Der Pflanzen-Engel

Seit Pestzeiten gilt die aromatische Engelwurz als zuverlässiger Schutz vor ansteckenden Krankheiten und als Stärkungsmittel.

Yves Scherer

Kürzlich hatte ich folgenden Traum: Auf einer Kräuterwanderung begleitete ich eine kleine Kursgruppe durch den Wald. Als wir auf eine Lichtung heraustraten, teilte sich der Weg. In der Mitte der Weggabelung stand eine grosse Engelwurz-Pflanze. Ich stellte mich nah zu ihr hin und betrachtete sie. Sie war energiegeladen und begann vor meinen Augen zu wachsen. Sie dehnte sich aus, wurde grösser und grösser. Etwa auf Kopfhöhe war ihr Kraut sehr dicht und ich erkannte darin ein kleines Gesichtchen. Es blickte mich an und strahlte eine sanfte, kraftvolle Energie aus. Ich trat ein paar Schritte zurück und sagte zur Gruppe: «Das ist die heilige Angelika.»

Pflanzen sind Lebewesen, die uns auf subtile Weise ansprechen können. Erscheint eine bestimmte Pflanze – wie mir die Angelika – in einem Traum, während einer Meditation oder wächst physisch in nächster Umgebung. Dann ist es interessant, sich diese Pflanze genauer anzuschauen und herauszufinden, ob sich aus der Begegnung mit ihr eine Botschaft herauslesen lässt. Dass die Beziehung zwischen Mensch und Pflanze auch im ganz normalen Alltag tief und bedeutsam sein kann, führte mir ein älterer Mann vor, der sehr einfach lebt.

Franklin George, ein Medizinmann des indigenen Volkes der Ojibway, den ich auf Manitoulin Island in Kanada kennenlernen durfte, wohnt im Wald. Nur ein schmaler Pfad führt zu seiner Blockhütte. Im Haus gibt es weder Strom noch fliessendes Wasser. Franklin nennt die Pflanzen das «grüne Volk». Eines Tages streiften wir zusammen durch den Wald, weil Franklin mir zeigten wollte, wie er die «grüne Medizin» sammelt. Bei einer Gruppe purpurfarbener Angelika (Angelica atropurpurea) blieb er stehen. Lächelnd zog er einen Lederbeutel hervor und streute etwas Tabak auf den Boden – ein Geschenk an die Pflanzenwesen. Dann brach er einige Zweige ab und meinte: «Das ist gute Medizin. Wir nehmen einen Teil der Familie mit.» Die verwelkten Blätter streifte er von den Stängeln und legte sie neben die Pflanzen. «Das bleibt hier. Du lässt es hier, wo es hingehört. Weisst du, das grüne Volk kennt uns. Das mag dir seltsam erscheinen, aber sie wissen sehr viel mehr als wir glauben. Und manchmal sprechen sie zu uns. So erfahren wir, wie sie uns helfen können.»

Eine imposante Erscheinung

Die Gattung Angelica gehört zur Pflanzenfamilie der Doldenblütler (Apiaceae) und umfasst rund 100 Arten. Im Schweizer Mittelland ist die Waldengelwurz (Angelica sylvestris) heimisch. Mit bis zu zwei Metern Wuchshöhe überragt sie den Krautsaum von Lichtungen und Waldrändern.

Alle Angelika-Arten wachsen gerne auf nassen, nährstoffreichen Böden an halbschattigen Standorten und werden zwei- bis dreijährig. Die kugelförmigen Doppeldolden-Blüten zeigen sich von Juni bis September des zweiten Jahres. Sie sind weiss bis zart-rosa oder gelb-grün gefärbt und werden von vielen Insekten besucht. Der meist dunkelrote, gestreifte Stängel ist hohl. Die wechselständig angeordneten Seitentriebe wachsen aus umhüllenden Blattscheiden hervor. Die ganze Pflanze riecht erfrischend aromatisch, besonders jedoch der etwa 5 cm dicke Wurzelstock, der eine hohe Konzentration von ätherischen Ölen enthält.

Arzneilich verwendet wird vor allem die Erzengelwurz (Angelica archangelica). Man nennt sie auch Echte Engelwurz oder Arznei-Engelwurz. Andere Namen sind Heiliggeistwurz, Brustwurz, Theriakwurz und Pestwurz (nicht zu verwechseln mit der Gattung der Pestwurze).

Angelica archangelica ist eine Pflanze des Nordens. Natürliche Vorkommen finden sich in den skandinavischen Ländern, im Baltikum, im Norden Deutschlands, in den Niederlanden, dem Kaukasus, in Sibirien und sogar auf Grönland. Ihre Verbreitung nach Süden wurde vermutlich durch Wikinger und Normannen gefördert. Bis heute gehört Angelika zu den wichtigsten Wildkräutern des Nordens. Alle Pflanzenteile sind essbar.

Himmlischer Rat in schweren Zeiten

Der wissenschaftliche Name Angelica archangelica bedeutet «Engelhafte Erzengelhafte» und geht auf die Zeit der ersten grossen Pestepidemie in Europa 1347–1353 zurück. Der Legende nach soll der Erzengel Raphael einem Einsiedler die Pflanze als Schutz vor dem Schwarzen Tod empfohlen haben. Seit dem 14. Jahrhundert wurde Angelika in grossen Teilen Europas in Gärten angebaut und gewann auch in der Klosterheilkunde schnell an Bedeutung.

Der Botaniker und Mediziner Leonhart Fuchs schreibt in seinem New Kreüterbuch von 1543 über die Angelika: «Die Wurzel ist fürnemlich gut wider allerley gifft. In Sonderheyt aber für die vergifftung des pestilenzischen luffts dann so man sie nur in dem mund helt so bewart und behüt sie den menschen vor der pestilenz.» Auch Paracelsus und später Kräuterpfarrer Johann Künzle empfahlen Angelika vorbeugend gegen ansteckende Krankheiten und zur Entgiftung.

Die Heilwirkung der Engelwurz

Im frischen Wurzelstock (Rhizom) sind über 60 Wirkstoffe nachgewiesen, darunter ätherische Öle, Angelica- und Fumarsäure, Chlorogen- und Kaffeesäure, Bitterstoffe, Harze und Flavanone. Mit ihrem hohen Gehalt an ätherischen Ölen und Bitterstoffen zählt Angelika zu den aromatischen Bittermitteln (Amara aromatica). Die ätherischen Öle wirken desinfizierend, entzündungshemmend, blähungswidrig und entkrampfend auf Magen und Darm. Die Bitterstoffe regen die Verdauung an, wirken stimmungsaufhellend und kräftigen den gesamten Organismus.

Tee und Tinktur der Angelikawurzel wirken sich positiv aus bei Reizmagen, Verdauungsschwäche, Appetitlosigkeit, Magen-Darm-Entzündungen und zu schwacher Regelblutung. Ein warmer Angelikatee hilft aufgrund seiner antibakteriellen, beruhigenden, schleimlösenden, harn- und schweisstreibenden Wirkung bei Erkältungskrankheiten. Er beruhigt den Hustenreiz, wirkt entzündungshemmend, stimmungsaufhellend und stärkt das Immunsystem. Neuere Studien bestätigen das breite pharmakologische Potenzial der Pflanze. Angelikawurzel sollte allerdings nicht bei Magen- oder Darmgeschwür eingenommen werden. Zudem kann sie bei regelmässiger Anwendung die Lichtempfindlichkeit der Haut leicht erhöhen. Sonnenbäder und intensive UV-Bestrahlung sollten deshalb während einer Angelika- Kur vermieden werden.

Unsere einheimische Waldengelwurz wirkt etwas schwächer als ihre grosse Schwester, die Erzengelwurz. Die Verwendungsmöglichkeiten sind jedoch dieselben. Engelwurze können unter Umständen mit giftigen Doldenblütlern (Wasserschierling, gefleckter Schierling, Riesen-Bärenklau) verwechselt werden. Es ist deshalb wichtig, die Pflanze sicher bestimmen zu können. Bestimmen Sie die Pflanze jetzt, während der Blütezeit und merken Sie sich ihren Standort. So wissen Sie, an welcher Stelle im Wald ein Heilmittel auf Sie wartet, das Ihre Verdauung und Ihre Abwehrkräfte stärkt.

Anwendungstipps

Angelika-Tee:

1 TL zerkleinerte Angelikawurzel mit 1 Tasse heissem Wasser übergiessen und zugedeckt 10 Minuten ziehen lassen. Bei Appetitlosigkeit und Verdauungsstörungen eine halbe Stunde vor den Mahlzeiten trinken.

Angelika-Öl:

Zur Behandlung von Neuralgien und rheumatischen Beschwerden eignet sich das ätherische Öl von Angelica archangelica. Es wirkt leicht hautreizend und fördert die Durchblutung. 2 bis 3 Tropfen natürliches, ätherisches Öl mit etwas Mandel- oder Olivenöl verdünnen und sanft auf die schmerzende Stelle einmassieren. Bei besonders empfindlichem Hauttyp kann die Verträglichkeit zuerst anhand einer kleinflächigen Einreibung getestet werden.

Angelika-Bonbons:

Die aromatischen Pflanzenstängel in fingerbreite Stücke schneiden und mit Honig oder Zucker karamellisieren. Die Angelika- Bonbons passen gut zu Fruchtsalat oder Glace.

Angelika in der Wildkräuterküche:

Die jungen Blätter und (evtl. geschälten) Stängel können Salaten, Suppen oder dem Gemüse beigegeben werden. Gemahlene Samen und Wurzeln ergeben eine kräftig-aromatische Speisewürze.

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