beworben werden. Schon der eigene Garten kann ein Kraftort sein – wir müssen uns, wie die Theologin Katharina Fuhrer sagt, «nur dafür Öffnen und die Kraft spüren, die solch nahen Orten eigen ist». Sich für positive Energien zu öffnen, heisse aber auch, nahe Menschen als Kraftorte wahrzunehmen, und nicht zuletzt auch jenen geheimnisvollen Kraftort zu entdecken, zu wecken und zu erforschen, den jeder Mensch tief in seinem Innern trägt.

«Kraftorte gibt es überall um uns herum, auch in uns selbst, wenn wir uns dafür öffnen.»


Wirksame Kraftort-Energie 
oder Aberglaube?

Kraftorte zeichnen sich durch «erhöhte natürliche Energie» aus, die den Menschen auf vielfältige Weise gut tun, lautet die Erklärung von Andrea Fischbacher, die seit rund zwanzig Jahren die «Forschungsstelle Kraft- und Kulturorte Schweiz» leitet. Aus parawissenschaftlicher Sicht, zu der die Forschungsrichtungen Geomantie und Radiästhesie zählen, lässt sich diese «erhöhte Energie» feststellen. Als Messinstrumente kommen dazu Pendel und Wünschelruten zum Einsatz, und als Masseinheit dient die sogenannte Bovis-Einheit. Erfunden hat sie der französische Physiker André Bovis vor rund hundert Jahren. Pendel und Wünschelrute haben dabei die Funktion ähnlich einer Antenne, welche die Kraft eines Ortes auf die messende Person überträgt. Je nach Ausschlag des Pendels oder der Wünschelrute, den die messende Person spürt, legt diese dann intuitiv fest, wie stark sie diesen Ausschlag auf der von 0 bis 10000 reichenden Bovis-Grundskala empfindet.

André Bovis ging bei seiner Messmethode davon aus, dass überall auf der Welt eine Erdenergie oder auch «Lebensenergie» vorhanden sei, allerdings nicht überall gleich stark, und dass diese sich über Wünschelruten und sensitive Menschen messen lasse. Laut Bovis liegt diese Lebensenergie im Durchschnitt bei 6500 Einheiten. Darunter liegende Werte hielt er für abbauend, also ungesund , darüber liegende Werte für aufbauend und somit für Kraft und Energie spendend – und ab 10000 Bovis-Einheiten und darüber hinaus gilt ein Ort als starker Kraftort.

Diese subjektive Messmethode und deren Skala gilt in der Naturwissenschaft als nicht belegbar, ebenso wenig wie die Existenz von Erdstrahlen überhaupt. Aus ihrer Sicht unterscheiden sich Kraftorte physikalisch nicht von beliebigen anderen Orten. Da dennoch viele Menschen an bestimmten Orten eine entspannende und sogar energetisierende Wirkung verspüren, müsse das entweder an bisher mit rationalen Methoden nicht messbaren oder an psychologischen Faktoren liegen, räumt die Naturwissenschaft ein.


Alte Bäume schenken viel Energie – wenn man bereit ist, sie aufzunehmen.

 

Buchempfehlungen

Robert Gallmann, Yoshifumi Miyazaki: «Waldbaden –
Wanderungen zu Kraftorten im Kanton Bern»
, Weber Verlag, 2022

Bron Taylor: «Dunkelgrüne Religion – Naturspiritualität
und die Zukunft des Planeten»
, Verlag Brill/Fink, 2020

Heinz Storrer: «Stille Orte der Schweiz – verborgene Winkel, verträumte Landschaften», Weber Verlag, 2010

Andrea Fischbacher: «Die schönsten Sonntagswanderungen
zu Orten der Kraft – Band 2»
, Weber Verlag 2024

Andrea Fischbacher: «Die schönsten Sonntagswanderungen
zu Orten der Kraft»
, Weber Verlag, 2022

 

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