Wenn die Familiengeschichte zum Albtraum wird

Das Familienstellen ist eine Therapieform, die dabei helfen soll, familiäre Konflikte und ungesunde Beziehungsmuster aufzudecken und zu lösen. Doch wie funktioniert diese Methode, wie wirksam ist sie, und worauf sollte man achten?

Angela Bernetta, Illustration: Sonja Berger

Lea möchte ihr gut erhaltenes Motorboot verkaufen. Trotz aller Vorteile findet sich jedoch kein Käufer. In ihrer Unsicherheit fragt sie sich, warum es so schwer ist, das Boot, das einst ihren Eltern gehörte, zu veräussern. Um die Hintergründe zu verstehen, nimmt sie an einem Familienstellen-Seminar teil. Dort macht sie eine überraschende Entdeckung: Unbewusst möchte sie das Motorboot niemanden zumuten, da sie es mit einem tragischen Ereignis in ihrer Familie verbindet – dem Tod ihres Bruders, der während eines Bootsausflugs über Bord fiel und ertrank.

 

Stellvertreter*innen sollen es richten

Das Familienstellen, auch bekannt als Familienaufstellung, beschäftigt sich meist mit belastenden Themen in Familie und Partnerschaft. Dazu zählen negative Beziehungsmuster, aufgeladene Gefühle wie Trauer – wie sie Lea empfindet – oder auch Antriebslosigkeit. Zu Beginn einer Aufstellung wählt die betroffene Person, in diesem Fall Lea, Stellvertreter*innen für ihre Familienmitglieder oder andere bedeutende Personen aus ihrem Leben aus. Diese Stellvertreter*innen positioniert sie dann intuitiv im Raum (siehe Box «Ablauf einer Familienaufstellung»). Eine Person könnte beispielsweise den Vater darstellen, eine andere den Bruder. Dabei müssen sich die Teilnehmenden nicht persönlich kennen.

«Die Art und Weise, wie die Stellvertreter*innen aufgestellt werden, liefert oft wertvolle Einblicke in die familiäre Struktur», erklärt die österreichische Psychologin und Autorin Sabine Viktoria Schneider. Ein Therapeut oder eine Therapeutin leitet die Aufstellung, verfolgt Bewegungen, Spannungen und emotionalen Reaktionen der Teilnehmenden und greift gezielt ein, um die Auslöser erkennbar zu machen und Blockaden zu lösen. Durch diesen Prozess kann Lea nicht nur ihre Trauer besser verstehen, sondern auch Wege finden, sich von der belastenden Verbindung zum Motorboot zu lösen.

«Wie die Stellvertreter*innen aufgestellt werden, liefert oft wertvolle Einblicke in die familiäre Struktur.»



Mehr als eine Analyse

Das Familienstellen basiert auf den Konzepten des Psychodramas, das vom österreichischen Arzt Jakob Levy Moreno (1889–1974) entwickelt wurde. In dieser Form der Therapie stellen Betroffene ihre Probleme mithilfe von anderen Teilnehmenden auf einer Art Bühne dar, ähnlich einem Theaterstück. Der deutsche Familientherapeut und Autor Bert Hellinger (1925– 2019), einer der bekanntesten, aber auch umstrittensten Verfechter des Familienstellens, griff diese Ideen auf und entwickelte daraus eine eigenständige Methode der systemischen Therapie (siehe Box «Theoretische Grundlagen und -prinzipien»). Die Aufstellungen können sowohl in Gruppen als auch in Einzeltherapien durchgeführt werden. Oft werden dabei Figuren oder sogenannte Bodenanker verwendet, um die beteiligten Personen und deren Beziehungen dazustellen (siehe Box «Methoden der Familienaufstellung»).

Laut der Zürcher Psychologin und Psychotherapeutin Nathalie Jung dient das Familienstellen nicht nur der Analyse problematischer Familienbeziehungen, sondern ermöglicht auch emotionale und psychische Veränderungen. «Aufstellungen können alte Traumata und unbewusste Verhaltensmuster aufdecken, die das Leben und die Beziehungen eines Menschen belasten», erklärt sie. «Eine professionell begleitete Aufstellung kann dabei helfen, sich von generationenübergreifenden Belastungen zu lösen und eine neue, gesünderen Balance in familiären Beziehungen zu finden.» Laut Sabine Viktoria Schneider kann diese Methode jedoch nur dann wirksam sein, wenn die Teilnehmenden bereit sind, sich auf den intensiven und emotionalen Prozess einzulassen.

Wirksamkeit ist umstritten

«Während einige Therapeut*innen sowie Klient*innen die Methode als tiefgehend und hilfreich empfinden, wird sie von Teilen der Wissenschaft als nicht ausreichend fundiert angesehen», sagt Nathalie Jung. «Es gibt einige Studien, die auf die positiven Effekte des Familienstellens hinweisen, insbesondere im Hinblick auf das subjektive Wohlbefinden der Teilnehmenden. Aller­dings fehlen gross angelegte, kontrollierte Studien, die eine eindeutige Aussage zur langfristigen Wirksamkeit der Methode zulassen.»

Kritiker*innen bemängeln nicht nur die die fehlende wissenschaftliche Grundlage, sondern warnen auch vor möglichen Risiken bei unprofessioneller Durchführung. Laut Schneider hängt der Erfolg einer Aufstellung stark von der Qualifikation und Kompetenz des Leiters oder der Leiterin ab. «Empathie, Erfahrung und Sensibilität sind entscheidend, um die oft emotional aufwühlenden Themen sicher zu begleiten.» Sie betont, dass Familienaufstellungen nur von Fachleuten mit fundierter psychologischer Ausbildung durchgeführt werden sollten. «Eine unprofessionelle Leitung kann mehr Schaden als Nutzen anrichten», warnt sie.


Grenzen der Methode

Ein weiterer Punkt, der immer wieder Diskussionen auslöst, ist die fehlende Nachbetreuung. Viele Anbietende begleiten die Teilnehmenden zwar während der Familienaufstellung professionell, lassen sie jedoch anschliessend mit den aufwühlenden Ergebnissen ­allein. «Die emotionalen Erkenntnisse aus einer Aufstellung können sehr intensiv sein und benötigen fachkundige Nachbetreuung», weiss Schneider aus Er­fah­rung. Zudem hat die Methode klare Grenzen. «Bei schweren psychischen Störungen oder tiefgreifenden Traumata sollte Familienstellen nur ergänzend zu einer klassischen Psychotherapie angewendet werden», betont Nathalie Jung. Zudem ist diese Art emotionaler Arbeit nicht für alle geeignet, weshalb eine sorgfältige Abklärung im Vorfeld notwendig ist, um die Risiken zu minimieren.

Der Erfolg einer Familienaufstellung hängt von verschiedenen Faktoren ab: der passenden Methode, dem geeigneten Setting, der Kompetenz und Empathie der Aufstellungsleitung sowie der Bereitschaft der Klient*innen, sich vollständig auf den Prozess einzulassen. Letztlich bleibt die entscheidende Frage: Ist man wirklich bereit, sich den verborgenen Konflikten seiner Familiengeschichte zu stellen?

«Eine sorgfältige Abklärung im Vorfeld ist notwendig, um die Risiken zu minimieren.»

 

Methoden der Familienaufstellung

Im Laufe der Jahre haben sich verschiedene Methoden der Familienaufstellung entwickelt:

Klassische Familienaufstellung: Diese Methode basiert auf Bert Hellingers Theorie der «Ordnungen der Liebe». Sie geht davon aus, dass unbewusste Ordnungen innerhalb des Familiensystems das individuelle Wohlbefinden beeinflussen.

Systemische Strukturaufstellungen: Entwickelt von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd, konzentriert sich diese Methode besonders auf die Problemlösung. Sie basiert auf der systemischen Therapie und konstruktivistischen Ansätzen (siehe Box Theoretische Grundlagen und -prinzipen).

Einzelaufstellungen mit Figuren: Anstelle von Stellver­treter*innen werden hier Figuren oder Symbole verwendet. Diese Methode eignet sich für Menschen, die sich in Gruppen unwohl fühlen.

Online-Aufstellungen: In den letzten Jahren hat sich die virtuelle Durchführung von Aufstellungen etabliert, wobei Stellvertreter*innen digital oder symbolisch eingesetzt werden.


Theoretische Grundlagen und -prinzipien

Familienaufstellungen basieren auf vier zentralen Konzepten:

Systemische Therapie: Das Individuum wird als Teil eines grösseren Systems (der Familie) betrachtet. Die Abläufe ­innerhalb dieses Systems beeinflussen das persönliche Erleben und Verhalten stark.

Phänomenologie: Der Fokus liegt auf der subjektiven Wahrnehmung im Moment. Es geht darum, dass sich die familiären Abläufe im Prozess «zeigen», ohne auf kausale Erklärungen angewiesen zu sein.

Konstruktivismus: Jeder Mensch konstruiert seine eigene Wirklichkeit. Diese oft unbewussten Konstruktionen werden durch die Aufstellung erkennbar und können ver­-ändert werden.

Psychodynamische Ansätze: Hierbei spielen die Übernahme von Gefühlen und Schicksalen von Vorfahren sowie von Konzepten wie Projektion und Übertragung eine zentrale Rolle. Ein fundiertes Wissen der Aufstellungsleitenden über psychodynamische Prozesse ist entscheidend.

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