Der Knochenheiler

Der robuste Beinwell ist ein fester Bestandteil der pflanzlichen Notfallapotheke. Zuverlässig heilt er, was schmerzhaft in Brüche ging und ist selbst unverwüstlich.

Yves Scherer

Auf einem Spaziergang durch meinen früheren Wohnort besuche ich jene Stelle am Waldrand, wo einst mein Garten lag. Vor vielen Jahren habe ich diesen aufgegeben und zum Abschied eine einzige Pflanze zurückgelassen, um auch in Zukunft nicht auf sie verzichten zu müssen – den Beinwell.

Mit einer Stechgabel grabe ich den dicken, schwarzen Wurzelstock aus, breche ein paar fingergrosse Stücke davon ab und stecke sie wieder in den feuchten Boden. Aus diesen Wurzelstücken werden neue Pflanzen wachsen. Den Rest nehme ich mit. Der Beinwell ist meine Notfallmedizin und ich will immer wissen, wo ich ihn finden kann.

Eine Pflanze mit Charakter

Der Beinwell ist hart im Nehmen. Manchmal schneide ich das ganze Kraut ab, um es den Hühnern zu verfüttern oder die Gartenbeete damit zu mulchen. Schon zwei Wochen später hat die Pflanze wieder so viel frisches Kraut gebildet, als wäre nichts gewesen. Hin und wieder pflücke ich mir ein paar frische, junge Blätter ab und esse sie roh. Das Eigenartige dabei ist, dass das pflanzliche Gewebe durch das Kauen nicht etwa weicher wird, sondern lediglich Volumen verliert. Seine Textur bleibt spröde.

Die kieselsäurehaltige Pflanze gehört zu den Raublattgewächsen, den Boraginaceae. Weitere bekannte Arten dieser Familie sind Lungenkraut, Natternkopf, Ochsenzunge, Borretsch und Vergissmeinnicht. Ihre Blätter und Stängel sind von rauen Haaren bedeckt.

Der in sogenannte Doppelwickel eingerollte Blütenstand des Beinwells ist eine Zierde für den Garten. Die ausdrucksstarke Formensprache dieser Blüten erinnert mich an die Architektur des Jugendstils.

Der stärkste Befestiger

Der Name Beinwell setzt sich zusammen aus den Begriffen «Bein», einer alten Bezeichnung für Knochen und «wallen» für «zusammenwachsen» oder «verheilen ». In der Deutschschweiz nennt man die Pflanze auch «Wallwurz». Der wissenschaftliche Name Symphytum officinale stammt vom griechischen Wort «symphyein» ab, was ebenfalls «zusammenwachsen» bedeutet. Die Bezeichnung «officinale» – bei anderen Heilpflanzen auch «officinalis» – verweist auf das «Officin», die Werkstatt der Apotheke. Pflanzen die diesen Zusatz im Namen tragen, sind seit langer Zeit als Arzneipflanzen in Gebrauch. Hildegard von Bingen verwendete den Namen «Consolida maior» – der «stärkste Befestiger».

Keine andere Heilpflanze hat einen so starken Bezug zur Heilung von Knochen wie der Beinwell. Er eignet sich hervorragend zur Behandlung von Knochenbrüchen, Prellungen, Zerrungen, Blutergüssen, Schleimbeutel- und Sehnenscheidenentzündungen, Lymphknotenschwellungen, schlecht heilenden Narben und Arthrose. Gebräuchliche Anwendungsformen sind Salben, Bäder und Kompressen mit frisch zerstossener Wurzel, Kraut oder Tinktur.

Der im Beinwell enthaltene Wirkstoff Allantoin fördert die Bildung von Kallus, dem Narbengewebe der Knochen. Er regt die Zellneubildung an, steigert die Durchblutung, wirkt entzündungshemmend und wundreinigend. Die Pflanze enthält ausserdem Kieselsäure, Gerbstoffe und sehr viel Schleim. Beinwellsalben und -breiumschläge reduzieren schnell und zuverlässig Schmerzen und Schwellungen und fördern die Beweglichkeit der Gelenke.

Meine Nachbarin hatte infolge einer Bestrahlungstherapie einen Schlüsselbeinbruch erlitten. Der Knochen hätte längst wieder zusammenwachsen sollen, doch die Bruchstelle blieb schmerzhaft angeschwollen und auch der letzte Untersuch zeigte keine Besserung. Bei einem Gespräch zwischen Tür und Angel kamen wir auf den Beinwell zu sprechen. Als sie von seiner Heilwirkung vernahm, wünschte sich die Dame eine Arznei aus dieser Pflanze. Ich gab ihr einen frisch ausgegrabenen Wurzelstock mit, den sie zu Brei zerstossen auf das gebrochene Schlüsselbein auftragen könne. Die regelmässig angelegten Kompressen liessen die Schwellung rasch abheilen. Nach wenigen Wochen war auch der Knochen wieder fest zusammengewachsen.

Eine historische Domäne des Beinwells ist seine positive Wirkung bei Lungenkrankheiten. In vielen alten Kräuterbüchern finden sich Rezepte gegen Husten, eitrigen Auswurf, Katarrh, Tuberkulose und Lungengeschwüre, die sowohl innerlich wie auch äusserlich mit Beinwell behandelt wurden. Auch die Therapie von Magen- und Darmerkrankungen mit Beinwell hat Tradition.

Ein kontrovers diskutiertes Naturheilmittel

Von der innerlichen Anwendung selbst gesammelter Blätter und Wurzeln wird heute abgeraten. Die in der Pflanze enthaltenen Pyrrolizidinalkaloide (PA) werden als potenziell lebertoxisch bewertet, weil sie als isolierte Monosubstanzen im Tierversuch leberschädigendes Potenzial zeigten.

Vergessen wir aber nicht, dass jede Pflanze viele verschiedene sekundäre Pflanzenstoffe, Vitamine, Säuren und Mineralien enthält, die eine ganz andere Gesamtwirkung entfalten als eine isolierte Monosubstanz. Bei sachgemässer Anwendung, das heisst mit der notwendigen Vorsicht und der richtigen Dosierung, zeigen Naturheilmittel selten unabsehbare Nebenwirkungen und in aller Regel werden sie gut vertragen.

Seit Ende der 90er-Jahre sind PA-freie Beinwellsorten im Handel. Mit diesen Produkten lassen sich nässende Wunden, Schürfungen und offene Beine bedenkenlos behandeln. Auch Kinder vertragen Beinwellanwendungen gut.

Beinwell in der Küche

Beinwell ist eine von alters her geschätzte Nahrungspflanze. Frische, junge Beinwellblätter lassen sich ähnlich wie Spinat zubereiten. Sie bereichern Suppen, Aufläufe, Rouladen und Gemüsewähen.

Früher wurden die Wurzeln ausgekocht als Gemüse gegessen. Kleine Stücke kann man roh essen. Sie enthalten viel Schleim, der sich beim Kauen klebrig anfühlt. Die gelegentliche Einnahme von kleinen Mengen der jungen Blätter schätze ich als unbedenklich ein. Ob und wie viel Beinwell konsumiert werden darf, diese Entscheidung überlasse ich der Leserschaft. Vorsicht ist immer geboten, doch es gibt gravierendere Gesundheitsrisiken als dieses.

Anwendungenstipps

Herstellung einer Beinwell-Tinktur (ca. 100–150 ml)

Materialien:

  • 2 weithalsige, verschliessbare Glasgefässe (300–500 ml Volumen)
  • 5 Tinkturfläschchen (30 ml Volumen) aus Braunglas mit Tropfeinsatz
  • 150 bis 200 ml Weingeist (Trinkspiritus) oder Schnaps (35–45 % Vol.)
  • 1 Handvoll frische, gesäuberte Beinwellwurzel
  • Keramikmesser, sauberes Schneidebrett • Küchensieb, Trichterr

Vorgehen:

  • Die Beinwellwurzel in möglichst kleine Stückchen schneiden und in das Glas geben
  • Die Wurzelstücke mit Weingeist komplett bedecken
  • Das Glasgefäss verschliessen und beschriften: «Beinwell-Ansatz / X Menge / X % Vol. / Datum»

Den Ansatz während mindestens zwei Wochen an einem dunklen Ort ausziehen lassen und täglich wenden oder schütteln. Nach zwei Wochen die Flüssigkeit durch das Sieb in das zweite Gefäss geben. Danach in die Tinkturfläschchen abfüllen.

Fläschchen beschriften: «Beinwell-Tinktur / X Menge / X % Vol. / Abfülldatum / Hersteller*in»

Anwendung:

Die Tinktur eignet sich für Kompressen zur Behandlung von trockenen Wunden. 20 bis 30 Tropfen Tinktur in 1 Deziliter warmes Wasser geben, ein sauberes Baumwolltuch oder eine Gazebinde damit tränken und auf die wunde Körperstelle legen. Mit einem Wolltuch abdecken und 20 bis 30 Minuten ruhen lassen. Die Kompresse regelmässig erneuern.

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