Supergrün im Suppentopf
Der Giersch ist der Geächtete unter den Wildkräutern: Als Blattgemüse in Vergessenheit geraten, als Heilkraut vernachlässigt und in unseren fein säuberlich gepflegten Gärten ein ungebetener Gast. Dabei ist die Pflanze ein wahres Kraftpaket mit vielen wertvollen Inhaltsstoffen.
Yves Scherer
Nach den dunklen Wintermonaten verspüre ich grossen Appetit auf frisches Grün. Jetzt spriessen die ersten Wildkräuter in den Hecken, an Waldrändern und Bachufern. Mit den frisch geernteten Knospen, Blättern und Blüten kehrt endlich der herb-wilde Geschmack der Natur in die Küche zurück: Haselkätzchen, junge Birkenblätter, Buchenschösslinge, Huflattichblüten, Bärlauch, Gundelrebe, Brennnessel und viele andere Wildkräuter können jetzt gesammelt werden. Manche von ihnen stehen sogar bis in den Herbst zur Verfügung. Zum Beispiel der Giersch, eine der nährstoffreichsten Pflanzen, die wir vor unserer Haustür finden.
Auch in unserem Garten ist der Giersch (Aegopodium podagraria) willkommen. Er besetzt hier unbenutzte Ecken. In den Kulturbeeten hat er aber nichts verloren. Erst kürzlich musste ich ein überwachsenes Beet vom Giersch befreien. Es war kein leichtes Unterfangen! Trotz all der Mühe – der Giersch darf bleiben. Er ist die zuverlässigste Vitaminquelle im Garten und bereichert unsere Küche bis in den nächsten Winter hinein. Der Geschmack der frischen, jungen Blätter erinnert an Petersilie. Sie aromatisieren Salate, Suppen, Eintöpfe, Aufläufe und ergeben zusammen mit Gundelrebe oder Bärlauch einen schmackhaften Pesto. Das frische oder getrocknete Kraut eignet sich auch für die Zubereitung von Tee.
Die Doldenblüte des Giersch kann als Tee und Speisewürze verwendet werden.
Der Giersch gehört zur grossen Familie der Doldenblütler (Apiaceae). In dieser Pflanzenfamilie finden sich wichtige Gewürz-, Gemüse- und Heilpflanzen wie Anis, Dill, Engelwurz, Fenchel, Karotte, Kümmel, Koriander, Liebstöckel, Pastinake, Petersilie, Sellerie und Wiesenbärenklau.
« Der Giersch ist die zuverlässigste Vitaminquelle im Garten und bereichert unsere Küche bis in den nächsten Winter hinein. »
Die ausdauernde Pflanze bildet auf nährstoffreichen, feuchten Böden grosse Bestände. Zur Blütezeit, von Ende Mai bis August, wird der Stängel 30 bis 100 Zentimeter hoch und trägt weiss blühende Doppeldolden. Die kümmelähnliche Frucht ist 3 bis 4 Millimeter lang. Sie kann als Speisewürze verwendet werden und schmeckt recht scharf.
Verwechslungsgefahr der Doldenblütler
Die Doldenblütler erkennt man leicht an den tellerartigen weissen Blüten, die wie aufgespannte Sonnenschirme aussehen. Man nannte sie früher deswegen auch Schirmblütler. Weil sich die meisten Doldenblütler sehr ähnlich sehen, besteht beim Pflücken die Gefahr, die Pflanzen zu verwechseln. Das ist heikel, denn in dieser Pflanzenfamilie gibt es sehr giftige Arten wie den gefleckten Schierling, den Wasserschierling und die Hundspetersilie. Beim Sammeln ist also allergrösste Vorsicht geboten!
Der stark giftige gefleckte Schierling
hat Flecken am Stängel.
Glücklicherweise ist die Bestimmung des Gierschs recht einfach. Das sicherste Indiz liefert das Blatt. Es ist doppelt dreizählig, 5 bis 10 Zentimeter lang und der Blattstiel ist im Querschnitt V-förmig wie ein Dreieck. Daraus leitet sich die 3-mal-3-Regel ab: Dreigeteiltes Blatt, dreiteilige Teilblätter, dreieckiger Blattstiel. Die seitlichen Teilblätter sind häufig nur ansatzweise dreigeteilt. Wer sich an diese Regel hält, kann sich sicher sein, dass die richtige Pflanze vor ihm steht.
Die 3 x 3-Regel zur sicheren
Bestimmung des Gierschs.
Herkunft des Namens
Die Form der seitlichen Teilblätter hat der Pflanze den Namen Aegopodium (ziegenfüssig) eingebracht. Der Namenszusatz podagraria bezieht sich auf die Verwendung der Pflanze gegen die Gicht. Als Podagra bezeichnet man den schmerzhaften akuten Gichtanfall des Zehengrundgelenks. Die Bedeutung des wissenschaftlichen Namens ist also «ziegenfüssiges Gichtkraut». Andere bekannte Namen sind Geissfuss, Dreifuss, Erdholler, Gichtkraut, Heckenmus, Hirschtritt, kleine Angelika, Podagrakraut und Zipperleinskraut. Im Volksmund wird die Pflanze auch Baumtropfe genannt, weil sie gerne im Schatten ausladender Bäume wächst, als sei sie heruntergetropft.
Historische Bedeutung
Wildkräuter waren immer ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Ernährung. Für unsere frühen Vorfahren muss der Giersch ein Segen gewesen sein, denn das vitale Kraut ist vollgepackt mit Mikronährstoffen. Im Mittelalter wurde es in Gärten angebaut und als Gemüse zubereitet. In entbehrungsreichen Zeiten, wenn durch Ernteausfälle, Seuchen und Krieg die Nahrung knapp wurde, lieferte der Giersch lebenswichtige Vitamine und Spurenelemente. Giersch ist Bestandteil der Gründonnerstagssuppe, in welche neun verschiedene, frische Kräuter gehören. Mit dieser Suppe aus frischem Grün wird am Gründonnerstag, dem Tag vor dem Karfreitag, die Rückkehr der Vegetation gefeiert. Wenige Tage vor Ostern beginnt mit der Tag-und-Nachtgleiche der Frühling. Der Genuss der Gründonnerstagssuppe ist ein sinnliches Erlebnis des Neubeginns.
Der Schweizer Kräuterpfarrer Johann Künzle (1857–1945), ein bekannter Zeitgenosse von Sebastian Kneipp und Förderer der Pflanzenheilkunde, lobte den Giersch als «herrliche Medizin gegen alle Arten Rheumatismus, Ischias, Gicht und Podagra». Zur Behandlung rheumatischer Erkrankungen empfahl Künzle den Absud der getrockneten Wurzeln als Badezusatz. Die jungen Blätter seien als Salatbeigabe gut zur Ausleitung der Harnsäure, zur Reinigung von Magen und Darm und gegen Verstopfung. Künzle erwähnt auch die Anwendung des Pflanzenbreis als Wundauflage.
Giersch als Heilkraut für Mensch und Tier
Giersch enthält reichlich Eiweiss, viel Vitamin C und Betacarotin (Provitamin A), Calcium, Kalium, Eisen, Bor, Mangan, Kupfer und Titan. Ausserdem ätherisches Öl, Flavonoide, die Flavonolglykoside Hyperosid und Isoquercitrin, Phenolsäuren, Phytosterole, Polyacetylene und Cumarine. Die wissenschaftlich nachgewiesene entzündungshemmende und entwässernde Eigenschaft des Giersch erinnert an seine historische Bedeutung als Arznei gegen Rheuma und macht ihn auch interessant für die naturheilkundliche Therapie von Harnwegsinfekten.
Giersch regt den Stoffwechsel an und stimuliert das Immunsystem. Die enthaltenen Flavonolglykoside wirken antiviral und antioxidativ. Betacarotin scheint sich günstig auf den Schutz der DNA auszuwirken und wirkt ebenfalls stark antioxidativ. Antioxidantien senken das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und wirken antikanzerogen. Ein schmackhafter Smoothie aus frischen Gierschblättern entspricht genau der Empfehlung des griechischen Arztes und «Vater der Heilkunde» Hippokrates von Kos, der meinte: «Eure Nahrungsmittel sollen eure Heilmittel sein und eure Heilmittel sollen eure Nahrungsmittel sein.»
Der proteinreiche Giersch ist ausserdem ein wertvolles Tierfutter und wird gerne von Kaninchen, Meerschweinchen und Ziegen gefressen. Der auf Wildkräuter spezialisierte Sachbuchautor und Dozent für Phytotherapie Rudi Beiser erwähnt in seinem Buch «Vergessene Heilpflanzen» die tierheilkundliche Praxis, Schweinen vorbeugend gegen die Infektionskrankheit Rotlauf grosse Mengen Giersch zu verfüttern. Ob für Mensch oder Tier – der Giersch ist ein wertvolles Nahrungsmittel. Als Salat, Gemüse oder Tee reinigt er den Organismus und macht «gutes Blut».
Gründonnerstagssuppe (Rezept für vier Personen)
Die Gründonnerstagssuppe besteht aus neunerlei frischen Kräutern, die nicht explizit festgelegt sind. Geeignet sind Bärlauch, Brennnessel, Brunnenkresse, Giersch, Gundelrebe, Löwenzahn, Sauerampfer, Taubnessel und Vogelmiere. Ebenso Breit- oder Spitzwegerich, Knoblauchsrauke, Labkraut, Petersilie und Schnittlauch.
Zutaten:
2 Zwiebeln
2 EL Mehl
2 Kartoffeln
2 EL Butter, Margarine oder Öl
40–50 g frische Kräuter
1 L Gemüsebrühe
200 ml Rahm oder Hafersahne
Salz, Pfeffer, Muskat
Zubereitung:
- Zwiebeln fein würfeln, Kartoffeln schälen und würfeln.
- Zwiebeln in Butter oder Öl andünsten und mit dem Mehl bestäuben.
- Unter ständigem Umrühren die Zwiebeln anbräunen, Kartoffeln dazugeben.
- Mit Gemüsebrühe ablöschen und köcheln lassen, bis die Kartoffeln weich sind.
- Die Suppe vom Herd nehmen.
- Die Kräuter waschen, grob hacken und in die Suppe geben.
- Rahm dazugeben und die Suppe pürieren.
- Mit Salz, Pfeffer und Muskat würzen.
En Guete!
Yves Scherer ist Herbalist, diplomierter Naturheilpraktiker und visueller Gestalter. Er unterrichtet Phytotherapie an verschiedenen Fachschulen und bietet eine eigene Ausbildung in Pflanzenheilkunde sowie Kräuterwanderungen an: www.medizingarten.ch / www.medizinwald.ch