Von Hand ins Lot bringen

Kategorie: Gesundheit


Einst war die Chiropraktik eine alternative Heilmethode, die von der Schulmedizin nicht anerkannt wurde. Seit 2007 zählt die Methode zu den fünf Medizinalberufen in der Schweiz. Geblieben ist die ganzheitliche Betrachtung des Menschen.




Im Oktober 2016 hob vom Militärflugplatz Dübendorf (ZH) ein Airbus A310 ZERO-G ab. Damals führte die Universität Zürich ihren ersten Parabelflug ab Schweizer Boden zu Testzwecken durch. Der Airbus A310 erzeugte über dem Mittelmeer in bestimmten Flugzonen durch spezielle Manöver einen schwerelosen Zustand. In diesen Parabeln mit abwechselnd steilen Aufstiegen und Sinkflügen wurde während jeweils 22 Sekunden die Erdanziehungskraft überwunden. In dieser kurzen Phase wurden diverse Experimente durchgeführt. Mit an Bord war ein Team von Forschenden aus der Abteilung Chiropraktische Medizin der Zürcher Universitätsklinik Balgrist. Ihr Experiment hatte zum Ziel, Rückenschmerzen besser zu verstehen und aufgrund der Resultate neue Behandlungsmethoden zu entwickeln.


Häufig sind Rückenschmerzen die Folge von Überlastung. Expert*innen gehen davon aus, dass die Schwerkraft dabei eine wichtige Rolle spielt. Deshalb betreffen Schmerzen oft den unteren Rücken, wo vor allem im Sitzen und Stehen grosse Kräfte einwirken. Für ein besseres Verständnis von Rückenschmerzen ist es wichtig, zu wissen, wie die Last, die durch die Schwerelosigkeit hervorgerufen wird, die Stabilität des Rückens beeinflusst. Die kurze Schwerelosigkeit eines Parabelflugs bot die einzigartige Möglichkeit, die Stabilität des Rückens ohne und mit doppelter Erdanziehungskraft zu messen. Mit dem Wissen aus diesen Experimenten sollen neue Behandlungsmethoden für die Chiropraktik entwickelt werden.


Welche Effekte hat die spinale Manipulation, die in der Chiropraktik oft angewendet wird? Was passiert dabei in den Gelenken und im Nervensystem? Welche Botenstoffe werden ausgeschüttet? Was ist die optimale Dosierung für ein gutes Behandlungsresultat? Fragen über Fragen, zu denen immer noch intensiv geforscht wird. Laut Mirjam Baechler, Leiterin Lehre Chiropraktische Medizin an der Universität Zürich, sind das nur einige derzeit noch offene Forschungsthemen in der Chiropraktik. Noch nicht vollständig belegt sind zum Beispiel auch Hypothesen, die sich mit dem Effekt einer chiropraktischen Behandlung auf die inneren Organe beschäftigen.





Einst ein autonomer Heilberuf

Hinter der Chiropraktik steht ein manuelles Behandlungsverfahren. Der Begriff wird abgeleitet aus den griechischen Definitionen «cheir» (Hand) und «praktikos» (tätig). Ins Leben gerufen wurde die Chiropraktik durch Daniel David Palmer. Der Magnetopath und Gebrauchtwarenhändler lebte von 1845 bis 1913 in Kanada. Als Geburtsstunde der Chiropraktik gilt jener Zeitpunkt, als Palmer einem Hausmeister die Wirbelsäule im Halsbereich einrenkte und diesen somit von seiner Schwerhörigkeit aufgrund einer Verletzung heilen konnte.


In der Folge entwickelte Daniel Palmer 1895 eine Behandlungsmethode und bald wurde die Chiropraktik zum eigenständigen Heilberuf. In Iowa, USA, rief Palmer eine eigene Schule ins Leben. Der damals noch autonome Beruf, ohne Bezug zur Schulmedizin, entwickelte sich immer mehr zu einer anerkannten Methode. In der Schweiz ist die Chiropraktik seit den 60er-Jahren Teil der Grundversicherung; inzwischen gehört sie zu den insgesamt fünf Medizinberufen, wie Mirjam Baechler erklärt. «Nachdem die Chiropraktik in ihren Anfängen von der Schulmedizin angefeindet wurde, steht sie nun auf einer soliden wissenschaftlichen Basis.» Zu verdanken habe sie diese Entwicklung vor allem den guten Behandlungsresultaten, der wissenschaftlichen Forschung, einer starken Patientenorganisation sowie der interdisziplinären Zusammenarbeit mit anderen Medizinal- und Gesundheitsberufen.


Manuelle Verfahren, mit denen Rückenschmerzen und andere körperliche Beschwerden geheilt wurden, sind schon lange bekannt. Früheste Berichte über solche Heilmethoden sind mehrere tausend Jahre alt und haben im Alten Ägypten ihren Ursprung. Die Chiropraktik wurde dann ab Ende des 19. Jahrhunderts wie oben beschrieben als autonome Disziplin entwickelt – zu einer Zeit, in der parallel auch mehrere andere Therapieformen wie beispielsweise die Osteopathie als Gegenströme zur rein allopathischen Medizin ihre Anfänge hatten.


Das Grundprinzip der Chiropraktik hat sich seit ihrer Gründung durch Daniel Palmer nicht verändert: Es besteht aus der manuellen Arbeit an Knochen, Gelenken, Bändern und Muskeln. «Chiropraktik baut auf dem Grundprinzip auf, dass ein gesunder Körper jeweils das Gleichgewicht, die sogenannte Homöostase, in seinem Inneren wie auch gegenüber seiner Umgebung anstrebt und aufrechterhalten will. Dass Gesundheit also von innen kommt, ist der zentrale physiologische Grundsatz der Chiropraktik», sagt Thomas Vicentini, Chiropraktor und Inhaber der Praxis Vitalistica in Brig (VS). Im Zentrum der Arbeit der Chiropraktik stehe der Bewegungsapparat und seine Auswirkungen auf das Nervensystem. Die Wirbelsäule spiele dabei eine zentrale Rolle, betont Vicentini, sei es über die Verbindung zu den Wirbeln oder zum Nervensystem: «Viele Beschwerden haben ihren Ursprung in der Wirbelsäule.»


Verwandte Methoden der Chiropraktik

Physiotherapie

Die Physiotherapie befasst sich mit der Behandlung von Menschen, die infolge einer Verletzung, einer Krankheit oder einer Behinderung an Funktionsstörungen des Bewegungsapparates, des Nervensystems und der inneren Organe leiden. Auf der Grundlage von spezifischen Analysen der Ursachen der Bewegungsanomalien oder Funktionseinschränkungen werden Behandlungsmethoden abgeleitet. www.physioswiss.ch


Ostheopathie

Osteopathie ist eine Manualtherapie, die auf einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen basiert. Osteopathinnen und Ostheopathen verwenden Diagnose und manuelle Behandlungstechniken, um sogenannte «Funktionsstörungen» zu identifizieren, zu korrigieren oder diesen vorzubeugen. www.fso-svo.ch


Atlaslogie

Atlaslogie ist eine ganzheitliche, sanfte Methode. Ein zentrierter Atlas kann die Wirbelsäulenstatik und somit die Körperhaltung verbessern. Ebenso kann er Nervenkompressionen lösen, damit die Organe und Körperzellen wieder mit genügend Energie versorgt und die eigenen Heilkräfte aktiviert werden. www.atlaslogie.info


Schmerztherapie nach Liebscher & Bracht

Die Therapie arbeitet gezielt an der Schmerzursache: überhöhte Spannungen in den Muskeln und Faszien, dem elastischen Teil des Bindegewebes. Die drei zentralen Elemente der Therapie sind: Drücken, Dehnen, Rollen. www.liebscher-bracht.com


Craniosacral Therapie

Die craniosacrale Behandlungsform wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von Dr. William Garner Sutherland auf der Basis der Osteopathie (Knochenheilkunde) zur «Cranialen Osteopathie» weiterentwickelt. Die Craniosacral-Praktizierenden unterstützen die Klient*innen auf dem Weg zur Selbstheilung mit feinen manuellen Impulsen, die eine Eigenregulierung des Körpers einleiten. www.craniosuisse.ch



Die Hände als wichtigste Werkzeuge

Das Spektrum der chiropraktischen Behandlung ist sehr vielseitig. Vom Neugeborenen bis zur hochbetagten Urgrossmutter können Patient*innen in jedem Alter von dieser Behandlungsform profitieren. Zu den häufigsten Krankheitsbildern, die in der Chiropraktik behandelt werden, zählen laut Dr. Thomas Vicentini unter anderem Rückenschmerzen, Hexenschuss, Halskehre, Kopfschmerzen, Schwindel, Migräne, Sportverletzungen aber auch beispielsweise Koliken bei Babys. Störungen der Gelenkfunktion etwa werden mit dosierten mechanischen Impulsen – chiropraktische Manipulationen genannt – behandelt. Auf diese Weise können die Funktion und die Beweglichkeit der Gelenke und, damit verbunden, die normale Kommunikation des Nervensystems wiederhergestellt werden.


Die Hände des Chiropraktors sind seine wichtigsten Werkzeuge. «Wir verfügen über verschiedene manuelle Techniken, mit denen wir Funktionsstörungen und Schmerzzustände eines Gelenkes beheben können», erklärt Thomas Vicentini. Doch die therapeutischen Möglichkeiten beschränken sich nicht nur auf Manipulationen: Je nach Beschwerden kommen diverse muskuläre und reflektorische Behandlungsmethoden, Gelenkmobilisationen, kraniale Behandlungstechniken und aktive heilgymnastische Massnahmen, Traktionsbehandlungen, Ultraschall- oder Elektrotherapie zum Einsatz. An ihre Grenzen stösst die Chiropraktik laut Vicentini etwa bei schweren strukturellen Veränderungen durch starke Arthrosen oder Unfälle.


Zwei Mythen sind eng mit der Arbeit der Chiropraktik verbunden: Wenn blockierte Flächen eines Gelenks getrennt werden, entsteht ein Knacken. Viele Menschen glauben, das Gelenk selbst würde den «Knacks» verursachen. Dies ist jedoch falsch, denn durch das Trennen der Gelenkpartner voneinander entsteht ein Unterdruck im Gelenk. Bestandteile der Gelenkflüssigkeit verändern deshalb ihren Aggregatzustand und werden gasförmig; in der Folge kommt es zum schmerzfreien Knacken. Als zweiter Mythus ist die chiropraktische Behandlung oft mit der Vorstellung von Kraftaufwand verbunden. Chiropraktorinnen und Chiropraktoren erlernen in ihrem Studium gezielte Techniken, die nichts mit Kraftaufwand zu tun haben. «Obwohl es in der Chiropraktik viele standardisierte Griffe gibt, werden sie in der konkreten Anwendung individuell auf die Physiologie des Patienten wie auch des Therapeuten angepasst», erläutert Mirjam Baechler von der Uni Zürich. Dies bedeute, dass die eigene Physiologie der Therapeutin oder des Therapeuten stets auch einen Einfluss auf die Ausführung der Techniken habe.









gefragt: Dr. Mirjam Baechler








«In der Schweiz sind wir unterversorgt»


Frau Baechler, wie beliebt ist der Chiropraktik-Beruf in der Schweiz?

Derzeit arbeiten in der Schweiz etwas über 300 Chiropraktorinnen und -praktoren. Angesichts der hohen Nachfrage nach Chiropraktik von Seiten der Patient*innen sind wir in der Schweiz leider unterversorgt. Es gibt sogar Kantone ohne Chiropraktik-Praxis.


Was sind die Gründe für diese Unterversorgung?

Für den noch relativ jungen Studiengang in der Schweiz gibt es eine nur beschränkte Anzahl Studienplätze und das Studium im Ausland ist sehr teuer.


Welche Spezialisierungsmöglichkeiten gibt es nach dem Studium?

Zur Auswahl stehen Spezialisierungen in Richtung Sportchiropraktik und Pädiatrie, hinzu kommen diverse Behandlungsmethoden wie zum Beispiel Dry Needling, Neuraltherapie oder Osteopathie.


Zur Person

Dr. Mirjam Baechler ist Leiterin Lehre Chiropraktische Medizin an der Universität Zürich. www.balgrist.ch

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