Wenn die nackte Angst regiert

Eine Panikattacke ist eine emotionale Notlage. Hat sie einen einmal im Griff, dann ist fertig lustig. Wer in bestimmten Situationen immer wieder panikartig reagiert, sollte sich intensiv mit seiner Angst beschäftigen, um sie loslassen zu können. Denn so beängstigend das auch tönten mag: Der Weg zurück zur Leichtigkeit des Seins führt mitten durch die Angst.

Markus Kellenberger

Als mir vor Jahren eine Freundin von ihren Panikattacken erzählte, zeigte ich zwar Mitgefühl, dachte aber insgeheim, die übertreibt doch sicher – bis ich selbst eine hatte. Sie überkam mich bei einer kleinen Expedition ins Hölloch, diesem riesigen Höhlensystem im Muotatal. Wir krochen gerade durch einen langen, engen Gang, da war mir von einem Augenblick zum anderen, als gäbe es keine Luft mehr zum Atmen und ich glaubte zu spüren, wie der Berg über mir mich mit seinem ganzen Gewicht erdrücken wollte. Mein Puls begann zu rasen, mein Atem flatterte, kalter Schweiss floss aus allen Poren und ich wollte nur noch weg, weg, weg – doch es gab kein «weg», denn vor mir und hinter mir blockierten meine Kameraden den engen Gang. Ich schlotterte am ganzen Körper und war überzeugt davon, dass mein galoppierendes Herz gleich platzen würde. Kurz zusammengefasst: Ich durchlebte alle Symptome einer Panikattacke. Zum Glück ging die Sache glimpflich aus, denn meine Kameraden konnten mich beruhigen und irgendwann auch nach draussen schaffen.

Panikattacken, das habe ich in der Höhle gelernt, sind viel mehr als nur «ein bisschen Angst vor irgendetwas» zu haben. Panikattacken sind ein schwerwiegendes körperliches Ereignis, das sich völlig der Kontrolle entzieht. Ob nötig oder nicht: von einem Moment zum anderen wird der ganze Organismus mit Adrenalin geflutet und alles auf «Überleben um jeden Preis» eingestellt. Das einzige noch vorherrschende Gefühl ist das der reinen, nackten Todesangst, der Verstand wird dabei völlig ausgeschaltet und es gibt nur noch zwei Optionen: kopflose Flucht oder zitterndes Erstarren in Erwartung des Unvermeidlichen. Niemand will das erleben, und trotzdem können die scheinbar aus dem Nichts auftretenden Panikattacken im Verlauf des Lebens alle treffen, statistisch gesehen jeden vierten Menschen, wobei Frauen deutlich mehr betroffen sind.

Bei vielen ist das ein einmaliges Erlebnis, das häufig ohne ersichtlichen Grund eintritt, andere wiederum trifft es nach dem ersten Mal immer wieder und oft nur in bestimmten Situationen – oder allein schon in Erwartung einer solchen. Einige lernen damit umzugehen, indem sie bei ausgeprägter Flugangst konsequent mit dem Zug reisen, Menschen mit Angst vor grossen Menschenmassen gehen nicht an ein Konzert von Taylor Swift, wer sich vor Schlangen fürchtet, meidet Terrarien und ich erforsche keine engen Höhlen mehr. Das mag unangenehm sein, aber existenzbedrohend ist das noch nicht.

Wenn das Leben zur Hölle wird

Kommen solche Attacken aber regelmässig in Situationen vor, denen man nicht so leicht aus dem Weg gehen kann, dann führt das nicht nur zu massiven Einschränkungen, sondern auch zu einem gesundheitsgefährdenden Dauerstress. Fachleuchte sprechen dann von einer ernst zu nehmenden Angststörung. Fatalerweise beginnt eine solche eher schleichend. Nach der ersten Attacke folgt eine zweite, dann eine dritte … und irgendwann löst allein schon die Angst vor einer weiteren Attacke Angst aus, und die Betroffenen beginnen Situationen zu meiden, die solche emotionalen Notlagen auslösen könnten. Das kann so weit gehen, dass sie nicht mehr im Stande sind, ihrem Beruf vollumfänglich nachzugehen, sie sich auch sozial zu isolieren beginnen und im Extremfall das Haus kaum mehr verlassen.

Die Ursachen für Panikattacken sind vielfältig. Dauerstress am Arbeitsplatz und in der Beziehung können ebenso eine Rolle spielen wie eine schon länger vorhandene Depression oder ein traumatisches Erlebnis, und nur allzu oft liegen die Gründe irgendwo verborgen in der eigenen Geschichte. All diese Faktoren schaukeln sich mit der Zeit auf – bis es ohne bewusstes Zutun zu einer Panikattacke kommen kann. Und weil sich aus einer ersten Panikattacke mit der Zeit eine massive Angststörung entwickeln und sich weiter verschlimmern kann, ist es wichtig, sich so früh wie möglich Hilfe zu holen.

Augen zu und durch

Häufig braucht das Überwindung, denn viele, die regelmässig an Angstzuständen leiden, versuchen dies aus Scham so lange wie möglich vor ihrem Umfeld zu verstecken. In einer Therapie geht es in einem ersten Schritt darum zu erkennen, welche Muster hinter den Attacken stecken. Ist der Auslöser im aktuellen Leben zu suchen oder muss tiefer und häufig bis in die Kindheit hinein geforscht werden, denn Ängste können sich ein Leben lang aufbauen. Man wacht zum Beispiel regelmässig mitten in der Nacht auf und fühlt sich, obschon der oder die Liebste neben einem liegt, komplett einsam und verlassen. Oder man sollte einen Vortrag halten und bringt aus Angst zu versagen am Rednerpult kein Wort mehr heraus. Andere Auslöser wiederum sind auf Örtlichkeiten bezogen, wie enge Räume, die einem Angst einflössen. Es gibt Platzangst, Trennungsangst, Angst vor Spinnen, vor Menschen, vor Krankheiten, vor dem Leben – Ängste gibt es in vielerlei Gestalt und sie alle können sich aufschaukeln.

In der zweiten Phase einer Therapie geht es darum, sich mit genau jenen Situationen zu konfrontieren, die man aus Angst lieber meiden möchte. Das kann in einem brachialen Einmaldurchgang geschehen oder in kleinen Übungsschritten. Hier geht es um die fundamentale Erkenntnis, dass eine Panikattacke zwar Todesangst auslöst – einen aber nicht umbringt. Mit dieser allein oder noch besser in Begleitung gemachten wichtigen Erfahrung lässt sich jeder nächsten Attacke mit immer grösserem Selbstbewusstsein gegenüber treten. Denn: Der Weg aus der Angst führt mitten durch sie durch.

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