Die geheimnisvolle Mistel
Die Mistel ist alles andere als eine gewöhnliche Pflanze. Seit Urzeiten bietet sie magischen Schutz und vielseitige Heilkräfte.
Yves Scherer

Auf meinem winterlichen Spaziergang dem Seeufer entlang finde ich Mistelzweige, die der Sturm der vergangenen Nacht von den Baumkronen gebrochen hat. Es sind eigenartige Gebilde. Die gelblich-grünen Ästchen sind leicht verholzt und die ovalen Blätter fühlen sich ledrig an. Die kugelrunden Misteln sitzen hoch im Geäst der Bäume. Jetzt im Winter tragen sie weisse Beeren. Wenn man eine Beere zerdrückt, quillt ein zähflüssiger, klebriger Schleim heraus, in dem ein einzelner Samen enthalten ist.
Die Mistel ist ein immergrüner, kugeliger Halbstrauch aus der Familie der Sandelholzgewächse (Santalaceae). In Europa sind zwei Arten einheimisch: die Weissbeerige Mistel (Viscum album) und die Rotbeerige Mistel (Viscum cruciatum). Diese seltsamen Pflanzenwesen entziehen sich scheinbar vollständig den Gesetzmässigkeiten und Rhythmen, denen andere Pflanzen unterworfen sind. Sie wurzeln nicht in der Erde, sondern leben parasitär auf einem Wirtsbaum, dem sie Wasser und Mineralsalze entziehen. Ihre Gestalt wandelt sich nicht mit den Jahreszeiten wie bei anderen Pflanzen, im Gegenteil: Die Mistel ist immergrün und verwelkt nie. Als einzige Pflanze wächst sie nicht nur dem Licht entgegen nach oben, sondern auch nach unten und bildet so eine beinahe perfekte Kugelform. Ihre kleinen, gelben Blüten erscheinen von Februar bis April, die weissen Beerenfrüchte reifen im November und Dezember. Misteln wachsen sehr langsam, die Ausbildung eines neuen Zweiges dauert drei Jahre. Die Pflanze kann über 30 Jahre alt werden und einen Durchmesser von mehr als einem Meter erreichen. Die Weissbeerige Mistel besiedelt etwa 200 verschiedene Baumarten. Von ihr werden drei Unterarten unterschieden, die jeweils auf anderen Wirtsbäumen gedeihen, die Tannen-, Föhren- und Laubholzmisteln. Am häufigsten findet man Laubholzmisteln auf Apfelbäumen und Pappeln.
Die alten Namen Albkraut, Donarbeere, Donnerbesen, Drudenfuss, Gespensterrute, Hexenbesen, Hexennest und Heil aller Schäden weisen auf die magische Verwendung der Mistel hin. Die Bezeichnungen Leimmistel, Vogelchrut und Vogelleimbeere hingegen beziehen sich auf die klebrigen Beeren, die gerne von Vögeln gefressen werden. Die wissenschaftliche Bezeichnung setzt sich zusammen aus den Begriffen Viscum (lat.) = Leim und album (lat.) = weiss. Der Name Mistel entstammt vermutlich dem Wort Mist und deutet darauf hin, dass die Samen mit dem Vogelkot verbreitet werden.

Magischer Schutz und neues Leben
Wenn im Winter die Vegetationsruhe einkehrt, reifen die weissen Beeren der Mistel heran, deren klebrig-dickflüssiger Saft an Sperma erinnert. In alter Zeit wurde die Mistel deshalb als ein Symbol der Fruchtbarkeit verstanden und ein Trank aus den Beeren galt als Allheilmittel.
Der goldgrüne Mistelzweig begegnet uns in vielen Sagen und Mythen. So zum Beispiel in «Aeneis», einem Epos des römischen Dichters Vergil: Der trojanische Held muss sich einen goldenen Mistelzweig beschaffen, mit dem er die Pforten zur Unterwelt beleuchten kann. So gelingt es ihm, unversehrt das dunkle Reich des Jenseits zu durchwandern. Ein anderer Mythos handelt vom Götterboten Merkur, der mithilfe eines Mistelzweiges die Seelen der Verstorbenen ins Licht geleitete, dorthin, wo sich Raum und Zeit aufheben.
Im nördlichen Teil Europas wurden der Mistel dämonenabwehrende Kräfte nachgesagt: Ein aus Mistelbast gedrehter Ring, um den Finger oder den Arm getragen, schütze schwangere Frauen vor nächtlichen Dämonen, die einen Abort auslösen könnten. An die schutzmagische Wirkung der Mistel erinnert auch der Brauch, zum Jahresende hin einen Mistelzweig im Türrahmen aufzuhängen. Dieser soll Gesundheit, Fruchtbarkeit und Wohlergehen im neuen Jahr sichern. Und wer sich unter der Mistel begegnet, darf sich bedenkenlos küssen.

Eine alte Heilpflanze
Der römische Gelehrte Plinius der Ältere dokumentierte in seiner «Naturgeschichte», dass keltische Druid*innen die Misteln feierlich am sechsten Tage nach Neumond ernteten – mit einer Sichel aus Gold. Weil die zauberkräftige Mistel den Boden nicht berühren durfte, wurde sie in einem weissen Tuch aufgefangen. Das Pulver von solchen kultisch geernteten Misteln galt als Allheilmittel und sollte Frauen fruchtbar machen. Auch in der Europäischen Volksheilkunde wird die Mistel seit langem als Fruchtbarkeitsmittel verwendet. Die Kräuterkundige Maria Treben verschrieb Frauen mit Kinderwunsch die Tinktur der Apfelmistel. Damit die Ehe mit Kindern gesegnet sei, trug in der Romandie die Braut oftmals einen Kranz aus Weizenähren, Eisenkraut und Mistelzweigen.
In der Schweizer Volksheilkunde war die Weissbeerige Mistel unter anderem zur Behandlung von harten Geschwülsten, Gichtleiden, Frostbeulen und Parasitenbefall gebräuchlich. Seit der Antike wurden Mistelanwendungen auch gegen Schwindel und Epilepsie verwendet. Auch wenn die meisten Wirkstoffe, die in der Mistel nachgewiesen werden können, vom Wirtsbaum stammen, baut die Pflanze viele organische Verbindungen selbst auf. In der Mistel und ihren Beeren enthalten sind Viscotoxine, Mistellektine, Oligopeptide, Flavonoide, Phenylpropane, Phenolsäuren, Triterpene, Polysaccharide und viele weitere Wirkstoffe. Sie zeigen antioxidative, mild blutdrucksenkende, leicht krampflösende, immunstimulierende und krebsfeindliche Wirkungen. Bei korrekter Dosierung darf die leicht giftige Pflanze bedenkenlos auch innerlich genommen werden. Auf den Genuss der Beeren sollte vorsichtshalber verzichtet werden. Übliche Anwendungsformen sind Tees, Tinkturen, Fertigarzneimittel und die Injektion des Mistel-Gesamtextraktes als Krebs- und Rheumamittel. Homöopathische Einzel- und Komplexmittel werden zur Entlastung des Herzens und gegen Kreislaufbeschwerden verwendet, sowie in der Frauenheilkunde zur Behandlung von Myomen und Zysten.

Die Mistel in der Krebstherapie
Der Begründer der anthroposophischen Geisteswissenschaften Dr. Rudolf Steiner erkannte in den verstreut über die Baumkronen wuchernden Misteln eine Wesensverwandtschaft zur Krebserkrankung und initiierte die Erforschung der Mistel als Arznei gegen Tumore.
Die Ärztin Ita Wegman, Steiners Weggefährtin und Mitbegründerin der anthroposophischen Medizin, setzte 1917 erstmals ein Mistelpräparat zur Behandlung einer Tumorpatientin ein. Folgende Wirkungen aus dem Gesamtextrakt der Pflanze sind heute wissenschaftlich anerkannt: Anregung des Zelltodes (Apoptose) in den Krebszellen; Vermehrung und Aktivierung von Immunzellen; Durchwärmung des Organismus durch leichte Entzündungsreaktion und leichtes Fieber; Schutz der Erbsubstanz (DNA) vor Zellgiften, Chemotherapeutika und Bestrahlung. Viele an Krebs Erkrankte berichten von einer verbesserten Selbstwahrnehmung unter dem Einfluss einer Misteltherapie. Sie lernen, besser auf die Signale ihres Körpers zu achten. Prof. Dr. Volker Fintelmann, Facharzt für Innere Medizin und Leitender Arzt an mehreren Kliniken in Hamburg, verfügt über langjährige Erfahrung mit Mistelpräparaten. Er hält fest: «Die Mistel trägt dazu bei, den Menschen in eine gewisse Autonomie von seiner Krankheit zu bringen, ihm Abstand zu verschaffen – auf der zellulären Ebene ebenso wie auf der geistigen.»
Rudolf Steiners Beobachtung, dass die auf Bäumen wuchernde Mistel Ähnlichkeiten mit der Krebserkrankung aufweist, ist ein bedeutsames Beispiel der Signaturenlehre. Seit jeher haben Menschen versucht, aus der Erscheinung und dem Verhalten einer Pflanze abzulesen, welche medizinischen Qualitäten ihr innewohnen. Hätte Steiner die Mistel nicht so gesehen, wäre uns vielleicht das Arzneimittel verborgen geblieben, das für viele Krebserkrankte eine unschätzbare Hilfe ist.

Misteltee gegen Bluthochdruck
Mit klein geschnittenen frischen oder getrockneten Mistelzweigen (Stängel und Blätter) wird ein Kaltwasserauszug (Mazerat) angesetzt. Die Zweige sollten zuvor gründlich gewaschen werden. Im Advent findet man Misteln oft auf dem lokalen Markt. Von Bäumen heruntergefallene Misteln eignen sich nicht zur Teezubereitung.
1–2 EL Mistelkraut (ohne Beeren) in 500 ml kaltem Wasser 10–12 Std. stehen lassen, dann abseihen und auf Trinkwärme erhitzen. 1–2 Tassen täglich trinken. Wer den Misteltee kurmässig trinken will, sollte nach 4–6 Wochen eine ebenso lange Pause einlegen.
Buchtipp
Annette Bopp: Die Mistel – Heilpflanze in der Krebstherapie
Verlag Rüffer & Rub, ISBN: 978-3-907625-32-3
