Tipps und Tricks zum Sammeln von Heilpflanzen
Ob für die Wildsammlung oder im Gartenbau – Regeln für den Umgang mit Heilpflanzen gibt es viele. Die Wichtigste ist: Respekt!
Yves Scherer

Für einmal will ich nicht Pflanzen sammeln, sondern einen Pilz, dessen medizinische Eigenschaften mich interessieren. Am Abend vor meinem Ausflug rufe ich meinen Sohn an. Ich will ihn fragen, ob er Zeit hat, mich zu treffen. Leider erreiche ich ihn nicht und schicke ihm eine Textnachricht.
Am nächsten Morgen bin ich im Wald. An einem abgestorbenen Baum finde ich ein schönes Exemplar des gesuchten Baumschwamms. Wie es beim Pflanzensammeln meine Angewohnheit ist, frage ich auch den Pilz im Stillen um Erlaubnis, bevor ich ihn ernte: «Hallo Baumschwamm. Ich möchte dich gerne mit nach Hause nehmen. Darf ich?» In meiner Jackentasche vibriert das Handy. Ich öffne die Nachricht und traue meinen Augen nicht. «Leider nein!» steht da, mit einem Smiley unten dran – die Antwort meines Sohnes. Die Situationskomik dieser doppeldeutigen Botschaft zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich lasse den Pilz am Baum und suche mir ein willigeres Exemplar. Die Kommunikation mit der Pflanze ist wichtig, denn gemäss der Philosophie des Hinduismus’ wird jede Pflanze von einem Pflanzengeist bewohnt, dem Deva. Bevor wir Pflanzen sammeln, können wir dem Pflanzengeist mit einem kleinen Geschenk unsere Dankbarkeit erweisen und ihm erklären, weshalb wir seine Medizin brauchen. Pflanzenwesen anzusprechen ist nichts Exotisches. Auch die europäische Volksheilkunde kennt diese alte schamanische Praxis. Und es hat noch niemand bewiesen, dass die Pflanzen uns nicht verstehen.

Die richtige Pflanze zur richtigen Zeit sammeln
Wer Wildkräuter sammelt, muss diese zweifelsfrei bestimmen können. Zur groben Bestimmung haben sich Pflanzenbestimmungs-Apps bewährt. Die Resultate einer App sind aber nie ganz sicher und müssen überprüft werden. Wenn ich die Pflanzen über das Jahr beobachte, gewinne ich Sicherheit im Erkennen ihrer typischen Merkmale. Nachdem ich eine Pflanze sicher bestimmt habe, prüfe ich ihren Zustand. Denn nur gesunde Pflanzen sind gute Heilmittel. Alle Pflanzenteile, die gesammelt werden, sollen frisch, unverletzt, ohne Flecken und frei von Blattläusen sein.
Nicht jeder Pflanzenteil ist zu jeder Zeit des Jahres gleich heilkräftig. Wurzeln werden vor Beginn oder zum Ende der Vegetationszeit gegraben, weil dann die meisten Vitalstoffe darin eingelagert sind. Von März bis Juni ist Hauptsammelzeit für Wildkräuter. Jetzt sind ihre Blätter zart und mild im Geschmack. Den Sommer über, wenn die Pflanze viele heilkräftige Wirkstoffe bildet, werden Teekräuter gesammelt. Blüten werden zu Beginn der Blühzeit gesammelt, Samen und Früchte erst wenn sie gut ausgereift sind. Einige Wildobstarten brauchen viel Zeit zum Reifen. Oberirdische Pflanzenteile sind am besten haltbar, wenn sie bei trockener Witterung um den Mittag herum gesammelt werden. Dann ist auch die Konzentration der Aromastoffe am höchsten.

Wo sammeln?
Es versteht sich von selbst, dass in Industriezonen und entlang von stark frequentierten Verkehrswegen keine guten Sammelorte zu finden sind. Auch an den Rändern von gedüngten, mit Herbiziden behandelten Feldern werden keine Kräuter gesammelt.
Geeignet sind höhere Lagen, weil hier die Luft, der Boden und das Wasser sauberer sind. Zudem ist in den Bergen die Wirkstoffkonzentration in den Pflanzen höher, weil sie sich mit einer Extraportion an Flavonoiden, Schleim- und Gerbstoffen gegen die intensive UVStrahlung und extreme Witterungsbedingungen schützen müssen. Je mehr Schutzstoffe eine Pflanze aufbaut, desto stärker ist ihre medizinische Wirkung.

Das richtige Werkzeug und Material
Auf meinen Kräuterwanderungen habe ich stets einen Korb, einen Stoffbeutel oder eine Kartonschachtel dabei, um die gesammelten Pflanzen unbeschadet nach Hause zu transportieren. Plastiktaschen eignen sich nicht, weil das Sammelgut darin schnell verdirbt.
Von der Ojibway-Medizinfrau Josephine Mandamin habe ich gelernt, dass man Pflanzen mit blossen Händen ernten soll, weil wir uns durch den direkten Körperkontakt zu erkennen geben. Auch in alten Kräuterbüchern wird von Werkzeugen aus Metall abgeraten. Aus Sicht der alten Kräuterkundigen sind Pflanzen mächtige Wesen, deren Kräfte helfen oder schaden können. Sie müssen also behutsam angegangen werden. Anstatt dem kalten, lebensbedrohlichen Metall können wir Feuerstein, Horn oder Knochen verwenden. Ich persönlich benutze gerne ein Keramikmesser und einen Grabstock aus Hartholz.

Waschen, trocknen, lagern – so geht’s
Zurück zu Hause stellt sich die Frage, ob die Kräuter nun gewaschen werden sollen oder nicht. In Fachkreisen wird empfohlen, Wildkräuter nicht zu waschen. Wurzeln wasche ich immer, frisch gesammelte Kräuter nur dann, wenn sie durch starken Regen mit Schlamm bespritzt worden sind. Um den Fuchsbandwurm mache ich mir keine Sorgen. Infektionen bei Menschen sind äusserst selten. Wer sicher gehen will, sammelt nur, was über Kniehöhe wächst.
Heilpflanzenanwendungen sind am wirkungsvollsten, wenn sie mit frisch geernteten Pflanzen hergestellt werden. Um die Pflanzen auch ausserhalb der Vegetationszeit zur Verfügung zu haben, werden sie fachgerecht getrocknet. Das Sammelgut soll an einem staubfreien, dunklen Ort möglichst rasch trocknen. Kräuter mit einem genügend langen Stängel können mit einem Gummiband zu einem Strauss gebunden aufgehängt werden. Blüten und lose Blätter legt man auf einer sauberen Unterlage aus. Sie sind nach einer Woche trocken, klein geschnittene Wurzeln etwa nach zwei Wochen. Kleinere Mengen können auch im Dörrex oder Ofen (bei kleinstmöglicher Hitze und so kurz wie möglich) getrocknet werden. Trockenware mit guter Qualität erkennt man daran, dass ihre Farbe erhalten bleibt und sie keine braunen Flecken aufweist. Das getrocknete Pflanzenmaterial nennt man im Fachjargon Droge. Sobald das Sammelgut trocken ist, verpackt man es in Lagergefässe aus Papier, Karton oder Glas. Nur sehr gut getrocknete Droge wird luftdicht verschlossen aufbewahrt.
Die Wirkstoffe werden am besten konserviert, wenn Blätter und Blüten nicht zerkleinert werden. Beschriften Sie Aufbewahrungsgefässe mit dem Namen der Pflanze und dem Sammeljahr. Getrocknete Pflanzen verlieren nach und nach ihre Wirkung und sollten nach einem Jahr ersetzt werden. Je kühler die Droge gelagert wird, desto weniger Aromastoffe gehen verloren. Gefrorene Droge hält sich länger als ein Jahr und ein grosser Teil der Wirkstoffe bleibt erhalten.

Buchtipp
«Geflochtenes Süssgras – Die Weisheit der Pflanzen», Robin Wall Kimmerer, Aufbau Verlage GmbH, Berlin. Robin Wall Kimmerer ist Mutter, Wissenschaftlerin, Professorin für Umweltbiologie an der State University of New York und eine Botschafterin der Pflanzenmedizin. Sie verwebt wissenschaftliche Erkenntnisse mit der indigenen Weisheit ihres Volkes, den Potawatomi. Ein Kernthema ihrer Forschung ist die «ehrenhafte Ernte».
Naturschutz und Eigenverantwortlichkeit
Leider sind viele Pflanzenarten gefährdet oder gar vom Aussterben bedroht. Rote Listen mit geschützten Arten finden sich auf der Webseite des Bundesamtes für Umwelt BAFU und den offiziellen Webseiten der Kantone oder kantonalen Umweltbehörden. Auf der Webseite des nationalen Daten- und Informationszentrums der Schweizer Flora, www.infoflora.ch, kann der Status einzelner Arten abgefragt werden. Zum Schutz der bedrohten Bestände dürfen gelistete Pflanzen nicht gepflückt werden. Gesammelt wird immer nur dort, wo ein ausreichend grosser Bestand vorhanden ist und nur so viel, wie tatsächlich gebraucht wird.
Aussaat, Kultur und Ernte nach den Mondphasen
Die Berücksichtigung der Mondphasen ist für die Wildsammlung und den Gartenbau sehr hilfreich. Um dieses grosse Thema ausführlich zu behandeln, fehlt hier der Platz. Wer sich dafür interessiert, findet in den Schriften von Maria Thun, Margret Madejsky und Wolf-Dieter Storl reiche Informationsquellen.