Baum des Neubeginns

Der weisse Baum des Nordens war schon immer unser Freund. Er versorgt uns vitaminreicher Notnahrung, reinigender Medizin und ist ein vielseitiger Werkstoff.

Yves Scherer

In den herabhängenden Ästen der lichtvollen Birken spielt leise raschelnd der Wind. Offen, leicht und freundlich scheinen die weissen Bäume innig mit dem Himmel verbunden zu sein. Die Birke hat etwas Kindliches. Gleichzeitig erinnert sie mich an eine alte, weise Person. Diese Ambivalenz zeigt sich schön in der glatten weissen Rinde, die sich in Fetzen vom Stamm löst. Wie ein Reptil scheint der Baum seine alte, zu eng gewordene Haut abzulegen. Mit den Jahren bilden sich schwarze Korkwarzen, die sich über den Stamm und die dickeren Äste ausbreiten. Das weisse Kleid der Jugend wird schwarz und schorfig.

Birkenrinde als Werkstoff

Während meines Studiums verbrachte ich ein halbjähriges Praktikum in einer indigenen Gemeinde, der «Drei-Feuer-Stämme» Ojibway, Odawa und Potawatomi, in Kanada. Die Völker sprechen die Sprache Algonkin und nennen sich selbst Anishnabe. Im Frühsommer durfte ich Al Shawana, dem Häuptling der Gemeinde, beim Birkenrinde sammeln helfen. Im Kanu überquerten wir einen abgelegenen See, an dessen Ufer viele schöne Papierbirken wuchsen. Vor dem ersten Baum, dessen Rinde wir vom Stamm schneiden wollten, legte Al etwas Tabak auf die Erde: «Für dich mein Freund.» Die respektvolle Geste des Dankes ist Ausdruck der Naturverbundenheit der Anishnabe. Wer von Mutter Erde Nahrung, Kleidung und Medizin erhält, soll ihr auch etwas zurückgeben.

Mit dem Messer schnitt der gross gewachsene Mann vorsichtig einen langen, vertikalen Schnitt in die äussere Schicht der Rinde. Diese löste sich langsam vom Stamm ab. Al schob die Klinge in die Öffnung und riss schliesslich ein etwa 70 Zentimeter breites Stück Rinde vom Stamm ab. Zwei Stunden später war das Kanu voll beladen mit gut verschnürten Packen aus grossen Rindenstücken und wir machten uns auf den Heimweg. Für die Gewinnung grossflächiger Birkenrinde eignet sich vor allem die in Nordamerika heimische Papierbirke (Betula papyrifera). Die abgeernteten Bäume brauchen ein paar Jahre, um sich zu erholen. Sie sterben aber nicht. Mit der wasserdichten Birkenrinde deckten die Indigenen früher ihre kuppelförmigen Häuser und bauten daraus Kanus, die schwere Lasten tragen konnten. Heute werden aus der Birkenrinde vor allem dekorative Schatullen gefertigt. So auch von der Familie, die mich beherbergte. Sie betreibt dieses Kunsthandwerk in alter Familientradition.

In ihrem kleinen Haus am Huronensee zeigten sie mir, wie Birkenrinde-Schatullen hergestellt werden. Angeleitet von der Grossmutter arbeiteten wir bis spät in die Nacht hinein. Wir schnitten Rindenstreifen zu, nähten diese zusammen und umsäumten die Kanten mit heiligem Süssgras (Hierochloe odorata). Die Oberflächen der fertigen Schatullen bestickten wir mit gefärbten Stachelschweinborsten. Um nicht müde zu werden, tranken wir literweise Tee, erzählten uns Geschichten und lachten viel. Sie fanden meine Sprache lustig, meine weisse Haut und dass ich den Weg in ihr Haus gefunden hatte, das so weit abseits lag, dass sich selbst ein betrunkener Bär nicht hierhin verirrt hätte. Sie neckten mich so lange, bis ihnen die Tränen kommen. Dann klopfte mir die Oma sachte auf die Schultern und meinte: «Wir meinen es gut mit dir, ey Yves?»

Wasserdichte Becher und Krüge aus Birkenrinde nutzt man auch in Sibirien. Dort sind die Behältnisse in der Regel wunderschön verziert mit eingeprägten Pflanzenmotiven und ornamentalen Mustern. Birkenrinde wirkt antibakteriell und macht die darin aufbewahrten Lebensmittel besonders lange haltbar. Das Kambium, die zarte innere Rinde, diente den indigenen Völkern als Notnahrung. Sie enthält viel Vitamin C. Und was für Outdoor-Begeisterte von grossem Wert ist: Die Rinde und das Holz der Birke brennen auch im feuchten Zustand gut.

Die Heilwirkung der Birke

Die Birke beruhigt, nährt, wärmt und heilt uns seit Anbeginn der Zeit. Als Pionierpflanze besiedelt die Birke gerne brach liegende Flächen und leitet die Rückkehr der Vegetation ein. Beispielsweise dort, wo Gletscher sich zurückgezogen haben. In der irischen Tradition verkörpert der Baum den Neubeginn und wird mit der lichtbringenden Göttin Brigid assoziiert. Ihre Entsprechung im germanischen Kulturkreis ist die Frühlingsgöttin Ostara.

Birken nehmen viel Wasser aus dem Boden auf und wachsen deshalb gerne auf feuchtem Terrain. Der grosse Wasserumsatz des Baumes scheint sich auch in der Wirkung auf den Menschen zu zeigen. Tee aus Birkenblättern fördert die Harnausscheidung merklich. Die Anregung der Nierentätigkeit ist dann erwünscht, wenn es darum geht, Stoffwechselrückstände auszuschwemmen – zum Beispiel die Gicht verursachenden Harnsäuren. Birkenblättertee eignet sich zur Behandlung von rheumatischen Erkrankungen, entzündlichen Erkrankungen der Harnwege, Ekzemen und Ödemen. Die Droge enthält entzündungshemmende Flavonoide, wundheilende Gerbstoffe, desinfizierende ätherische Öle, Harze, Bitterstoffe, Saponine und Vitamin C.

Zahlreiche Studien belegen die antibakterielle, antivirale, pilzhemmende, antientzündliche, wundheilende und tumorhemmende Wirkung von Birkenrinde-Extrakten. Für die keimhemmende Wirkung ist unter anderem das staubfeine Pulver verantwortlich, welches zwischen den Rindenschichten liegt, das Betulin. Dieser Stoff fördert die Regeneration geschädigter Haut und bessert Pilzinfektionen, Neurodermitis, Psoriasis, Keratosen und Verbrennungen. Wenn Sie die Reiseapotheke zu Hause vergessen haben, können Sie eine Wunde mit gequetschten Birkenblättern abdecken und dann mit der papierdünnen, äussersten Rindenhaut verbinden.

Birke sammeln

Wenn Sie Birkenblätter oder anderes Pflanzenmaterial sammeln, beachten Sie bitte folgende Sammelregeln:

  • Die Pflanze schenkt Ihnen Medizin. Zeigen Sie ihren Respekt, indem Sie sich bei der Pflanze bedanken. Ihre Dankbarkeit ist Medizin für die Pflanze.
  • Ernten Sie nur einen kleinen Teil eines Bestandes.
  • Ernten Sie an verschiedenen Orten und nur so viel, wie Sie benötigen.
  • Lassen Sie das Sammelgut an einem warmen, staubfreien Ort trocknen.
  • Bewahren Sie das getrocknete Pflanzenmaterial in einer Papiertüte oder in einer Kartonschachtel auf und notieren Sie den Pflanzennamen und den Erntemonat.
  • Sammelgut welches älter ist als ein Jahr, hat viele seiner Wirkstoffe verloren. Es kann kompostiert oder verbrannt werden.

Für medizinische und kulinarische Anwendungen eignen sich alle Birkenarten gleichermassen. In Geschmack und Wirkung unterscheiden sie sich kaum.

Anwendungen

Tee aus Blattknospen und männlichen Blütenkätzchen: Bevor der Baum sein Laub austreibt, können die Blattknospen und die männlichen Blütenkätzchen gesammelt werden. Für einen Liter Tee quetschen Sie einen Teelöffel voll frischer Blattknospen und einen Esslöffel voll frischer Blütenkätzchen und übergiessen die Mischung mit heissem Wasser. Fünf Minuten ziehen lassen. Der Tee hat einen milden, leicht herben Geschmack.

Birkenblättertee: Für einen Liter Tee übergiessen Sie zwei Esslöffel voll zerkleinerter, frischer oder getrockneter Blätter mit heissem Wasser. Fünf Minuten ziehen lassen. Über den Tag verteilt trinken. Wirkt harntreibend.

Wildgemüse: Das zarte, junge Laub ist reich an Proteinen. Sie können es in Salate, Suppen oder Smoothies geben. Fein gehackt ergänzt es Kräutermischungen und Saucen, getrocknet und gemahlen können Sie es mit ins Brot backen. Von März bis Juni werden die männlichen Blütenkätzchen gesammelt. Diese können Sie ebenfalls zu Mehl verarbeiten oder in Salz, Öl oder Essig konservieren.

Rindenstreifen-Gewusel: Dünne, lange Rindenstreifen können zu einer faustgrossen Kugel zusammengewuselt werden, mit der man sich beim Duschen die Haut sanft abrubbelt.

Antibakterielle Sohle: Als Innensohle in die Schuhe gelegt, neutralisiert die Rinde unangenehmen Geruch.

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