Das Sternenkraut

Wertvolle Vitalstoffe für die Wildkräuterküche: Die als Unkraut verkannte Vogelmiere gibt den Frische-Kick.

Yves Scherer

Die Vogelmiere trägt ihren Namen nicht umsonst. Zumindest bei unseren Hühnern steht das immergrüne Kraut hoch im Kurs. Wenn ich ein paar Handvoll frisch ausgejätete Vogelmiere über den Zaun ins Hühnergehege werfe, stürzt sich das Federvieh voller Inbrunst auf das frische Grün. Zum Glück wächst die Pflanze recht üppig in unserem Garten, denn auch ich mag dieses Wildkraut sehr.

Die Gewöhnliche Vogelmiere (Stellaria media) gehört zur Gattung der Sternmieren innerhalb der Pflanzenfamilie der Nelkengewächse (Caryophyllaceae). Die Bezeichnungen «Vogelkraut», «Vogel-Sternmiere» und «Sternenkraut» weisen darauf hin, dass Vögel dieses Kraut gerne fressen und die Blüten kleinen Sternen gleichen. Der wissenschaftliche Gattungsname Stellaria bedeutet ebenfalls «Sternchen». Der Namenszusatz media bedeutet «mittelgross» und grenzt die Vogelmiere von kleineren und grösseren verwandten Arten ab. Weitere gebräuchliche Namen wie «Hühnerdarm» und «Mäusedarm» spielen vermutlich auf die Ähnlichkeit der ineinander verschlungenen Stängel mit der Form eines Darms an.

Das vitale Kraftpaket

Neben den anderen Kräutern in unserem Garten, die mit ihren bunten Blüten und betörenden Düften auf sich aufmerksam machen, kommt die Vogelmiere recht bescheiden daher, wenn sie kriechend ihre dünnen Ästchen über den Boden ausbreitet. Auch die gegenständig angeordneten, eiförmigen Blättchen und die sternförmigen weissen Blüten sind klein und zart. Doch die unscheinbare Gestalt täuscht – es sind die inneren Werte, die zählen! Die Vogelmiere ist äusserst widerstandsfähig, denn sie strotzt nur so vor Lebenskraft. Das ein- bis zweijährige Kraut überdauert frostige Temperaturen und behält unter dem Schnee sein grünes Kleid. Die Pflanze blüht von März bis Oktober, bei milden Temperaturen sogar im Winter. Mit 5 bis 6 Generationen pro Jahr, etwa 15 000 Samen pro Generation und einer Keimfähigkeit der Samen von ca. 60 Jahren sichert die Vogelmiere sehr erfolgreich ihren Fortbestand.

Als Kulturfolgerin wächst die Vogelmiere gerne auf nährstoffreichen, offenen Böden, auf Äckern und in Gärten, wo ihre niederliegenden, stark verästelten Stängel flächendeckende Teppiche bilden. Sie ist eine Zeigerpflanze für fruchtbare, lockere Böden. Dass diese Pflanze als Unkraut angesehen wird, beruht auf Unwissenheit. Eine immergrüne Decke aus Vogelmiere, Gundelrebe, Gamander-Ehrenpreis (Katzenäuglein) oder anderen Pflanzen verbessert das Bodenklima, indem sie den Boden vor Austrocknung und Erosion schützt.

Altes Wissen zum «Hühnerdarm»

Der deutsche Mediziner Leonhart Fuchs (1501–1566), der neben Conrad Gessner als Begründer der modernen wissenschaftlichen Botanik gilt, schreibt in seinem Kräuterbuch von 1543 über den Hühnerdarm: «Dis Kraut kült seer derhalben ist es gut zu enzündung der augen und zu allerley grosser hitz dann es lescht dieselbigen so mans vorhin zerknütscht oder aber ihren safft überlegt und anstreicht.» Kräuterpfarrer Johann Künzle (1857–1945) empfahl Auflagen des frischen Krauts bei Lungenentzündung. Ausserdem helfe die Pflanze herzschwachen Leuten. Der naturheilkundige Hydrotherapeut Sebastian Kneipp (1821–1897) verwendete die Vogelmiere als beruhigendes, schleimlösendes Hustenmittel und pries sie als veritables «Lungenkraut».

Heute ist die Vogelmiere als Heilpflanze leider in Vergessenheit geraten. In vielen Kräuterbüchern sucht man sie umsonst. Doch mit dem aktuellen Trend zur kulinarischen Verwendung von Wildkräutern wird ihr wieder vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt.

Vogelmiere enthält viele Mineralstoffe und Spurenelemente, darunter Calcium, Kalium, Zink, Magnesium, Eisen, Phosphor, Kupfer und Selen. Zudem Schleimstoffe, Saponine, Flavonoide, Kieselsäure, Gamma-Linolensäure, Phytosterole, Phytoöstrogene sowie die Vitamine A, B1, B2, B3 und C. Mit ihrem hohen Wirkstoffgehalt ist die Vogelmiere ein äusserst wertvolles Wildkraut und jedem handelsüblichen Salat weit überlegen. Sie wird am besten frisch zubereitet gegessen oder als Tee getrunken.

Ein Kraut, das nährt, entgiftet und heilt Dank ihrer stoffwechselanregenden, entgiftenden und antioxidativen Wirkung unterstützt Vogelmiere die Reinigung und Stärkung des gesamten Organismus. Der regelmässige Genuss vermag nicht nur Hautkrankheiten und Rheuma zu bessern, sondern kommt auch Menschen mit Übergewicht zugute, weil die Pflanze den Appetit zügeln hilft.

Äusserliche Anwendungen wie Kompressen und Breiauflagen kühlen und lindern Schmerzen bei oberflächlichen Verletzungen, Verbrennungen und entzündeten Augen. Ausserdem wird dem Kraut nachgesagt, es bessere Verdauungsstörungen, Leberbeschwerden, Blasenentzündung, Husten, Bronchitis und Asthma. Chinesische und indische Studien belegen eine positive Wirkung bei leichtem Bluthochdruck und erhöhten Cholesterinwerten. Last but not least zeigte die Vogelmiere in verschiedenen Studien auch antivirale Eigenschaften gegen das Hepatitis-B-Virus. Die Vogelmiere besitzt ein breites Wirkspektrum und kann nebenwirkungsfrei über einen längeren Zeitraum eingenommen werden. Sie eignet sich deswegen gut zur unspezifischen Vorbeugung. Wegen der guten Verträglichkeit spielt die Dosierung eine untergeordnete Rolle. In der chinesischen Tradition gelten Pflanzen mit solchen Eigenschaften als besonders wertvoll und werden «Kaiserkräuter» genannt.

Gesundheitsvorsorge in der Küche

Achtzehn der rund 200 Sternmierenarten sind in Europa heimisch. Geniessbare, einheimische Verwandte der Vogelmiere sind die Moor-Sternmiere (Stellaria alsine Grimm), die Gras-Sternmiere (Stellaria graminea) und die Hain-Sternmiere (Stellaria nemorum). Andere Sternmieren sind in der Schweiz teilweise gefährdet und sollten nicht gesammelt werden.

Sternmieren-Arten sind gute Wildkräuter. Die zarten Blättchen behalten auch im Herbst und im Winter ihren mild-würzigen Geschmack, der an Mais erinnert. Am einfachsten erntet man die saftig grünenTriebspitzen in Büscheln und sortiert dann gröbere Stiele und welke Blättchen aus. Das klein geschnittene Kraut eignet sich prima für Kräuterquark, Pesto, Salate, Suppen, Gemüsewähen, Quiches oder Smoothies.

Die Gründonnerstagssuppe

Wenn im Frühling die Vegetation erwacht, versorgen uns frische Wildkräuter mit lebenswichtigen Mikronährstoffen, Vitaminen und Phytohormonen. Aus neun verschiedenen Wildkräutern wird am Donnerstag vor Ostern eine schmackhafte, heilsame Suppe gekocht – die Gründonnerstagssuppe. Mit dem gemeinsamen Genuss dieser heilsamen Kultspeise wird die wiedererwachte Vegetation gefeiert.

Zutaten: Frische junge Triebe von neun verschiedenen Wildkräutern, zum Beispiel Vogelmiere, Brennnessel, Bärlauch, Brunnenkresse, Giersch, Gundelrebe, Kerbel, Kleblabkraut und Löwenzahn. Pro Person benötigt man 1–2 Handvoll Kräuter.

Zubereitung: Die Kräuter gegebenenfalls waschen, klein schneiden und 5–8 Minuten lang in Gemüsebrühe köcheln und anschliessend pürieren. Mit Kräutersalz, Pfeffer und Muskatnuss würzen. Etwas Crème fraîche unterziehen und die angerichtete Suppe mit Bärlauch-, Gundelrebe- oder Löwenzahnblüten verzieren.

Wilder Salat aus Frühlingskräutern

Mit den Wildkräutern, die für die Gründonnerstagssuppe verwendet werden, können auch sehr schmackhafte Salate zubereitet werden. Zugesetzter Blatt- oder Nüsslisalat sorgt für mehr Volumen und mildert den herben Geschmack. Blüten von Löwenzahn, Kapuzinerkresse, Gänseblümchen, Stiefmütterchen, Veilchen, Borretsch, Bärlauch oder Ringelblume dienen (ganz oder gehackt) als farbenfrohe Verzierung. Für die Farben der Blüten sorgen die Flavonoide. Das sind phenolische Verbindungen, die zellschützende und entzündungshemmende Wirkungen entfalten. Bunte Wildkräutersalate sind ein echter Jungbrunnen!

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