Von hüpfenden Tigern, roten Zöpfen und zappelnden Kindern

Verträumte Kinder, die nicht auf den Weg schauen und ins Wasser fallen. Rotschöpfe, die mit ihrem Charme und ihrer Energie die Welt im Sturm erobern. Clevere Detektive, deren Gedankengänge man nicht immer verstehen muss – in der Literatur finden sich immer wieder Charaktere mit ADHS. Eine kleine Übersicht.

Alina Dubach, Rebekka Affolter

Sie sind verträumt, vergesslich, können nicht stillsitzen und treffen Entscheidungen, bei denen sich die Leser:innen reihenweise an den Kopf fassen. Kann man nicht erst denken und dann handeln? Nein, eben nicht. Auf der anderen Seite: Unmaskiertes ADHS kann sich in positiven, fröhlichen und mitreissenden Eigenschaften zeigen. Was gute Voraussetzungen für (Lieblings-)Charaktere in Büchern – und Filmen – sind.

Während in moderneren Geschichten wie den «Percy Jackson»-Büchern schon mal wortwörtlich von ADHS gesprochen wird, sind es vor allem ältere Werke, die zwar keine offizielle Diagnose machen, sie jedoch in den Raum stellen. Trotzdem ist diese Repräsentation wichtig – gerade für Kinder und Jugendliche. Sich in fiktionalen Charakteren wiederzuerkennen, die eigenen Sorgen, Ängste und Charakterzüge in einem Buch, Film oder Serie zu finden, kann dabei helfen, die eigene Identität zu verstehen.


Der Namensvater

«Ob der Philipp heute still, wohl bei Tische sitzen will?» – so fängt die Geschichte an. Der kleine Philipp lässt sich aber nichts vorschreiben, auch nicht von seinem Vater. «Er gaukelt und schaukelt, er trappelt und zappelt auf dem Stuhle hin und her.» Und gibt damit der Aufmerksamkeitsstörung einen ersten Namen: Zappelphilipp. Im deutschen Raum wurde ADHS teilweise effektiv unter dem Namen «Zappelphilipp-Syndrom» bekannt. Philipps Geschichte erschien im Jahr 1845, im Bilderbuch «Der Struwwelpeter». Geschrieben wurde das Buch vom Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann. Es enthält mehrere Erzählungen, in denen das unvorsichtige Verhalten von Kindern drastische Konsequenzen mit sich bringt – bereits bei der Veröffentlichung spalteten die extremen Erzählungen die Gemüter, noch heute ist das Buch umstritten.

Der Philipp fällt vom Stuhl und reisst das ganze Tischtuch samt Geschirr und Essen mit sich – die Eltern alles andere als erfreut: «Beide sind gar zornig sehr, haben nichts zu essen mehr.» Auch Hans-Guck-in-die-Luft – eine weitere Figur aus dem Struwwelpeter, der mit ADS, dem nicht hyperaktiv, dafür sehr verträumten Verwandten von ADHS, in Verbindung gebracht wird – fällt in den Fluss, weil er ständig in die Luft schaut und die Welt um sich herum vergisst.

Entstanden sind die Erzählungen, weil Hoffmann eines Weihnachtens kein passendes Kinderbuch für seinen Sohn fand – und sich kurzerhand entschied, selbst eines zu schreiben. Daraus entstanden die zahlreichen Geschichten im Struwwelpeter. Die wohl auch den heutigen Kindern noch Angst machen, wenn sie sie bei der Grossmutter im Regal entdecken. Nicht so die nächste ADHS-Verdächtige.


Eine Welt voller Abenteuer

«2 mal 3 macht 4, widdewiddewitt und Drei macht Neune, ich mach' mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt … Hey, Pippi Langstrumpf, trallari trallahey tralla hoppsasa, hey Pippi Langstrumpf, die macht, was ihr gefällt» – viel mehr muss zu dieser Figur wohl gar nicht gesagt werden. An dieser Stelle Entschuldigung für den Ohrwurm.

Beim Brainstormen für diesen Artikel war sie der erste Charakter auf der Liste. Das rothaarige Mädchen tanzte in Europa über zahllose Bildschirme und noch viel mehr Buchseiten, verführte Kinder zu Albernheit und Schabernack. Zwei Pfeifenputzer in die Haare und schon wurde man zum Mädchen aus der Villa Kunterbunt, von der inzwischen Erwachsene noch träumen. Astrid Lindgren scheint generell ein Herz für «Zappler*innen» gehabt zu haben. Auch ihre Figur Michel von Lönneberga könnte heute mit ADHS diagnostiziert werden. Sein ungestümes Wesen und seine Wildheit passen genau in die Schublade. Wenn er etwa seine kleine Schwester Ida am Fahnenmasten hochzieht oder gleich zweimal den Kopf in die Suppenschüssel steckt (und stecken bleibt) – wer die ADHS-Thematik kennt, fühlt sich zumindest verstanden. Zugleich gilt Michel, oder besser Michels Eltern, als schönes Beispiel dafür, ein Kind so zu akzeptieren, wie es ist. Während die Dorfbevölkerung von Lönneberga über den Jungen schimpft, sind die Eltern zwar regelmässig ratlos und bestrafen sein Treiben auch immer wieder, gleichzeitig sehen sie die starken Seiten ihres Wirbelwinds und schätzen diese.


Gleich mehrere Charaktere der Autorin Astrid Lindgren
könnten heute mit ADHS diagnostiziert werden.


Eine Reise in den Hundertmorgenwald

Ein weiterer beliebter Kindheitsheld, der wohl ebenfalls in die ADHS-Sparte fällt: Tigger aus «Winnie the Pooh» (Pu der Bär). Statt über die Bildschirme zu tanzen, hüpfte und wirbelte er, ansonsten ist der orange Tiger so vorlaut wie das Mädchen mit den roten Haaren. Mit seiner kaum gezügelten Energie und seinem Herz auf der Zunge versüsste Tigger noch jeden Tag seiner Freunde wie an Buchseiten oder Bildschirmen klebenden Kindern. Allgemein werden die Plüschtiere von Christopher Robin mit psychischen Störungen in Verbindung gebracht: Pu ist das verträumte Gegenbild von Tigger, Ferkel kämpft mit Angststörungen, Rabbit wird mit Zwangsstörungen und I-Aah mit Depressionen in Verbindung gebracht. «Winnie the Pooh»-Autor A. A. Milne soll selbst aufgrund seiner Erfahrungen im Ersten Weltkrieg an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten haben. Dass er seine Sorgen und Ängste in seinem Buch verarbeitet, liegt nahe, kann aber nicht bewiesen werden.


Die verträumte Rothaarige

Was hat es nur auf sich mit ADHS und rothaarigen Menschen (oder Tigern)? Anne Shirley gilt als kanadische Pippi Langstrumpf, obwohl sie eigentlich zuerst da war. Bereits 1908 wurde die Geschichte über das verträumte Waisenkind von Lucy Maud Montgomery veröffentlicht. Die beiden Kinderbuchheldinnen teilen sich nicht nur Haarfarbe und potenzielle Diagnose: Sie gelten auch beide als feministische Protagonistinnen, geschrieben von Frauen, die ihrer Zeit voraus waren.

Im Gegensatz zu Pippi hat Anne nicht die hyperaktive Variante, sondern ADS. Sie ist verträumt, vergisst das Mehl in den Kuchen zu tun und verkauft aus Versehen die Kuh ihres Nachbarn, weil sie mit ihren eigenen Geschichten und Gedanken beschäftigt ist und schneller handelt, als sie denken kann. Stillsitzen und Nähen ist ihr ein Graus, lieber ist sie draussen und spielt mit ihren Freundinnen Szenen aus ihren Lieblingsbüchern nach. Trotzdem ist sie beliebt, eben weil sie uneingeschränkt sie selbst bleibt, für andere da ist und die Magie im Alltäglichen findet.


Verhaltensstörung oder göttliche Kraft?

Bewegen wir uns von den Kinderbüchern weg, hin zur Jugend. Percy Jackson hat tatsächlich ADHS, mit Diagnose. Denkt man zumindest am Anfang. Denn bald stellt sich heraus: Das ist nur die «irdische» Betrachtungsweise. Eigentlich ist Percy der Sohn des Meeresgottes Poseidon. Genau wie alle Halbgötter – seine Mutter ist ein Mensch – ist Percy allzeit bereit für eine Schlacht und damit nicht geschaffen fürs Herumsitzen, wie es der moderne Zeitgeist verlangt.

Der Autor Rick Riordan stiess mit seiner Idee, die ADHS-Diagnose in «Halbgöttlichkeit» zu verwandeln, nicht nur auf Begeisterung. So zementiert er in seiner vereinfachten Darstellung die Idee, dass ADHS/ADS «nur» Zappeligkeit und schlechte Konzentration bedeuten. Die zahlreichen weiteren Aspekte, die Betroffene im Alltag enorm beeinträchtigen können, werden stillschweigend ausgeklammert.


Auf den Spuren der Diagnosen

Zu guter Letzt, ein Beispiel für alle Erwachsenen unter den Leseratten. Sherlock Holmes, erdacht und geschrieben von Arthur Conan Doyle, ist eine der bekanntesten literarischen Figuren. Zahlreiche Adaptionen – auf Papier wie Bildschirm – zeugen von seiner Beliebtheit. Auch er steht unter ADHS-Verdacht. Impulsive Entscheidungen, fokussierte Momente – laut zahlreichen Theorien alles Anzeichen seiner Störung.

Die Leserschaft staunt gemeinsam mit Sherlocks Sidekick Dr. John Watson – der die Geschichten über den Detektiv erzählt – über dessen Gedankensprünge und Schlussfolgerungen, die den meisten wie einen Griff in den Himmel vorkommen. Sherlock fokussiert sich komplett auf seine Ermittlungen, lässt sich schnell von Details ablenken und ist – besonders, wenn er gerade keinen Fall zur Hand hatte – rastlos und unruhig. Auf der anderen Seite werden Aspekte wie seine sozialen Schwierigkeiten und fehlende Empathie oft mit Autismus in Verbindung gebracht.


Die Literatur und die Realität

Ob und wer – und wie viele – dieser Charaktere heute mit ADHS diagnostiziert werden würden, sei dahingestellt. Letzten Endes kann alles so interpretiert werden, wie man will. Ist das nicht der springende Punkt von Kunst und Literatur? Dass es so viele Fan-Theorien um mögliche ADHS-Diagnosen bei den Lieblingscharakteren gibt, bedeutet vor allem eines: Man will sich selbst in seinen Lieblingscharakteren sehen, um die eigene Persönlichkeit besser zu verstehen. Und letzten Endes sind all diese Figuren vor allem eines: geliebt und bewundert von einem grossen Publikum, ob mit oder ohne Diagnose. 

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