Balsam für Körper und Seele
Die Melisse unterstützt uns bei stressbedingter Überlastung. Auf das Frauenheilmittel und den «Herztrost» alter Zeiten ist auch heute noch Verlass.
Yves Scherer
Wenn man sich intensiv mit Pflanzen beschäftigt, erlebt man hin und wieder Überraschungen. Meine erste Begegnung mit der Melisse werde ich jedenfalls nie mehr vergessen: Es war ein heisser Sommertag, ich hatte einen grossen Bund Melisse geerntet und wollte das frische Kraut zerkleinern, um damit ein Kräuterkissen zu befüllen. Als ich begann, den Bund mit einem Messer kleinzuschneiden, war ich bald eingehüllt von einer ätherischen Duftwolke und vor meinen Augen begann es zu flimmern. Kurze Zeit später sah ich auf einer Seite des Gesichtsfeldes nichts mehr. Die linke Hälfte der Welt war verschwunden. Ich sah einen halben Tisch, einen halben Baum, und als ich mir eine Hand vors Gesicht hielt, sah ich nur drei Finger. Ich erlebte meinen ersten Migräneanfall, ausgelöst vom intensiven Duft der Melisse.
Pflanzen sind keine harmlosen Gewächse. Da sie bei drohender Gefahr nicht einfach weglaufen können, bilden sie Wirkstoffe aus, die sie vor Temperaturschwankungen, Nässe, Trockenheit und gefrässigen Tieren schützen. Ätherische Öle wie die der Melisse dienen ausserdem der Kommunikation mit anderen Pflanzen und der Anwerbung von bestäubenden Insekten. Mein Erlebnis mit der Melisse hat mich gelehrt, behutsamer mit Pflanzen umzugehen und Mass zu halten beim Sammeln. Ich hatte nämlich den Fehler gemacht, zu viel Melisse auf einmal zu verarbeiten. Durch die Sommerhitze war die Konzentration der ätherischen Öle in der Pflanze besonders hoch.
Anstatt den Bund zu zerschneiden hätte ich die Blätter behutsam von den Stängeln streifen sollen. Die ätherischen Öle wären dann nämlich in den Blättern verblieben. Durch das Schneiden jedoch wurde es in grosser Menge frei und ich hatte mich quasi mit den Aromastoffen vergiftet.
Nach und nach habe ich dann die angenehmen Seiten der Melisse kennengelernt. Auf ihre guten Dienste möchte ich heute nicht mehr verzichten. Und sie vielleicht auf meine auch nicht, denn sie spriesst ganz von allein in allen Ecken unseres Gartens.
Das honigsüsse Bienenkraut
Die wärmeliebende Melisse (Melissa officinalis) stammt ursprünglich aus dem Mittelmeerraum und gehört zur Pflanzenfamilie der Lippenblütler (Lamiaceae). Die gemeinsamen Erkennungsmerkmale der Lippenblütler sind ihre typische Blütenform mit einer Ober- und einer (meistens dreilappigen) Unterlippe, der vierkantige Stängel und die kreuzgegenständige Anordnung der Blätter. Vor allem aber verströmen sie an warmen Tagen einen intensiven Duft, der bestäubende Insekten anlockt und unerwünschte Schädlinge fernhält. Der Duft der Melisse ist erfrischend-blumig und erinnert an Zitrone. Sie wird deswegen auch Zitronenmelisse, Zitronenkraut oder Zitronenbalsam genannt. Wegen ihres feinen Aromas werden viele Lippenblütler in der mediterranen Küche verwendet. Die ätherischen Öle von Melisse, Minze, Thymian, Rosmarin, Salbei, Majoran, Oregano, Basilikum und Co. bieten aber nicht nur delikate Aromen, sondern verfügen auch über wertvolle medizinische Eigenschaften.
Das griechische Wort Melissa bedeutet Biene. Honigbienen lieben den süssen Nektar der Melisse. Viele Imker*innen reiben deswegen die Bienenkästen, in denen sie im Frühling ihre Jungvölker nachziehen, mit frischem Melissenkraut aus. Wer die fleissigen Immen zur Bestäubung von Kulturpflanzen anlocken will, pflanzt Melisse in den Garten.
Der «Trost der Frauen»
Möglicherweise wurde die Melisse wie viele andere mediterrane Pflanzen von den Römer*innen in das Gebiet nördlich der Alpen gebracht. Gesichert ist, dass das «Pfaffenkraut» seit dem Frühmittelalter in Klostergärten kultiviert worden ist. Hildegard von Bingen nannte die Pflanze «Binsuga» (Biensaug) und meinte: «Wer sie isst, wird gern lachen, weil ihre Wärme die Milz angreift und das Herz dadurch freudig wird.»
Bis heute gehört die Melisse zum grossen Arzneimittelschatz der Klosterheilkunde. Kräuterpfarrer Johann Künzle nannte die Melisse «Trost der Frauen». Der Tee mache leicht ums Herz und solle besonders den Wöchnerinnen als Herzstärkung angeboten werden. Seit dem Altertum gilt die Melisse als Tonikum für die Gebärmutter und wurde zur Regulierung der Menstruation, zur Dämpfung sexueller Reizzustände, bei Prämenstruellem Syndrom (PMS) und gegen die Beschwerden der Wechseljahre empfohlen. Alte Namen für die Melisse, welche die herzstärkenden und frauenheilkundlichen Anwendungen belegen, sind: Herzkraut, Herztrost, Frauenkraut und Mutterkraut (nicht zu verwechseln mit Tanacetum parthenium).
Beruhigungsmittel und Phytobiotikum
Die Bitterstoffe der Melisse unterstützen die Verdauung, indem sie die Magen- und Gallensaftproduktion anregen. Als Karminativum lindert Melisse Blähungen ähnlich zuverlässig wie etwa Anis, Kümmel, Bitterfenchel, Koriander, Lavendel und Minze. Die ätherischen Öle wirken entkrampfend auf den Verdauungstrakt. In der modernen Phytotherapie wird Melisse verschrieben, um organische Beschwerden zu lindern, die durch eine hohe Stressbelastung entstanden sind. Volksheilkundlich wird die Pflanze auch in diesem Sinne verwendet, beispielsweise um nervöse Magen- oder Herzbeschwerden, Schwindel, Schwermut und Migräne zu behandeln.
Äusserlich angewendet zeigt Melisse eine starke keimwidrige Wirkung. Sie kann Pilze, Bakterien und Viren abtöten. Melissenextrakte haben sich besonders in der Behandlung von Fieberbläschen/Lippenherpes bewährt. Studien konnten nachweisen, dass Melissen-Cremes und -Salben einen signifikanten Rückgang der Symptome bewirken und sehr gut vertragen werden. Auch der Genuss von Melissentee und Waschungen mit demselben können bei Fieberbläschen Linderung verschaffen. Die in der Pflanze enthaltene Rosmarinsäure verhindert, dass das Herpes-simplex-Virus in die Körperzellen eindringen kann. Auf diese Weise wird die Infektion rasch und effektiv eingedämmt. Zur Behandlung von Herpes genitalis eignen sich Sitzbäder mit Melissentee oder verdünnter Tinktur.
Zurück zu meiner unliebsamen ersten Begegnung mit der Melisse: Während der folgenden drei oder vier Jahre stellten sich regelmässig Migräneanfälle ein, meistens ausgelöst durch blendendes Licht. Heilpflanzenanwendungen konnten die Anfälle zwar lindern aber nicht heilen. Erst durch eine homöopathische Behandlung konnte ich die Migräne überwinden, dafür endgültig.
Anwendungen
Teezubereitung
Eine Handvoll (wenn möglich frische) Melissenblätter mit einem Liter heissem Wasser (80–90 °C) übergiessen und zugedeckt 5 Minuten ziehen lassen.
Teemischungen mit Melisse:
Zur Beruhigung der Nerven / Schlafförderung:
Baldrian, Hopfen, Lavendel, Johanniskraut
Zur Unterstützung des Herzens: Weissdorn,
Herzgespann, Rosmarin (nicht abends)
Gegen Blähungen: Anis, Fenchel, Kamille, Lavendel, Schafgarbe
Bei nervösen Magenbeschwerden: Angelikawurzel,
Hopfen, Minze, Gänsefingerkraut
Bei Bauchweh der Kinder: Fenchel, Gänsefingerkraut,
Kamille, Ringelblume
Tinktur bei Fieberblasen:
Antivirale Tinkturmischung gegen Herpes labialis (nach Margret Madejsky). Jeweils 10 ml der folgende Urtinkturen über eine Drogerie/Apotheke mischen lassen: Melisse (Melissa officinalis), Frauenmantel (Alchemilla xanthochlora syn. vulgaris), Ringelblume (Calendula officinalis), Purpur-Sonnenhut (Echinacea purpurea), Stinkender Storchschnabel (Geranium robertianum).
Die Tinkturmischung kann bei Fieberblasen innerlich und äusserlich angewendet werden.
Innerlich: zweimal täglich 5–6 Tropfen im Mund zergehen lassen
Äusserlich: im Verhältnis 1:10 mit Wasser verdünnen und zu Umschlägen oder Waschungen gebrauchen
Yves Scherer
Yves Scherer ist Herbalist, diplomierter Naturheilpraktiker und visueller Gestalter. Er unterrichtet Phytotherapie an verschiedenen Fachschulen und bietet eine eigene Ausbildung in Pflanzenheilkunde und Kräuterwanderungen an: www.medizingarten.ch / www.medizinwald.ch