Der Löwenschwanz beruhigt das Herz
Das Herzgespann ist eine wenig bekannte Heilpflanze, die uns in stressigen Lebensphasen unterstützen kann.
Yves Scherer
Unser kleines Kind ist weinend aufgewacht. Vielleicht hat es schlecht geträumt. Ich nehme den Kleinen auf den Arm, gehe aus dem Haus und setze mich auf die Steinbank im Garten. Mein Sohn beobachtet die Hummeln, die um die blühenden Pflanzen herumsumsen. Meine Aufmerksamkeit gilt mehr den Pflanzen. Jede hat ihre eigene Gestalt. Manche sind gedrungen und breiten sich über den Boden aus, andere recken sich der Sonne entgegen oder winden sich an Sträuchern empor.
Inmitten des üppigen Kräutergartens steht aufrecht wie eine Kerze das Herzgespann. Auf mich strahlt diese Pflanze etwas Tugendhaftes aus. Bei ihrem Anblick kommen mir Werte wie Einfachheit, Klarheit und Verlässlichkeit in den Sinn. Wie schön, dass eine Pflanze solche Gedanken auslösen kann! Einen Moment geniesse ich noch die frühmorgendliche Stille des Gartens, dann kehre ich mit einem zufriedenen Kind auf dem Arm ins Haus zurück. Das Echte Herzgespann gehört zur Pflanzenfamilie der Lippenblütler (Lamiaceae). Der vierkantige Stängel – ein Erkennungsmerkmal der Lippenblütler – ist bei dieser Art stark ausgeprägt. Die Blätter sind handförmig in drei bis sieben Spalten geteilt. Sie sind kreuzgegenständig am Stängel angeordnet und fühlen sich auffallend weich an. Von Juni bis September erscheinen die rosafarbenen Blüten, die als Scheinquirle in den Blattachseln stehen. Die Pflanze ist mehrjährig und kann über einen Meter hoch werden. In der Schweiz und Deutschland ist die Art teilweise stark gefährdet. Sie sollte deshalb nicht aus Wildbeständen gesammelt werden. Die gute Nachricht: das Herzgespann lässt sich leicht im Garten kultivieren.
Die Symbolkraft der Pflanzensignatur
Eine alte Methode der pflanzenheilkundlichen Forschung ist die Signaturenlehre. Sie besagt, dass sich die Heilwirkung einer Pflanze in ihrer Erscheinungsform zeigen kann. Betrachten wir die Gestalt des Herzgespanns, fallen einige arttypische Merkmale auf, die mit ihrer Verwendung als Heilmittel für das Herz in Verbindung gebracht werden können. Die Regelmässigkeit der Blattanordnung am Pflanzenstängel ist sehr präzise. Die Abstände zwischen den Blättern folgen einem Rhythmus, der so gleichmässig ist wie der Puls des Herzens. Die hellrosa gefärbten, behaarten Lippenblüten stehen dicht an dicht über den oberen Teil des Stängels verteilt und bilden eine lückenlose, vertikale Säule. Auf den Unterlippen der Blüten sind Saftmale zu erkennen, die wie Blutspritzer aussehen. Auffallend sind auch die ausgeprägten Blattadern, die man vor allem auf der Blattunterseite gut sehen kann. Insgesamt erinnert mich die Erscheinung des blühenden Herzgespanns an den Blutstrom, der vom regelmässig pulsierenden Herzen bewegt wird.
Der aus dem Mittelalter stammende Begriff «Gespann» bedeutet «Krampf». Das Herzgespann war dem Namen nach indiziert bei «Herzkrämpfen». In die moderne Terminologie übersetzt sind damit wohl unklare Brustschmerzen gemeint. Als Herzgespann wurde in früheren Zeiten aber auch die durch Angst verursachte krampfhafte Anspannung des Magens bezeichnet.
Der botanische Name Leonurus cardiaca bedeutet «Löwenschwanz für das Herz». Er bezieht sich auf die buschige Form des Krautes, die einem Löwenschwanz ähneln soll.

Variable Blattform: das Blatt in der Mitte von der Unterseite,
die beiden seitlichen Blätter von der Oberseite gesehen.
Ein Heilmittel für die Frauen und das angespannte Herz
Ähnlich wie die Melisse (Melissa officinalis) wurde das Herzgespann früher als Heilmittel für die Frauen verwendet. Der englische Kräuterarzt Nicholas Culpeper (1616–1654) verordnete das «Mutterkraut» gegen die Melancholie und als Tonikum für das Herz. Culpeper schrieb, das Kraut mache das Herz stark und fröhlich und es beruhige die Gebärmutter.
Heute wird das Herzgespann vor allem bei Herz-, Kreislauf- und Gefässerkrankungen angewendet. Die Pflanze zeigt positive Effekte bei verschiedenen nervösen Herzbeschwerden. Die Droge wirkt leicht blutdrucksenkend und erhöht den Blutfluss in den Herzkranzgefässen. Damit verbessert sie die Sauerstoffversorgung des Herzens. Durch eine leichte Verlangsamung der Schlagfrequenz und Stabilisierung des Herzrhythmus’ wird das Herz entlastet. Verschiedene Studien belegen, dass Herzgespann-Anwendungen zudem eine beruhigende und angstlösende Wirkung haben. Moderne frauenheilkundliche Indikationen sind typische Wechseljahrbeschwerden wie Hitzewallungen, Angstzustände und nervöse Unruhe.
In der Erfahrungsheilkunde wird die Droge eingesetzt bei unklaren Brustschmerzen, Herzklopfen, Angstzuständen, erhöhtem Blutdruck, Herzrhythmusstörungen, Hyperthyreose, Asthma bronchiale, Verdauungsbeschwerden und Wechseljahrbeschwerden. Selbstverständlich muss bei Verdacht auf eine koronare Erkrankung immer erst eine ärztliche Diagnose gestellt werden.
Die im Herzgespann nachgewiesenen Wirkstoffe sind glykosidisch gebundene Iridoide, Bitterstoffe, Flavonoide, Di- und Triterpene, Betaine, Gerbstoffe, Cholin, Chlorogen-, Kaffee- und Rosmarinsäuren und geringe Mengen ätherisches Öl. Arzneilich verwendet wird das blühende Kraut (herba cum flos).
Mit dem Herzgespann hat uns die Natur ein weiteres Heilmittel geschenkt, das wir zur Gesundheitsvorsorge nutzen können. Kräuter, die das Herz entlasten, sind besonders wertvoll, denn die koronaren Gefässerkrankungen sind in westlichen Industrienationen die häufigste Todesursache. Es sind aber nicht nur die Wirkstoffe der Pflanzen, die unserer Gesundheit zugutekommen. Nehmen wir uns hin und wieder etwas Zeit, in Ruhe der Natur zu begegnen, erkennen wir, dass Pflanzen uns vieles lehren können. Was ich an jenem Morgen im Garten sowohl beim Herzgespann wie auch bei meinem kleinen Sohn beobachten konnte, ist die Fähigkeit, ganz im Moment zu verweilen. In Ruhe die Natur geniessen und dabei im Hier und Jetzt zu sein tut dem Herzen gut!

Anwendungsmöglichkeiten
Teezubereitung
1 TL fein geschnittenes Kraut (frisch oder getrocknet) mit 1 Tasse heissem Wasser übergiessen, 10 Min. ziehen lassen. 4× täglich eine Tasse trinken. Kurmässige Anwendung: 8–10 Wochen lang einnehmen
Herzgespann kann gut in Teemischungen mit anderen Herzpflanzen kombiniert werden:
- Weissdorn (Crataegus ssp.): herzstärkend, Herzrhythmus und Blutdruck regulierend
- Baldrian (Valeriana officinalis): beruhigend, angstlösend
- Eisenkraut (Verbena officinalis): beruhigend, leicht antidepressiv, verdauungsfördernd
- Grüner Haferkrauttee (Avena sativa): beruhigend, herzstärkend
- Hopfen (Humulus lupulus): beruhigend bei Herzklopfen in den Wechseljahren
- Lavendel (Lavandula angustifolia): beruhigend bei nervösen Herzbeschwerden
- Melisse (Melissa officinalis): Der «Herztrost» stärkt das nervöse Herz
- Passionsblume (Passiflora incarnata): ausgleichend, blutdrucksenkend
- Rose (Rosa damascena): angstlösend, beruhigend, entspannend
- Rosmarin (Rosmarinus officinalis): steigert die Durchblutung des Herzens (nicht am Abend einnehmen, Rosmarin ist ein «Wachmacher»)
Herztinktur bei funktionellen Herzbeschwerden (nach Ursel Bühring)
- Weissdornblüten und -blätter, 20 g
- Herzgespannkraut, 10 g
- Johanniskraut mit Blüten, 10 g
- Rosenblüten, 5 g
- Schlüsselblumenblüten, 5 g
Die frischen oder getrockneten Kräuter zerkleinern, in ein weithalsiges Glasgefäss geben, mit 500 ml Alkohol (40 % Vol.) übergiessen und verschliessen. Mehrmals täglich gut schütteln und nach 2–3 Wochen abfiltrieren. In kleine dunkle Tropfglasfläschchen füllen und beschriften. Die Tinktur wirkt herzstärkend und beruhigend. 3× täglich 15–20 Tropfen einnehmen.