Die beruhigende Stinkwurz

Der Echte Baldrian wurde im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich angewendet. Mit seiner ausgleichenden, nervenberuhigenden Wirkung passt er bestens in unsere hektische Gesellschaft.

Yves Scherer

 

Ich sitze mit einem Freund draussen unter dem Kirschbaum beim Feierabendbier. Wir schwatzen über dieses und jenes, als sein Blick an etwas hängen bleibt. Er erhebt sich und geht in den Garten. «Das da, das liebe ich!» Es ist der rosa blühende Baldrian, auf den er zeigt. «Mensch! Der Tee – fantastisch!» Die ausgleichende Wirkung dieser berühmten Heilpflanze scheint genau das zu sein, was der quirlige Lebenskünstler braucht, um etwas Ruhe in sein abenteuerliches Leben zu bringen. Irgendwie hat mein Freund gemerkt, dass Baldrian ihm guttut.

 

Die Wurzel mit dem besonderen Duft

Der in Europa und Asien heimische Echte Baldrian gehört zur Familie der Geissblattgewächse (Caprifoliaceae). Der Baldrian liebt feuchten Boden. Man findet ihn auf Moorwiesen, in Gräben und an Bachufern. Die mehrjährige Pflanze kann über zwei Meter hoch werden. Ab Anfang Juni erscheinen lieblich duftende weisse oder rosafarbene Blüten. Der durchdringende Baldriangeruch findet sich nur an der Wurzel. Wirkstoffe, welche die Pflanze während ihrer Wachstumsphase im Sommer nicht benötigt, speichert sie im Winter in der Wurzel. Geerntet wird die Wurzel deshalb im Herbst oder im Frühling. Eine zwei- oder dreijährige Pflanze kann sehr einfach durch Wurzelteilung vermehrt werden, da der Wurzelstock zahlreiche Seitensprossen austreibt. Aus einem einzigen Wurzelstock lassen sich so bis zu einem Dutzend neue Setzlinge gewinnen.

Eine verwandte Art des Echten Baldrians ist der Nardenbaldrian, der in der Himalaya-Region gedeiht. Nardenbaldrian (Nardostachys jatamansi) liefert das wertvolle Nardenöl. Mit diesem heiligen Öl soll Maria Magdalena Jesus' Füsse gesalbt haben. In der altindischen Heilkunst Ayurveda gilt die hochverehrte Jatamansi als Lebensspenderin, die den Geist stärkt und das Bewusstsein fördert.


 

Magische Schutzpflanze mit vielen Namen

Der Name Baldrian verweist auf den germanischen Lichtgott Balder/Baldur. Andere Namen sind Boldrian, Balduin, Bullerjan, Katzenkraut, Dreifuss, Mondkraut, Elfenkraut, Hexenkraut, Augenwurzel, Krampfwurzel, Wielandswurz und Stinkwurz. Der schwedische Naturforscher und Vater der wissenschaftlichen Taxonomie, Carl von Linné, übernahm den seit dem 11. Jahrhundert gebräuchlichen Namen Valeriana (die Wertvolle) und verlieh der Pflanze die wissenschaftliche Bezeichnung Valeriana officinalis. In England ist der Baldrian als «All-heal» (Allheilmittel) bekannt. Auch die kleine Braunelle (Prunella vulgaris) und der Wald-Ziest (Stachys sylvatica) tragen diesen Beinamen.


Für seine beruhigende Wirkung ist der Baldrian erst in neuerer Zeit bekannt geworden. In der alten Volksheilkunde galt er als magische Schutzpflanze, die der Abwehr von Bösem diente. Man trug den Baldrian als Amulett gegen Schadenzauber und räucherte mit der glimmenden Wurzel Haus und Hof aus.

 

Wärmend, entgiftend, aphrodisisch

Der griechische Arzt und Wegbereiter der modernen Pharmakologie Pedanios Dioskurides, der zur Zeit des römischen Kaisers Nero lebte, nannte den Baldrian «Phu». Dem Absud der Wurzel schrieb er wärmende, harntreibende, menstruationsfördernde und entgiftende Wirkungen zu. In die Augen getropft stärke er die Sehkraft. An dieser Beschreibung der Heilwirkung des Baldrians hat sich in den folgenden 1500 Jahren nichts geändert. Während der grossen Pestepidemien war Valerianam als Mittel gegen Ansteckung gebräuchlich – leider ohne nennenswerten Erfolg. Paracelsus lobte die heilkräftige Pflanze als regenerierendes Lebenselixier.

Fabio Colonna (1567–1640), ein italienischer Rechtsgelehrter, der unter epileptischen Anfällen litt, entdeckte in den Schriften Dioscurides' die Empfehlung der Baldrianwurzel gegen Epilepsie. Tatsächlich heilte ihn die Pflanze von seiner Krankheit, worauf Colonna sich der Botanik zuwandte und ein Buch über die Heilkräfte des Baldrians schrieb. In der frühen Neuzeit stand die Anwendung als Aphrodisiakum im Vordergrund. Bereits im 12. Jahrhundert vermerkt eine Handschrift: «Wiltu gute Freundschaft machen under menne und under weibe, so nym valerianam und stoss die zu trincken in wein.»

Ein modernes Phytopharmakon

Baldrian wirkt ausgleichend auf das Nervensystem, erleichtert das Einschlafen und löst Krämpfe, Verspannungen und Ängste. Diese Wirkungen sind durch zahlreiche Studien belegt. Baldriantee und -tinktur beruhigen bei nervöser Unruhe, Einschlafstörungen, mangelhafter Schlafqualität, Stress, Angst- und Spannungszuständen. Auch bei Restless-Legs-Syndrom, Erschöpfung, Reizblase, Bettnässen, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten, Schmerzen im Magen-Darm-Bereich oder unterstützend bei depressiven Verstimmungen bewährt sich die Baldrianwurzel. Mit einem deutlich spürbaren Wirkungseintritt ist erst nach zwei- bis vierwöchiger Anwendung zu rechnen.

Eine Eigenart des Baldrians ist die oft beobachtete paradoxe Reaktion: Hochdosiert wirkt er beruhigend, niedrig dosiert hingegen anregend (Dosierungsempfehlungen im Rezeptteil). Diese gegenteiligen Qualitäten waren bereits im Mittelalter bekannt. Im Lorscher Arzneibuch von 800 n. Chr. steht dazu: «Allzu viel Schlaf gleicht er mit Wachen aus, bei übermässiger Schlaflosigkeit sorgt er für Schlaf.»

Die nervenberuhigende Wirkung von Baldrian kann gut durch Kombination mit anderen Heilpflanzen ergänzt und verstärkt werden:

Melisse (Melissa officinalis)
beruhigend, herzstärkend

Hopfen (Humulus lupulus)
beruhigend, angstlösend

Johanniskraut (Hypericum perforatum)
antidepressiv, angstlösend

Passionsblume (Passiflora incarnata)
angstlösend

Weissdorn (Crataegus laevigata)
bei funktionellen Herzbeschwerden

«In der Wurzel des Baldrians
liegt eine grosse
Heilkraft.»


Beruhigend bei abendlicher Einnahme

Im Gegensatz zu synthetisch hergestellten Beruhigungsmitteln (Tranquilizer, Antidepressiva, Neuroleptika) zeigen pflanzliche Arzneien kaum unerwünschte Nebenwirkungen und machen nicht abhängig. Für die Wirkung der Baldrianwurzel sind verschiedene Inhaltsstoffe verantwortlich: Den Flavonoiden wurden beruhigende, schlaffördernde und angstlösende Eigenschaften nachgewiesen, Valerensäure vermag GABA-Rezeptoren zu stimulieren und beeinflusst so einen der wichtigsten dämpfenden Neurotransmitter des zentralen Nervensystems.

Im Baldrian liegen auch adaptogene Qualitäten, das heisst: Er verbessert die Stressbewältigung und steigert das Konzentrations- und Leistungsvermögen. Zudem dämpft Baldrian Abstinenzerscheinungen bei Alkohol- und Opiatentzug. Bei der Behandlung von depressiven Verstimmungen mit Johanniskraut verkürzt Baldrian den Wirkungseintritt. Für Kleinkinder sind Baldrian-Anwendungen nicht geeignet.

In der Wurzel des Baldrians liegt eine grosse Heilkraft. Besonders jetzt, in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen, sind Heilpflanzen, die uns zentrieren und entspannen, besonders wertvoll. Mein Freund verwendet weiterhin die Blüten als Abendtee. Sie wirken milder als die Wurzel.

 


Gut schlafen mit Baldrian

Tee:
Die Zubereitung mit der besten Wirkung ist etwas aufwendig. Es bietet sich daher an, eine ausreichende Menge auf Vorrat herzustellen, im Kühlschrank aufzubewahren und abends 1–2 Tassen aufzuwärmen.

Für 1 Liter Tee 2–3 EL getrocknete, klein geschnittene Wurzel mit dem Wasser kalt ansetzen, eine Stunde lang köcheln und 2–3 Stunden ziehen lassen. Soll Baldrian mit einer oder mehreren anderen Pflanzen kombiniert werden, können diese zugegeben werden, sobald der Topf vom Feuer genommen wird.

Tinktur:
20–30 Tropfen in etwas Wasser einnehmen.

Zubereitungen mit anregender Wirkung:
Für die Unterstützung von Konzentration und Leistungsvermögen wird Baldrian vormittags niedrig dosiert eingenommen (Tee: 1/2 TL Wurzel pro Tasse mit heissem Wasser aufgiessen und 5–10 Minuten ziehen lassen, Tinktur: 5–10 Tropfen).

 

Yves Scherer
Yves Scherer ist Herbalist, diplomierter Naturheilpraktiker und visueller Gestalter. Er unterrichtet Phytotherapie an verschiedenen Fachschulen und bietet eine eigene Ausbildung in Pflanzenheilkunde und Kräuterwanderungen an: www.medizingarten.ch / www.medizinwald.ch

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