Zu viel, zu schnell, zu oft?

Stress kann uns beleben oder belasten, langfristig sogar töten. Wesentlich ist, wie wir mit stressigen Situationen umgehen. Ein gesunder Umgang ist erlernbar – mit Achtsamkeit als Basis.

Lioba Schneemann


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ine Reise steht an: TGV von Basel nach Paris, dort Transfer zum anderen Bahnhof, abends die Fähre nach England. Alles an einem Tag! Und es muss klappen! So schön die bevorstehende Reise ist – ich fühle mich angespannt. Ich bin zwar noch im «grünen» Bereich, erlebe also den Stress als aufregend. Jedoch schlief ich letzte Nacht nicht so gut wie sonst, war unruhiger und Gedanken kamen auf wie «Was wäre, wenn wir den Anschluss verpassen?».

Ich bin noch im grünen Bereich, das heisst, im positiven Stress. Einst nannte man dies Eustress, von der griechischen Vorsilbe «eu», was soviel wie «gut» bedeutet. Damit meinte man den Stress, der Menschen motiviert, anregt und keine negativen Auswirkungen hat. Distress sagte man für das Gegenteil – der Stress, der den Organismus belastet und langfristigen Schaden anrichten kann.

 

Die Kontrolle behalten

Stress ist gemäss Definition eine «Beanspruchung des Körpers durch innere oder äussere Reize». Der Organismus reagiert mit einer erhöhten körperlichen und psychischen Anspannung. Wir sind dann besonders leistungsfähig, um die Herausforderung zu meistern. Die Evolution hat uns ausgestattet, damit wir überleben – die uns angeborene Stressreaktion hilft uns: wir kämpfen, fliehen oder erstarren («fight, flight, freeze»).

Die Einteilung in «guten» Stress (Eustress) und «schlechten» Stress (Distress) gilt heute allerdings als veraltet, wie Stressforschende sagen. Wesentlich sei vielmehr, wie wir mit einer Herausforderung umgehen. Die Art des Auslösers sei daher weniger relevant. Für meinen Fall heisst dies: Ob mich die Gedanken an die lange Reise belasten oder ob ich das Vorhaben als freudig und angenehm aufregend empfinde, hängt vorwiegend von meiner individuellen Situation, meinen gemachten Erfahrungen und meiner Erziehung sowie von weiteren Faktoren ab.

Bei Stressphasen kann man vier Stufen unterscheiden, die deutlich machen, wie Menschen mit Stresssituationen umgehen:

 

Aktivierungsphase (Stufe 1): Die Person ist entspannt, fit und verfügt über ausreichende Ressourcen. Akute Probleme/Situationen werden als Herausforderung erlebt und gut bewältigt.

Akuter Stress (Stufe 2): Die Person ist angespannt, etwa weil sie schon durch andere Stressoren vorbelastet ist. Akute Probleme können aber noch bewältigt werden.

Chronischer Stress (Stufe 3): Die Grundanspannung ist aufgrund zahlreicher Belastungen deutlich erhöht, zusätzliche Probleme können schwer oder kaum noch bewältigt werden. Der anhaltende Stress geht mit einem erhöhten Risiko zu erkranken einher.

Psychische Störung (Stufe 4): Trotz anhaltender Belastung sinkt die Anspannung nicht. Die Person hat resigniert und sieht sich nicht mehr in der Lage, die anstehenden Probleme zu bewältigen.

Die Kontrolle zu behalten, ist ein wichtiger Aspekt für unser individuelles Stressempfinden: «Die Folgen von Stress hängen vor allem davon ab, ob wir ihn selbst kontrollieren können und ob er einen Anfang und ein Ende hat und nicht so sehr davon, was konkret der Auslöser war», erklärt Tobias Esch, Allgemeinmediziner und Leiter des Instituts für Integrative Gesundheitsversorgung an der Universität Witten/Herdecke und bekannter Buchautor (Interview im GeoWissen, Nr. 74).

Denn auch viele positive Ereignisse können uns in argen Stress versetzen und uns gesundheitlich belasten. Wir alle kennen solche Situationen – die eigene Hochzeit, das Weihnachtsfest im Kreis der Familie, die Geburt eines Kindes. Sogar Grossereignisse wie die Fussball-WM gehen vielen Menschen an «Herz und Nieren». So hat die Rate an Herzinfarkten unter deutschen Männern an der Fussball-WM im Jahr 2006 bei den Spielen der deutschen Mannschaft signifikant zugenommen, wie Studien zeigten.


Praxis der Achtsamkeit als Königsweg

Um mehr Kontrolle zu gewinnen, bietet sich die Praxis der Achtsamkeit an. Sie bildet die Basis für das Gefühl, Kontrolle über uns selbst zu haben. Denn dank einer achtsamen inneren Haltung sind wir erst fähig, bewusster zu entscheiden, wie wir auf Herausforderungen reagieren, oder besser, wie wir darauf am besten «weise» antworten sollten.

Achtsamkeit – per Definition, das bewusste Wahrnehmen unserer Gedanken, Gefühle und der körperlichen Empfindungen, ohne diese zu bewerten – unterstützt uns dabei, dass wir nicht so rasch in das automatische Reagieren kommen. Es gibt uns Kontrolle zurück, hilft, nicht in den «Autopilot» zu gelangen. «Im Grunde ist Achtsamkeit eine wichtige Voraussetzung für Selbstregulation. Sie ist ein Zur-Besinnung-Kommen, und das wirkt oft stressreduzierend», erklärt Tobias Esch.

«Stress ist gemäss Definition eine Beanspruchung des Körpers durch innere oder äussere Reize.»


Sich selbst kennenlernen

Eine achtsame Haltung kann sowohl im Alltag, wie natürlich intensiv in regelmässiger Meditation, geübt werden. Man versucht etwa, immer wieder seine Gedanken zu beobachten. Man geht innerlich einen Schritt zurück, schafft Distanz zum Geschehen. Auch in einer stressigen Situation kann man bewusst innehalten, sich (noch) in Ruhe fragen: Gibt es Hinweise darauf, dass es so schlimm wird, wie ich mir das ausmale? Und wenn ja, ist es wirklich so dramatisch? Kann ich meine Per-spektive wechseln, und was macht das mit mir?

Solche Fragen helfen, die Situation zu entschärfen und realistischer zu sehen. Denn im Zustand von Stress – wenn unser Hirn und Körper von Kortisol & Co. überflutet wird – sind wir nicht fähig, «normal» zu denken, neigen vielmehr zur Überreaktion. Nicht umsonst wird Eltern empfohlen, einzuüben, in kritischen Situationen mit dem Kind, Distanz zu schaffen, aus der Situation zu gehen und dann, wenn das System sich wieder beruhigt hat, erneut in den Kontakt zu gehen.

Hilfreich ist es, sich bewusst zu werden, was grade in einem vorgeht. Wenn ich meinen Stress in mir wahrnehme, im Körper (Hitze, Druck, Beklemmung) und im Geist (negative Gedanken, Gedankenkreisen), kann ich entscheiden, was zu tun ist bzw. was ich nicht tun sollte. Erleichternd ist es, in einer Situation bewusst mehrmals tief durchzuatmen. Ratsam ist die tiefere Zwerchfellatmung. Dabei legt man beide Hände etwa unterhalb des Bauchnabels auf den Körper, spürt den Druck und die Wärme der Hände und atmet dorthin. Man spürt das Heben und Senken der Hände. Dies fördert die Entspannung und zugleich die Konzentration auf den Körper.



Dankbarkeit und Akzeptanz

Dankbarkeit ist ebenfalls wichtiger Schlüssel für weniger Stress im Leben. Dies zu praktizieren, ist weder schwer noch aufwändig: Man kann jeden Abend drei Dinge in ein Buch notieren, für die man an diesem Tag dankbar ist. Studien haben die Wirksamkeit dieses einfachen Mittels belegt.

Nicht zuletzt kommt Akzeptanz mit ins Spiel. Zu akzeptieren, was wir nicht ändern können, ist eine sehr wirkungsvolle «Strategie» gegen unnötigen Stress im Leben. Wichtig ist dabei die bewusste Entscheidung, was wir akzeptieren können bzw. müssen, so wie es ist, anstatt gegen Windmühlen anzukämpfen, und welche Themen wir angehen können, um sie zu ändern. Durch Akzeptanz können wir oftmals Ärger und Wut verringern und uns bewusst auf Positives und Neues ausrichten.


Energiepolster aufbauen

Interessant ist in dem Zusammenhang auch die Sicht aus der indischen Lehre des Ayurveda, die uns ein tiefes Verständnis für die menschliche Natur schenkt. Dort wird Stress, der uns belastet, als schädliche Energie angesehen, die unsere Doshas aus dem Gleichgewicht bringen. Doshas sind die drei Prinzipien Vata, Pitta und Kapha, die für die Steuerung aller Abläufe und Funktionen im Körper verantwortlich sind. Die negative Energie sorgt für einen Abbau der Lebenskräfte. So können physische, mentale und emotionale Blockaden entstehen, die den Flow-Zustand unterbrechen. Unsere Essenz (Ojas) wird gestört.


Es sollte stets ein gutes Gleichgewicht zwischen verbrauchender und aufbauender, regenerierender Energie bestehen, um in der persönlichen Balance zu bleiben. Gut sei es, ein Energiepolster aufzubauen, um bei anstrengenden Phasen darauf zurückzugreifen. Wir sollten uns demnach mit wertvollen Ojas-Quellen versorgen. Wichtige Energiequellen sind das Sonnenlicht als Quelle des Lebens und frische Luft, ausreichend Ruhe, hier im Sinne von Schlaf und Meditation sowie gesunde Ernährung (saisonal, natürlich und individuell). Wichtig ist ausserdem, auf eine Zeit- und Chronohygiene zu achten, das heisst, im Einklang mit dem Tages- und Jahresrhythmus zu leben und sich regelmässig Pausen zu gönnen. Für einen guten Energiehaushalt gehören noch Bewegung, sanfte Entgiftung (tägliche Morgenroutine mit Zungenschaben, Ölziehen und saisonaler Reinigungswoche sowie digitale Auszeiten) sowie ein unterstützendes soziales Umfeld und nährende Beziehungen dazu. Schliesslich fördert das Gefühl, ein sinnvolles Leben zu führen unsere wohltuende Balance.

«Durch Akzeptanz können wir oftmals Ärger und Wut verringern und uns bewusst auf Positives und Neues ausrichten.»


Menschen, die hinreichend in sich hineinhören, werden es instinktiv spüren, wenn sie aus der Balance geraten. Körper, Geist und Seele sind von Natur aus bestrebt, sich auszugleichen und in den angeborenen Zustand der Balance zu bringen.

Ignorieren wir diese Zeichen jedoch, antwortet unser Körper etwa mit Schmerzen, Schlafstörungen, Anspannung oder Gereiztheit sowie Gefühlen des Lebens im «Hamsterrad» bis zum Zusammenbruch oder chronischen Erkrankungen. Lernen wir also, gut hinzuspüren und, hinzuhören – dann hat der Stress keinen so grossen Einfluss mehr auf uns.

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