Zwischen Genetik und Herkunftscode
Der Einfluss unserer Vorfahren auf unser Verhalten und Wesen ist gemäss aktuellen Genforschungen grösser, als manche vermuten würden. Die Entwicklungspsychologie spricht von mentalen Modellen, die intergenerationell weitergegeben werden. In der systemischen Arbeit ist gar von einem energetischen Herkunftscode die Rede, den es aufzulösen gilt.
Fabrice Müller
Genetische Informationen beschränken sich nur auf eine Generation und werden nicht an die Nachfahren weitergegeben. Davon ging die Forschung lange Zeit aus. Mehrere Studien haben inzwischen jedoch nachgewiesen, dass epigenetische Markierungen tatsächlich an die nächsten Generationen weitervererbt werden. Forschende des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg (D) entdeckten 2017, dass nicht nur die vererbte DNA selbst, sondern auch vererbte epigenetische Instruktionen zur Regulierung der Genexpression der Nachkommen beitragen.
Im Unterschied zur Genetik, die sich mit der Erbsubstanz DNA selbst beschäftigt, liefert die Epigenetik (wörtlich: zusätzlich zur Genetik) zusätzliche codierte Informationen, die den Aktivitätszustand von Genen bestimmen. Als epigenetische Markierungen werden z. B. chemische Moleküle bezeichnet, die an der DNA selbst oder an den DNA-Bindungseiweissen hängen, und die beispielsweise dazu führen, dass ein bestimmter Abschnitt auf der DNA nicht mehr abgelesen werden kann. Alle epigenetischen Markierungen zusammen bilden das epigenetische Muster einer bestimmten DNA-Region. Wie die Erbsubstanz selbst werden vermutlich auch epigenetische Informationen an folgende Generationen vererbt. Darüber hinaus beschreiben die Erkenntnisse des Labors von Nicola Iovino die biologischen Folgen dieser vererbten epigenetischen Informationen. «Unsere Studie legt den Schluss nahe, dass wir mehr als nur Gene von unseren Eltern erben. Denn wir fanden Mechanismen, welche die Aktivität unseres Erbguts steuern und von denen wir wissen, dass sie durch unsere Umwelt und vom individuellen Lebensstil beeinflusst werden. Es ist somit durchaus denkbar, dass zumindest in einigen Fällen erworbene Umweltanpassungen über die Keimbahn auch an die Nachkommen weitergegeben werden könnten», erläutert der Studienleiter Nicola Iovino.
Muster übernehmen und weiterleben
Die Wissenschaftlerin Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello von der Universität Bern beobachtet immer wieder, wie Menschen negative mentale Modelle intergenerationell übernehmen und weitergeben. Dazu zählen zum Beispiel das Scheidungsverhalten oder berufliche Probleme. «Solchen Menschen fehlt das Vertrauen und die Zuversicht. Sie driften häufig in die Unverbindlichkeit ab, weil sie als Kind verletzt worden sind oder als Kind eine unsichere Bindung erfahren haben.»
Die Entwicklungspsychologin und Familientherapeutin spricht dabei weniger von Prägungen, sondern vielmehr von mentalen Modellen und Mustern, die man von den Eltern oder Grosseltern übernommen hat. «Solche Modelle haben immer auch einen Einfluss auf das jetzige Verhalten eines Menschen, sei es im Umgang mit Emotionen, Herausforderungen oder beruflichen Themen.»
Der Einfluss fehlender Wärme
Prägungen bzw. mentale Modelle entstehen bereits in der frühkindlichen Phase. So sind die ersten vier Jahre eines Kindes entscheidend für dessen Sprachentwicklung. «Fehlt in dieser Zeit die entsprechende Stimulation, lernt das Kind nur schwerlich sprechen», gibt Pasqualina Perrig-Chiello zu bedenken. Forschungen in den 1950er-Jahren beschäftigten sich mit der Entwicklung von Waisenhauskindern und fanden dabei heraus, dass fehlende Wärme, Zuneigung und mütterliche Berührung im Kindesalter zu Problemen in der künftigen Beziehungsentwicklung führten. «Früher ging die Forschung davon aus, dass man solche mentalen Modelle nicht durchbrechen kann und sie somit zu einer nachhaltigen Schädigung der Bindungs- und Beziehungsfähigkeit führen», erzählt Pasqualina Perrig-Chiello.
Mit Hilfe von Langzeitstudien konnte diese Annahme in der Folge stark relativiert werden. Die US-Psychologin und Resilienzforscherin Emmy Werner zeigte anhand einer Langzeitstudie, wie ein Drittel der Kinder aus schwierigsten Familienverhältnissen aus ihrer Stichprobe sich in der Folge gut entwickelte. Dies dank der Tatsache, dass sie früh alternative Bindungen aufbauen konnten – zu Grosseltern, Tanten oder Kindergartenlehrpersonen.
Fundament für Freundschaft und Partnerschaft
Langzeitstudien der Bindungsforscher Grossmann und Grossmann von der Universität Regensdorf beleuchteten den Zusammenhang zwischen Bindungserfahrungen in der Kindheit und der Entwicklung im Erwachsenenalter. Sicher gebundene Kinder, mit positiven Erfahrungen zu ihren Bezugspersonen, entwickelten mentale Modelle, die es ihnen in der Folge ermöglichten, verlässliche, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen. Dies im Gegensatz zu unsicher Gebundenen, die diesbezüglich erhebliche Mühe hatten. Bereits in den ersten Lebensjahren wird also das Fundament für Freundschaften, Partnerschaften und den rücksichtsvollen sozialen Umgang mit anderen gelegt. Stärke und Nachhaltigkeit von mentalen Modellen hängt gemäss der Psychologin davon ab, wie negativ diese Prägung sei. «Negative mentale Modelle wirken sich stärker aus als positive. Denn wir Menschen reagieren bei negativen Einflüssen emotional besonders verletzlich.» Positive Modelle hingegen bilden zwar eine gute Basis für die Entwicklung, sind aber keine Garantie hierfür.
Nicht nur eine Frage der Gene
Die mentalen Modelle werden gemäss Pasqualina Perrig-Chiello von den engsten Bezugspersonen wie Mutter und Vater übernommen. Dazu gehören auch Grosseltern, die zumeist ebenfalls eine enge Beziehung zu ihren Grosskindern haben, und ihnen Bindungsmuster und Werthaltungen weitergeben.
Aus der Forschung wisse man ferner, dass, so Pasqualina Perrig-Chiello, Wohlbefinden, Gesundheit und die Lebenserwartung nur zu rund 40 Prozent auf die genetische Ausstattung frühkindlicher Erfahrungen zurückzuführen sind. Der Rest sei auf den Lebensstil und das soziale Umfeld bezogen, in erster Linie aber auf Charakterstärken. «Wir sind kein Spielball des Schicksals. Der Mensch ist mehrheitlich selbst der Gestalter seiner Entwicklung», ist Pasqualina Perrig-Chiello überzeugt.
Selbsterkenntnis ist entscheidend
In der Praxis trifft die Entwicklungspsychologin regelmässig auf Menschen, die in der Opferrolle verharren und sich nur schwer davon lösen können oder wollen. Grundvoraussetzung für Veränderung sei die Selbsterkenntnis – sie ist entscheidend, um die Eigenanteile zu erkennen und sich von dysfunktionalen Mustern zu befreien. «Als Psychologin ist es mein Ziel, den Betroffenen zu zeigen, welches andere Verhalten ebenfalls möglich ist und dass sie nicht die Sklaven der Vergangenheit sein müssen», betont Pasqualina Perrig-Chiello. Vielmehr gelte es, vorwärtszuschauen und sich neu zu erfinden – wenn nötig mit externer Unterstützung.
Basierend auf der Positiven Psychologie geht es der Professorin um die Entwicklung von Charakterstärken auf der mentalen, emotionalen, zwischenmenschlichen und kognitiven Ebene. «Die Betroffenen können ihre eigenen Stärken wie zum Beispiel Dankbarkeit, Hoffnung, Neugier, Spiritualität, den Sinn für das Schöne oder die Vergebung erkennen und entwickeln», erklärt Pasqualina Perrig-Chiello. Besonders die Fähigkeit, zu vergeben und sich mit der Vergangenheit zu versöhnen, sei entscheidend für das Seelenheil und die Seelenruhe.
Transgenerationaler Ansatz
Von einem energetischen Herkunftscode in Zusammenhang mit Prägungen und Mustern, die Menschen von ihren Vorfahren übernommen haben, spricht Rosa Rechtsteiner, Pädagogin und Kinesiologin aus Kreuzlingen. Sie hat vor mehr als 25 Jahren eine systemische Methode entwickelt, die unter dem Namen Rosa Rechtsteiner Methode etabliert ist und seit 2002 auch gelehrt wird.
Ihr transgenerationaler Ansatz geht davon aus, dass die Menschen sich als soziale Wesen unbewusst an dem orientieren, was ihnen ihre Familie und Ahnen vorgelebt haben. «Oft übernehmen wir Werte, Ideen, Verhaltensregeln, die unsere Vorfahren über Generationen hinweg gelebt haben», sagt Rosa Rechtsteiner. Die Familie sei wie eine Frequenz, die alte Muster, Werte, Emotionen und Traumatisierungen von Generation zu Generation weitergebe. Das Unterbewusstsein halte an dieser vorgegebenen und vorgelebten Struktur fest – mit Folgen für die persönliche Identität und Entwicklung eines Menschen.
«Ich darf nicht glücklich sein»
Doch der energetische Einfluss der Sippe, wie es Rosa Rechtsteiner erklärt, gehe noch weiter: Gewisse Rollen, Hierarchien, Eigenschaften und Aufgaben seien zum Teil nur für bestimmte Familienmitglieder bestimmt. Das heisst: Der älteste Sohn einer Familie übernimmt als Nachfolger seines Vaters die Sippenleitung, niemals der jüngste Sohn.
Oder gewisse Krankheiten, unter denen etwa die Mutter litt, würden unbewusst von der Tochter weitergelebt – genauso wie Lebenseinstellungen und selbstauferlegte Begrenzungen im Sinne von: Ich darf nicht glücklich sein oder ich bin nicht gut genug. «Solche Phänomene zeigen sich im Leben, wenn man zum Beispiel immer wieder an Grenzen kommt, die unüberwindbar scheinen, oder wenn man das Gefühl hat, dem eigenen Glück im Wege zu stehen.»
Nicht so frei, wie wir denken
Welche Rolle spielt dabei laut Rosa Rechtsteiner der eigene Wille? «Unser vermeintlich freier Wille ist nicht so frei, wie viele denken.» Erst durch das Auflösen von alten Mustern, Traumatisierungen könne der freie Wille wirklich gelebt werden. Rosa Rechtsteiner arbeitet mit einem Genogramms bzw. Ahnenstammbaum – mit dem Ziel, die komplexen Strukturen der Herkunftsfamilie transparent zu machen.
Der Weg in die «Freiheit», in eine eigene Identität und Mitte, sei eine Bewusstseinsarbeit, bei der Thema für Thema behandelt werden. Nur so lasse sich der Einfluss der Sippe überwinden. «Der Mensch kommt zur Erkenntnis, dass er anders sein darf als die Sippe», erklärt Rosa Rechtsteiner. In ihrer Therapie schliesse sie stets auch die Kinder der Klientinnen und Klienten mit ein, um zu verhindern, dass Muster, Ängste oder Traumatisierungen der Vorfahren an die nächste Generation weitergegeben würden. Durch die systemische Auflösung von alten Mustern verändere sich übrigens auch etwas bei den noch lebenden Vorfahren, ist Rosa Rechtsteiner überzeugt.
www.entwicklung.psy.unibe.ch
www.rosarechtsteiner.de
Buchtipp
Familie im Gepäck
Wie Sie sich aus alten Mustern lösen und zum eigenen Leben finden, Rosa Rechtsteiner, September 2015, Patmos Verlag, 176 Seiten, EAN 9783843606868