Wenn die Welt immer dunkler wird

Meistens beginnt es schleichend. Da ist ein Gefühl der Müdigkeit, die einfach nicht mehr weichen will, Gedanken, die sich immer hoffnungsloser im Kreis drehen und ein Selbstwertgefühl, das von Tag zu Tag schwindet. Fast alle von uns haben Erfahrungen mit dunklen Episoden im Leben. Depressionen haben viele Gesichter – und es gibt ebenso viele Wege, um sich davon zu befreien.

Markus Kellenberger

Noch nie seit der Sesshaftwerdung des Menschen ging es uns in Europa materiell so gut wie heute. Noch nie konnten so viele Menschen sich nach Lust und Laune entfalten, überall hin reisen, älter werden als je zuvor, per Mausklick weltweit einkaufen, was das Herz begehrt und ihr Leben selbstbestimmt in die eigenen Hände nehmen, wie in unserer freien Gesellschaft – und noch nie waren so viele Menschen unglücklich. Rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung leidet an psychischen Problemen, wovon leichte bis schwere Depressionen und Angststörungen die mit Abstand häufigsten Krankheitsbilder sind. Das geht aus den aktuellen Zahlen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) hervor, das für Bund und Kantone regelmässig den Gesundheitszustand der Menschen in unserem Land erhebt. Da ist die Frage durchaus erlaubt: was läuft hier falsch?

Die Antwort darauf lautet: Vieles! Da gibt es familiäre Dispositionen, vererbte oder selbst erlebte Traumen, erschütternde Brüche im Lebenslauf, Stress und Überforderung im Beruf und im Beziehungsleben. Dazu kommen gesellschaftliche Faktoren. «Wir leben in einer Zeit, die von globaler Unsicherheit geprägt ist», sagt dazu Eva-Lotta Brakemeier, die an der Universität Greifswald in Deutschland das Institut für klinische Psychologie leitet und sich auf die Behandlung von Depressionen spezialisiert hat. Und auch sie bestätigt, was die jährlich erhobenen Schweizer Zahlen des Obsan belegen: Depressionen nehmen laufend zu und sind heute eine der Hauptursachen für länger dauernde Krankschreibungen. Besonders dramatisch ist, dass die Betroffenen immer jünger werden. Das zeigt sich bei jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren beispielsweise in Form von immer häufiger diagnostizierten Essstörungen, und bei jungen Männern oft als problematischer Alkohol- und Drogenkonsum.

 


Von der Verstimmung zur Depression

Wann aber ist eine Depression mehr als nur eine vorübergehende Verstimmung? Traurigkeit gehört zum Leben. Nach einem persönlichen Verlust, einer grossen Enttäuschung und während vorübergehenden Lebenskrisen fühlen wir uns alle immer wieder mal bedrückt und traurig. Aber eine sich einschleichende Depression ist mehr als das. Sie geht nicht nach einigen Tagen wieder vorbei, sondern zeichnet sich anfänglich durch eine dauerhafte gedrückte Stimmung aus, die aber auch nach einem Monat einfach nicht weichen will. Betroffene geraten in einen Strudel von Freud- und Antriebslosigkeit und eine damit einhergehende immer tiefer in die Seele sinkende Hoffnungslosigkeit, die oft gepaart ist mit grossen Schuldgefühlen und einem schwindenden Selbstvertrauen. Hinzu kommen körperliche Anzeichen wie anhaltende Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, manchmal auch diffuse Schmerzen und ein Gefühl der Dauererschöpfung. Das ist die klassische Form einer Depression.

Doch Depressionen haben noch viele andere Gesichter. Dazu gehören unter anderem sogenannte bipolare Störungen, bei denen Menschen ständig zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt hin und her pendeln. Weit verbreitet sind auch versteckte Depressionen. Gegen aussen hin funktionieren die Betroffenen weitgehend normal und wirken auf den ersten Blick sogar erfolgreich. Tief im Innern aber fühlen sie sich dauerhaft leer und verzweifelt und verstecken das nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor ihrem ganzen Umfeld. Das ist ein Zustand, der irgendwann einmal in einem für Familien und den Freundes- und Kollegenkreis nicht nachvollziehbaren Zusammenbruch oder einer dramatischen Kurzschlussreaktion enden kann.


Die Wellen schlagen ins Umfeld

Eine Depression betrifft also nicht nur den einzelnen Menschen, sondern immer auch sein ganzes Beziehungsnetz. Sie verändert Partnerschaften, Familien und Freundschaften. Partnerinnen und Partner fühlen sich dabei oft hilflos und überfordert, und Angehörige berichten nicht selten, sie stünden wie «vor einer Glaswand», unfähig, zu dem Menschen auf der anderen Seite durchzudringen, und an dem gut gemeinte Ratschläge wie «reiss dich zusammen» oder «schau, die Welt ist doch gar nicht so schlimm» einfach abprallen. Kommt dazu: Auch am Arbeitsplatz hinterlässt die Krankheit Spuren. Depressive lassen in der geforderten Leistung nach, sie zeigen Konzentrationsstörungen, fehlen immer häufiger und – das ist die wohl fatalste Folge – schämen sich dafür, womit der Kreislauf in ein noch tieferes Absinken geschlossen ist.

Besonders belastend in dieser Situation ist für die betroffenen Frauen und Männer das Gefühl der Sprachlosigkeit. Gefangen in einer erdrückenden und angstvollen Dunkelheit können sie lange nicht über ihr Problem reden und ziehen sich immer mehr zurück, aus Furcht, schwach zu scheinen oder anderen zur Last zu fallen. Die Aussage, «im Grunde war das Verstecken Teil meines Problems», hört der Psychotherapeut Irvin D. Yalom regelmässig in seinen Sprechstunden. Mit Hilfe der von ihm entwickelten Existenziellen Psychotherapie behandelt der in Kalifornien an der Stanford-Universität lehrende Professor Patientinnen und Patienten mit schweren Depressionen.


Viele Wege führen aus dem Dunkel

Yaloms Methode ist nur eine von vielen, die geeignet ist, um Depressionen erfolgreich anzugehen. Denn wie immer, wenn es um Menschen und ihre Unterschiedlichkeiten geht, gibt es nicht nur den einen Weg, um sich aus einer psychischen Notlage zu befreien. Wichtig ist, dass die Betroffenen ihre Notlage erkennen, zu ihr stehen und etwas dagegen unternehmen wollen. Da vielen an Depressionen Erkrankten der dazu nötige Antrieb aber fehlt, ist eine liebe- und verständnisvolle Begleitung – kein Drängen! – von Angehörigen der erste Schritt hin zu einer erfolgreichen Therapie. Klar ist dabei aber auch: es gibt keinen schnellen und einfachen Weg. Egal, welche Methode gewählt wird, die Behandlung einer Depression braucht Zeit, Geduld und das Wissen darum, dass Rückschläge zu erwarten sind. Hier eine Auswahl von Therapiemöglichkeiten:


Psychotherapien und Medikamente

Besonders bewährt haben sich bei Depressionen kognitive Verhaltenstherapien, psychodynamische Verfahren, die existenzielle und die interpersonelle Psychotherapie, sowie Therapien auf der Basis der Arbeit am inneren Kind. Alle diese Methoden können mit Antidepressiva begleitet werden. Diese lösen zwar nicht das Problem, verschaffen den Betroffenen aber vorübergehend Linderung von den Symptomen. Alternativ können Menschen, die zum Beispiel zu Winterdepressionen neigen, diesen mit natürlichen und rezeptfrei in Apotheken erhältlichen Johanniskrautpräparaten vorbeugen.


Ganzheitliche Ansätze

Bewegung, Yoga, Meditation, Achtsamkeit und schamanische Begleitung zeigen nachweislich positive Effekte auf Betroffene. Hilfreich sind auch sogenannte psychoaktive Massagen und Körpertherapien, die über sanfte Berührungen den Zugang zum eigenen Körper und zu Gefühlen wieder öffnen können. In vielen Fällen ist es sinnvoll, diese Methoden mit psychotherapeutischen Therapien zu ergänzen, beispielsweise mit der Akzeptanz- und Commitment-Therapie ACT, die lehrt, Gefühle nicht zu bekämpfen, sondern anzunehmen und mit ihnen zu leben. Nicht Symptomfreiheit ist hier das Ziel, sondern ein neues Verständnis von sich selbst.


Psychoaktive Substanzen

In der Schweiz laufen seit Jahren kontrollierte Psychotherapien, in deren Verlauf psychoaktive Substanzen, wie das aus einem Pilz gewonnene Psilocybin oder chemische Mittel wie LSD und MDMA (Ecstasy), eingesetzt werden. Zugelassen für diese Form der Psychotherapie sind zurzeit nur Personen mit schweren Depressionen. Die Schweizerische Ärztegesellschaft für psycholytische Therapie ist aufgrund der bisherigen hervorragenden Resultate überzeugt, dass diese Substanzen in absehbarer Zeit auch für eine breitere therapeutische Anwendung zugelassen werden (siehe «natürlich» 04/25, «Heilung und Selbsterkenntnis durch psychoaktive Substanzen»).


Gemeinsam sind wir stark

«Die Zeit heilt alle Wunden, und es gibt ein Licht am Ende des Tunnels, auch wenn wir es zunächst nicht sehen können», schreibt der britische Autor Matt Haig in seinem Buch «Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben». Darin verarbeitete er vor zehn Jahren seine eigene Erfahrung mit einer schweren Depression, und fasst in diesem Satz zusammen, was Betroffene am dringendsten brauchen: Hoffnung – und eine Gemeinschaft, die sie in dieser Zeit trägt, sei es in der Familie, in einer Therapiegruppe oder im Freundeskreis.

Gerade dieser letzte Punkt, die Gemeinschaft, wird bei der Aufzählung der möglichen Gründe für die sich ausbreitende Depressionsseuche gern unterschlagen. Wir leben in einer konsumorientierten, sich ständig schneller individualisierenden Gesellschaft, in der die Devise, «jeder ist seines Glücks eigener Schmied», mittlerweile mehr zählt als «gemeinsam sind wir stark». Das lässt immer mehr Menschen in echter oder gefühlter Einsamkeit zurück, und das ist ein äusserst fruchtbarer Nährboden für Depressionen. Ganz eindrücklich hat vor dieser Entwicklung schon der deutsche Sozialphilosoph und Gesellschaftskritiker Erich Fromm gewarnt und aufgezeigt, welche langfristigen gesundheitlichen Folgen die moderne und ausschliesslich auf Selbstoptimierung und Konsum ausgerichtete Gesellschaft für die Psyche der Menschen hat. Es lohnt sich, seine diesbezüglichen und vor rund 50 Jahren im Buch «Haben oder Sein» zusammengefassten Gedanken wieder einmal zu lesen. 

«Depression betrifft nie nur den Einzelnen, sondern immer auch sein ganzes Beziehungsnetz.»

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