Wie lassen wir Geschlechter- Privilegien los?

Wer lieben will, sollte sie sich bewusst machen und möglichst loslassen: Privilegien. Denn unverdiente und unbewusste Vorteile – genau wie Nachteile – hindern uns an Vertrauen und echter Begegnung. Kennen Sie den alten Schlager: «Im Wagen vor mir …»?

 

Ein Mann fährt mit seinem Auto hinter einer Frau und sinniert darüber, wie hübsch «das Mädchen» vor ihm ist. Und sie? Fühlt sich verfolgt. Er bejubelt den «schönen Tag», ihr «weiches Haar» und dass er Zeit zum Träumen hat. Und sie gerät langsam in Panik: «Ich werde mich verstecken hinter irgendwelchen Hecken.» Und er trällert ihr hinterher: «Bye-bye, mein schönes Mädchen, gute Reise!»

Seit MeToo wäre der Text kaum noch denkbar, sondern gälte als Verharmlosung sexueller Gewalt. «Aber was habe ich denn getan?», könnte er unschuldig fragen. «Ich hab doch nur geträumt!»

Lieben lernen heisst auch zu verstehen, welches Verhalten unser Gegenüber verletzt oder bedroht. Ich stelle mir vor, die beiden Protagonisten des Schlagers träfen sich Jahre später und reden.

Sie: «Verdammt, du hast mir Angst eingejagt! Und wegen des Umwegs konnte ich meine Tochter nicht pünktlich abholen.»

Er: «Aber wieso hast du Angst vor mir? Ich würde nie jemandem etwas tun.»

«Es laufen so viele Idioten herum.»

«Soll ich mich zurücknehmen, nur weil jemand völlig unberechtigt Angst hat? Wo bleibt meine Freiheit?»

«Was für dich Freiheit ist, ist für mich ein Gefängnis. Ich kann z. B. im Dunkeln nicht rausgehen, ohne mich zu schützen.»

«Das tut mir leid, aber das ist doch nicht meine Schuld. Hast du denn gar kein Interesse an einem Flirt?»

«Doch, aber dazu muss ich mich sicher fühlen.»

«Was brauchst du, um dich sicherer zu fühlen?»

Gute Frage. An dieser Stelle könnte eine Verständigung beginnen. Privilegien loslassen geht nicht allein. Wir haben sie ja nicht selbst gemacht, sondern geerbt. Je unbewusster sie sind, desto schwieriger, sie aufzulösen. Und wer es anspricht, erntet oft Ärger.

Was sind Männer-Privilegien? Zum Beispiel konnten Männer angstfrei öffentlich ihre sexuelle Attraktion zeigen und Komplimente raushauen – wie US-Präsident Donald Trump, der der First Lady von Frankreich einmal bescheinigte, für ihr Alter noch recht attraktiv zu sein. Frauen dagegen mussten sich schamhaft zurückhalten.

Umgekehrt genossen Frauen das Privileg, sich umwerben zu lassen. MeToo hat viel verändert: Viele Männer schämen sich heute, ihre Lust zu zeigen – viele fühlen sich an sexueller Gewalt mitschuldig, ohne je etwas getan zu haben. Und obwohl Frauen von Männern fordern, sensibler zu sein, ziehen viele ganz unschuldig «echte Kerle» mit etwas Draufgängertum vor.

Da ist etwas ordentlich durcheinandergeraten. Wir sind nicht schuld an unseren Privilegien. Schuld sind wir erst, wenn wir sie nicht loslassen. Das ist gemeinsame Arbeit. Mit Kampf und Revolutionen wurden Privilegien beendet. Aber es gelingt auch durch Liebe: Mit Liebe haben wir etwas, wofür es sich lohnt. Vertrauen und offene Gespräche helfen uns, überhaupt einmal unsere Privilegien zu erkennen. Vielleicht leben wir irgendwann in einer Welt, wo alle Menschen ihre Attraktion frei zeigen könnten, ohne andere damit zu bedrohen.

Leila Dregger ist Journalistin und Buchautorin. Sie begeistert sich für gemeinschaftliche Lebensformen, lebte u. a. über 18 Jahre in Tamera, Portugal, sowie in anderen Gemeinschaften. Am meisten liebt sie das Thema Heilung von Liebe und Sexualität sowie neue Wege für das Mann- und Frau-Sein.

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