Wenn Gedanken Berge ­versetzen

Gedanken prägen unseren Alltag, unsere Beziehungen, unser Wohlbefinden – und noch vieles mehr. Der Ursprung unserer Handlungen sind Gedanken. Meist ist man sich der Kraft der Gedanken wenig bewusst. Mit ihnen umzu­­gehen, kann herausfordernd, aber auch gewinnbringend sein.

Fabrice Müller, Illustration: Sonja Berger


Mehr «Muckis» dank Gedankenkraft? Gemäss einer Studie von US-Forschenden an der Cleveland Clinic Foundation kann Gedankenkraft die Bizepsmuskulatur zum Wachsen bringen. Die Studie entstand zusammen mit zehn Probanden im Alter von 20 bis 35 Jahren. Ihre Aufgabe war es, fünfmal pro Woche den angespannten Zustand ihres Armmuskels vorzustellen. Resultat: Die Forschenden stellten nach 14 Tagen einen durchschnittlichen Muskelzuwachs von 13,5 Prozent fest – notabene ohne Krafttraining.


Gedanken als Ursprung von Handlungen

Gedanken sind wirkende Kräfte – nicht nur auf die Muskulatur. Diese Weisheit kannten schon die alten Griech*innen. Sie waren sich bewusst: Unsere Handlungen haben ihren Ursprung in unseren Gedanken, und Gedanken wirken auf unser Befinden. «Wir setzen zwar nicht alles um, was wir denken, nicht jeder Gedanke wird zur Handlung, aber alles, was wir denken, wirkt sich auf unsere Befindlichkeit aus – und alles, was wir denken, kann einer entsprechenden Handlung Vorschub leisten», gibt Edith Leibundgut, Erwachsenenbildnerin und Autorin des Buches «Muckis fürs ­Leben – Das Kraftbuch für Körper, Seele und Geist», zu bedenken.


Netzwerk von Nervenzellen

Doch wie entstehen Gedanken? Gedanken sind kein statisches Produkt, sondern ein dynamischer Prozess, der sich über Zeiträume von Millisekunden bis Sekunden entwickelt und sich ständig verändert. Denken ist, so Prof. Dr. Matthias Maalouli-Hartmann, Assistenzprofessor Fakultät Psychologie der FernUni Schweiz, mit einer Aktivierung der vorderen Hirnrinde sowie mit bestimmten Frequenzen der Gehirnströme assoziiert. «Neurowissenschaftliche Methoden wie Neurofeedback und die Analyse neuronaler Netzwerke zeigen, dass es unter bestimmten Bedingungen zwar möglich ist, Gedanken oder kognitive Zustände zumindest teilweise zu lokalisieren.» Beispielsweise lasse sich durch funktionelle Bildgebung beobachten, welche Gehirnregionen bei spezifischen Denkvorgängen oder mentalen Aufgaben aktiv sind. Solche Ansätze erlaubten es, bestimmte Gedankenmuster oder Intentionen mit Aktivierungen in Regionen wie dem präfrontalen Kortex, den sensorischen und motorischen Arealen oder den emotionsverarbeitenden Arealen zu verknüpfen. «Die vollständige Lokalisierung eines einzelnen Gedankens bleibt jedoch schwierig und nach wie vor ein Rätsel, wie und wann genau ein Gedanke in unser Bewusstsein gelangt», sagt Matthias Maalouli-Hartmann.

Umstritten scheint auch, wie viele Gedanken Menschen pro Tag produzieren. Die Studie von Julie Tseng und Jordan Poppenk von der Queen’s University aus dem Jahre 2020 stellte den Mythos in Frage, dass Menschen täglich zwischen 60 000 und 80 000 Gedanken haben. Stattdessen ergab die Studie rund 6000 Gedanken pro Tag. Das Forschungsteam konzentrierte sich auf die Veränderungen der neuronalen Aktivität im Gehirn während des Denkens. Mit Hilfe von Hirnscans beobachteten sie den Übergang von einem Gedanken zum nächsten und identifizierten dabei sogenannte «Gedankenwürmer». Darunter versteht man aufeinanderfolgende Perioden, in denen wir denselben Gedanken denken.

Innerer Dialog

«Viele unserer Gedanken führen wir als inneren Dialog, also als Selbstgespräch», erläutert Dr. Jan Rauch, Dozent für Angewandte Psychologie an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW). Dabei nutzen wir Selbstgespräche, um unsere Handlungen vorzubereiten. Laut Jan Rauch haben diese Selbstgespräche meist motivationale Komponenten, die das Handeln unterstützen. Unter Stress jedoch nehmen manchmal auch negative Komponenten in den Gedanken bzw. Selbstgesprächen Überhand – im Sinne von: «Das schaffe ich nicht!» Umso wichtiger sei es, so Jan Rauch, Selbstgespräche positiv zu formulieren, um deren vorteilhafte Auswirkungen zu nutzen. Kindheitserlebnisse und Bezugspersonen haben laut ­Matthias Maalouli-Hartmann einen entscheidenden Einfluss auf die Art, wie wir denken und mit Erfolgen oder auch Misserfolgen umgehen.


Optimismus und Pessimismus

In der heutigen Forschung geht man davon aus, dass Optimismus oder Pessimismus ein relativ stabiles Konstrukt ist, das sowohl Gedanken als auch Gefühle miteinschliesst. Als Folge dessen wird auch das persönliche Erleben und Handeln beeinflusst. In diversen Studien konnte laut Jessica Ruppen vom Psychologischen Institut der Universität Zürich ein positiver Einfluss von Optimismus auf die Gesundheit gezeigt werden. Personen mit einer optimistischeren Lebenseinstellung erleben demnach weniger Stress und Burn-outs und bestätigten eine höhere Lebenszufriedenheit. Gleichzeitig treten gemäss den Studien seltener kardiovaskuläre Krankheiten auf.

«Unsere Handlungen haben ihren Ursprung in unseren Gedanken, und Gedanken wirken auf unser Befinden.»



Wer schlecht denkt, fühlt sich schlecht

Mit einer positiven Gedankenwelt steigern wir unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden – mit einer negativen Sichtweise dagegen lässt sich ganz viel verbauen. «Manche Menschen bewegen sich mit negativer Einstellung gedanklich in selbst verursachten Spiralen abwärts und sind erstaunt, dass sie immer nur unten ankommen», beobachtet die Buchautorin Edith Leibundgut und warnt, dass daraus eine wahrhafte Opferhaltung entstehen könne, die ein Leben lang anhalte, als fortdauerndes Hindernis wirke und alle möglichen Erfolge verhindere. Deshalb gilt: Wer schlecht denkt, fühlt sich schlecht und erreicht schlechte Ergebnisse; wer gut denkt, fühlt sich gut und kommt schneller und besser ans Ziel.


Positive Psychologie an der Schmerzklinik

Wie Wolfgang Dumat, Psychologe & Psychotherapeut sowie Experte für chronische Schmerzen an der Schmerzklinik Nottwil, im Interview auf der Website der Schweizer Kohortenstudie für Menschen mit Rückenmarksverletzungen, erklärt, werden Übungen der «Positiven Psychologie» angewandt, um negative Gedanken durch positive zu ersetzen. «Diese Aktivierung führt», so Wolfgang Dumat, «bei Schmerzpatient*innen oft zu einem guten Gefühl. Wenn sie dann tatsächlich ein nettes Treffen hatten, führt dies wiederum zu einer positiven Erfahrung. Wir trainieren, wie die Betroffenen überhaupt wieder zu positiven Gedanken kommen.» Langfristig plane die Schmerzklinik, die Übungen auch in die Rehabilitation Querschnittgelähmter zu integrieren.


«Wir erdenken uns unser Leben»

Die Gedanken bestimmen aber nicht nur unser Wohlbefinden, sie geben dem Leben eine Richtung und bilden somit eine Realität. Wem zum Beispiel Bildung viel bedeutet, wird sich in eine andere Richtung entwickeln als ein Mensch, der Status und Einkommen an die erste Stelle setzt oder jemand, der oder die Freiheit sucht oder Kunst und Beziehungen als Glücksbringer empfindet. «Wir erdenken uns unser Leben. Um glücklich zu sein, lohnt es sich, positiven Möglichkeiten gegenüber offen zu sein und den Fokus von hindernden Lebensumständen auf das Fördernde zu richten», rät Edith Leibundgut.


Sensible Antennen

Im Umgang mit anderen Menschen spielen Gedanken ebenfalls eine wichtige Rolle. Wenn wir Menschen gegenüber positiv eingestellt sind, sie mögen und uns über jede Begegnung freuen, so wird diese Freude, diese positive Einstellung wieder auf uns zurückwirken. Denn: Menschen haben, wie Edith Leibundgut berichtet, sensible Antennen und merken schnell, ob sie respektiert werden oder nicht. Entsprechend werden sie sich uns gegenüber freundschaftlich oder ablehnend verhalten. Das bedeutet: Wer schlecht über andere denkt, muss sich nicht über negative Reaktionen wundern. Solange jemand über seinen Partner oder seine Partnerin klagt, wird die Beziehung keinen Aufschwung erleben; solange man die Hausarbeit als minderwertig betrachtet, wird sie keine Freude bereiten – und von niemandem wird ein Lob ausgesprochen. «Wer dagegen das Kochen als Seelenhygiene und das Waschen und Putzen sowie das Einkaufen als bewegungsfördernde Tätigkeiten betrachtet, hat nicht nur mehr Lust und Freude daran, sondern unterstützt damit auch die Gesundheit und Lebensfreude», ist die Buchautorin überzeugt.


Zwei Möglichkeiten bei schweren ­Lebensereignissen

Wenn ein unerwünschtes, vielleicht sogar tragisches Lebensereignis mit voller Wucht eintrifft, reagierten Körper, Geist und Seele – und werden in Mitleidenschaft gezogen. Die Betroffenen haben nun zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Sie bewegen sich Kraft negativer Gedanken in eine Abwärtsspirale nach unten – oder sie entscheiden, dass der Schock als Tiefpunkt gleichzeitig ein Wendepunkt in einen neuen Lebensabschnitt ist. Manchmal scheint es hilfreich, die eigenen Gedanken aus Distanz zu betrachten und sich dadurch vom Ereignis zu distanzieren, so wie das in der Meditation praktiziert wird. Wenn sich die Gedanken nur noch im Kreis drehen, lohnt sich laut Edith Leibundgut eine ernsthafte Beschäftigung mit anderen Inhalten wie guten Büchern, Lerninhalten, Sport und anderen Hobbys. «Das Bewusstsein, dass wir selbst entscheiden dürfen, wie wir innerlich und äusserlich auf die Informationen reagieren, hilft uns, den Kopf über Wasser zu halten und die Situation besser zu bewältigen», erklärt Edith Leibundgut.


Dankbarkeit als stark wirkende geistige Kraft

Ein Weg, mit Schicksalsschlägen umzugehen, ist – so erstaunlich und vielleicht sogar zynisch es tönen mag – Dankbarkeit. «Wir haben ein Recht dazu, traurig, enttäuscht, wütend und verzweifelt zu sein. Dennoch ist es die Dankbarkeit, was auch immer im Leben geschehen mag, um innere Ruhe zu finden und nach Tiefschlägen positiv weiterzugehen», betont die Buchautorin. Dankbarkeit sei eine stark wirkende geistige Kraft, die uns helfe, schwierige Lebensphasen zu überstehen, wieder Fuss im Leben zu fassen und gestärkt weiterzugehen.


«Wenn wir Menschen gegenüber positiv eingestellt sind, so wird diese positive Einstellung wieder auf uns zurückwirken.»

 

Dankbarkeitsübung

Überlegen Sie sich zuerst, welche Situation in Ihrem Leben zu schlaflosen Stunden führt oder geführt hat. Versuchen Sie innezuhalten und sich damit auseinanderzusetzen, für welchen Anteil des bestehenden Problems Sie dankbar sein können. Selbst, wenn Sie böse auf einen Menschen sind – suchen Sie dennoch das Gute, und sei es noch so klein, und halten Sie daran fest. «Wenn sich beim nächsten nächtlichen Erwachen das Gedankenkarussell zu drehen beginnt, versuchen Sie, inne­zuhalten und Dankbarkeit zu finden», schlägt Edith Leibundgut vor. «Sie werden merken, wie sich der Körper entspannt, sobald Sie diese Dankbarkeit gefunden haben. Die Dankbarkeit ist ein Hilfsmittel, in den befreienden Schlaf zu finden.»
Quelle: «Muckis fürs Leben», Edith Leibundgut

 

 

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