Scham und Selbstliebe

Haben Sie sich schon einmal für Ihre Liebe geschämt? Ich habe mich kürzlich dabei erwischt. Ich habe gemerkt, dass ich immer noch Liebe für jemanden empfinde, der mich und mir nahestehende Menschen bewusst verletzt hat und meine Liebe offensichtlich nicht verdient. Ich möchte diesem Menschen nie mehr begegnen. Und trotzdem empfinde ich noch Liebe für ihn. Verrückt? Ein Zeichen von Selbstverachtung? Von Realitätsverlust? Oder krankhafter Inkonsequenz?

 

Um es direkt zu sagen: Nein. Ist es nicht. Liebe ist tatsächlich frei. Ich darf lieben, wen und wann ich will. Wir alle dürfen das. Und verdienen kann man Liebe sowieso nicht. Je mehr, tiefer und purer wir lieben, desto besser. Denn wirkliche Liebe richtet sich auf den gesunden, heilen, innersten Seelenkern. Und den hat jeder Mensch, auch ein Schwerverbrecher. Wenn ich jemanden liebe, der diese Liebe scheinbar nicht verdient, dann habe ich ein sehr wertvolles Geschenk für ihn: Ich sehe seinen Kern. Und er hat die Möglichkeit, sich an meiner Liebe zu orientieren. Vielleicht wird er das nie tun – aber ich halte ihm diese Möglichkeit offen. Ich halte zu ihm oder ihr – nicht zu seinen jetzigen Entscheidungen, sondern zu dem, was er oder sie eigentlich ist oder sein könnte.

 Liebe bedeutet nicht, jemanden stur in dessen Verhalten zu bestätigen. Es bedeutet auch nicht, eine Beziehung mit jemand führen zu müssen. Und ganz sicher nicht, zu dulden, dass er mich oder andere verletzt. Das wäre dann tatsächlich all das: Selbstverachtung, Demütigung, Realitätsverlust.

Alle, die schon einmal in einer toxischen Beziehung waren, kennen diese Gratwanderung. Es braucht seelische Reife, in der Liebe zu differenzieren: zu lieben und gleichzeitig die eigenen Grenzen zu wahren.

Manche geraten in eine Ko-Abhängigkeit. Sie geben sich die Schuld daran, dass der andere so abgestürzt ist: Habe ich mit meiner Liebe dazu beigetragen? War ich zu unkritisch?

Um die Antwort darauf zu finden, habe ich eine Verbündete entdeckt: Scham. Ja, dieses höchst unangenehme Gefühl, das uns dazu bringt, im Erdboden versinken zu wollen. Scham – und damit meine ich jetzt nicht die soziale Anpassungsscham, die uns auf Kurs mit unserem Kollektiv bringen soll, sondern gesunde Scham – ist eine Berührung mit unserem eigenen Seelenkern.

Gesunde Scham wirft uns schmerzhaft auf uns selbst zurück. Wir fühlen dann pur, also ohne Beschönigung und Rechtfertigung, was wir getan haben. Und können, falls es nicht mit unseren Werten übereinstimmt, eine innere Kehrtwendung vollziehen.

Aber manchmal schämen wir uns auch für etwas Gutes, etwas sehr Intimes, etwas, das ganz zu uns gehört – aber das vielleicht von anderen abgelehnt wird. Gesunde Scham gibt uns die Chance, das zu unterscheiden und uns zu überprüfen.

Meine Selbstüberprüfung ergibt heute: Ich darf lieben. Ich liebe am meisten den Menschen, mit dem ich gewählt habe, mein Leben zu verbringen. Und ich will vor ihm nicht verbergen, dass meine Liebe auch noch andere Menschen umfasst. Nicht alle von ihnen verdienen diese Liebe. Aber ich verdiene, in Liebe zu sein. Das heisst: Ich liebe – und zwar so viel, wie meine Selbstliebe es zulässt.


Leila Dregger ist Journalistin und Buchautorin. Sie begeistert sich für gemeinschaftliche Lebensformen, lebte u. a. über 18 Jahre in Tamera, Portugal, sowie in anderen Gemeinschaften. Am meisten liebt sie das Thema Heilung von Liebe und Sexualität sowie neue Wege für das Mann- und Frau-Sein.

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