Vom Ich zum Wir, ohne das Ich zu verlieren

Wann glauben wir, was jemand behauptet? Eine Studie fand heraus: Nicht nur, wenn wir es für richtig halten. Sondern auch, wenn wir eine Bindung zu der Person haben. Wenn es also jemand aus derselben Firma, mit derselben Hautfarbe oder ein Mitglied ihrer Familie sagt. Fazit: Die meisten Menschen stellen Bindung über ihr Gefühl für Wahr und Falsch.

Vertrauen und Zusammengehörigkeit sind natürlich etwas Gutes. Aber wenn wir für die Bindung unseren grössten Schatz aufgeben – unser inneres Gefühl für Richtig und Falsch, unser gesundes Ich – dann laufen wir Gefahr, zum Spielball für Manipulation, Machtmissbrauch, Gruppendynamik zu werden. Dann wird eine Bindung toxisch.

In gesunden Bindungen haben Zweifel ihren Platz. Da sind Widerspruch, Kritik, Unterschiede nicht nur erlaubt, sondern gefordert. Einer Autorität bricht kein Zacken aus der Krone, wenn sie von anderen wissen will: Wie fandest du, was ich gesagt habe? Auch eine Chefin sollte dazu in der Lage sein, sonst wird es einsam an der Spitze.

Liebesbeziehungen können auch aus falsch verstandener Liebe toxisch werden. Wenn ich mich verliebe, will ich herausfinden, wer der andere ist. Ich öffne mich immer weiter, bis ich ihn quasi von innen verstehe. Wir werden «eins», sind in Gleichschwingung – wie Wasser. Dieses tiefe Verstehen ist wunderschön. Aber wenn wir es übertreiben, verlieren wir uns. Und das hat nichts mehr mit Liebe zu tun. Denn wie sollen wir jemanden lieben, der keine Ecken und Kanten mehr hat – kein Ich?

Deshalb ist wichtig zu wissen: Wer bin ich? Was denke, fühle, will ich – und was ist beeinflusst, inspiriert, gefordert vom anderen? Um beim Bild zu bleiben: Wasser hatten wir jetzt genug, nun braucht es Feuer. Wie erzeugen wir Feuer? Durch Reibung.

Das kann man üben. Es beginnt mit kleinen Dingen, Vorlieben, Unterschieden, über die wir uns verständigen und sogar – in Liebe – streiten können. Nur unser gesundes Ich kann dem Geliebten ein Gegenüber und ein manchmal notwendiges Korrektiv sein. Deshalb beginnt Partnerschaft mit dem Ehren unserer Unterschiede. Oder, wie mein Liebster neulich sagte: «Nein, ich mag dieses Kleid an dir nicht besonders. Aber ich mag, dass du etwas trägst, was dir gefällt – ich mag unsere Unterschiede.»

Hier kommt ein Test: Was wäre, wenn ein geliebter Mensch etwas gegen Ihre Wertvorstellungen tut? Wenn er – ich erfinde ein Beispiel – jemanden betrügt? Wagen Sie es – trotz oder wegen Ihrer Liebe –, ihn zur Rede zu stellen? Setzen Sie ihr Grenzen? Oder gehen Sie mit – versuchen Sie, ihn zu rechtfertigen, zu erklären? Oder sogar, die Schuld bei sich selbst zu finden?

Antworten Sie nicht zu leicht. Wenn wir von toxischen Beziehungen oder häuslicher Gewalt hören, denken wir leicht, uns könnte das nie geschehen. Wer so denkt, sagte mir ein Berater, sei besonders gefährdet.

Ein Tipp aus eigener Erfahrung, wenn Sie jemanden kennen, der in einer toxischen Beziehung steckt: Machen Sie Angebote, sagen Sie Ihre Meinung – aber zwingen oder «helfen» Sie ihm/ihr nicht komplett heraus. Lassen Sie sie oder ihn diese Erfahrung selbst machen. Nichts erneuert unser gesundes Ich nachhaltiger, als sich selbst aus einer Abhängigkeit zu befreien.

 

Leila Dregger ist Journalistin und Buchautorin. Sie begeistert sich für gemeinschaftliche Lebensformen, lebte u. a. über 18 Jahre in Tamera, Portugal, sowie in anderen Gemeinschaften. Am meisten liebt sie das Thema Heilung von Liebe und Sexualität sowie neue Wege für das Mann- und Frau-Sein.

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