Vom ersten bis zum letzten Atemzug

Immer mehr Menschen klagen über Stress und Zeitnot. Bisweilen raubt es ihnen gar den Atem. Wer regelmässig durchatmet, kommt zur Ruhe. Was sonst noch hilft, damit einem der Schnauf ob des hektischen Alltags nicht ausgeht.

Wer sich verabredet, spricht von Zeitfenstern, die irgendwann im nächsten Monat wieder offen sind. Die Befindlichkeitsfrage beantworten nicht wenige mit einem gequälten «Ich bin gestresst». Der moderne Mensch leidet zunehmend unter Stress und Zeitnot. Delia Schreiber, Psycho- und Atemtherapeutin und Autorin des Buchs «Bewusst freier atmen» verortet die Ursachen in unserer ständigen Erreichbarkeit, begünstigt durch die digitale Vernetzung, die zeitgemässe Schnelllebigkeit und den überbordenden Perfektionismus, der uns immer schneller, immer besser, immer höher vor sich hertreibt. «Früher durfte alles langsamer gehen», moniert sie. «Das schaffte Zeit, Raum und Entspannung.»

Bewusst atmen

Geschwindigkeit und Effizienz dominieren unseren Alltag nachhaltig. Nehmen diese weiter zu, geraten wir aus dem Gleichgewicht, unser Körper und unsere Seele ins Taumeln. «Schwierig wird es für den Organismus, wenn wir im Dauer-Stress und in Dauer-Zeitnot sind», bestätigt Schreiber. «Wir spannen unbewusst unsere Muskulatur an – rollen etwa die Schultern nach vorn und ziehen sie leicht nach oben.» Dies könne zu schmerzhaften Verspannungen im Nacken und in den Schultern, aber auch im Kiefer- und Zungengrundbereich führen. «Manche spannen die Pobacken an, andere krallen die Zehen zusammen, wieder andere pressen die Zunge an den Gaumen oder knirschen nachts mit den Zähnen», ergänzt sie. «Auf all das reagiert unsere Atmung. Sie wird flacher, kürzer, schneller und verzieht sich in den Brustraum.» Erschöpfung, Bluthochdruck, Atemnot, Leistungsabfall oder Konzentrationsstörungen sind nur einige der Folgen.

«Wir sind aber in der Lage, willentlich in die eigentlich unbewusst und automatisch ablaufenden Atemprozesse einzugreifen», erklärt Schreiber. «Wir können die Luft anhalten, schneller oder langsamer atmen, in die Brust, in den Bauch atmen, wir können Atempausen einlegen, den Atem vertiefen und verflachen.» Das alles nur, indem man den Aufmerksamkeitsfokus auf den Atem legt und ihn steuert. Sobald man den Fokus wieder vom Atem abzieht, atmet «es» wie gehabt von allein.


Tief einatmen

Unser Atemzentrum befindet sich im Hirnstamm und ist mit einem Netz von Nervenzellen verbunden, der Formatio reticularis. Sie reguliert Funktionen wie das Schlafen, das Wachsein und die Aufmerksamkeit. Bewusstes Atmen nutzt diese Verbindungen. «Hilfreich ist vor allem die tiefe Bauchatmung, eine Art der «entschleunigten» Atmung, wobei tief nicht heisst: viel Luft!», ergänzt die Atemtherapeutin. «Tief atmen heisst vor allem sanft und langsam tief hinab in den Bauch zu atmen und die Atemluft langsam und lange und sanft wieder abfliessen zu lassen.» Diese Art der Atmung aktiviert unseren bauchseitigen Vagusnerv, der ein wichtiger Teil unseres Entspannungssystems ist. Sobald dieser aktiviert ist, beruhigen sich unter anderem die Gefühle. Die Organtätigkeit und der ganze Hormonhaushalt werden positiv beeinflusst, die Hirnfunktionen unterstützt, die Durchblutung angeregt, die Herztätigkeit normalisiert. «Auch gibt es verschiedene Arten der Atemtherapie», sagt Schreiber. «Lungenprobleme aufgrund einer medizinischen Diagnose werden häufig von einer physiotherapeutischen Atemtherapie begleitet.» Es gibt aber auch so genannte «funktionelle» Atemprobleme, also solche, denen kein medizinischer Befund zugrunde liegt. «Hier sind beispielsweise die Atemtherapie-Ansätze von Middendorff oder Glaser sehr interessant, da sie direkt mit dem Atembild und an der Veränderung desselben in Verbindung mit Verspannungen, Haltungen, aber auch Gefühlen und Glaubenssätzen arbeiten.»


Bewusstes Atmen ist ein Baustein verschiedener Gesundheitslehren und Entspannungstechniken von der progressiven Muskelentspannung über das Autogene Training bis hin zu jahrtausendealten Praktiken wie Meditation oder Yoga. Letztgenanntes bezeichnet Atemübungen als Pranayama. Dabei atmet man beispielsweise durch die Nase, wobei das Ausatmen doppelt so lange wie das Einatmen dauert. Dass dieser Rhythmus den Atem fliessen lässt, den Körper entspannt und für klare Gedanken und Ruhe im Alltag sorgt, bestätigen Studien nicht erst seit gestern.



Interview: «Mehr Zeit gewinnt man nie.»


Zeitmanagement ist in aller Munde. Doch lässt sich Zeit wirklich kontrollieren? Wir haben nachgefragt beim Arbeits- und Organisationspsychologen Urs Blum.


«natürlich»: Immer mehr Menschen klagen über Stress und Zeitnot. Wieso rennt uns die Zeit davon?

Urs Blum: Eigentlich haben wir heute mehr Freizeit als früher. Unsere Lebenserwartung ist höher und die Sollarbeitszeit ist tiefer als vor 150 Jahren. Zudem ist viel in unserem Alltag einfacher und effizienter als damals. Die Wahrnehmung der Zeit ist allerdings individuell. Und es ist sicher ein Zeichen der Zeit, dass wir sehr eng getaktet unterwegs sind. Insbesondere diese Gleichzeitigkeit führt dazu, dass man meint, weniger Zeit zur Verfügung zu haben. Zusätzlich entspricht es der Norm, produktiv zu sein.


Seminare und Ratgeber versprechen Abhilfe. Inwieweit gewinnt man so die Kontrolle über die Zeit?

Da die Gestaltung der eigenen Zeitressourcen viel Handlungsspielraum zulässt, muss man ständig Entscheidungen treffen, wie man seine Zeit verbringen will. Deshalb macht es Sinn, sich mit den eigenen Werten und Prioritäten auseinanderzusetzen. Das kann man für sich selbst tun, oder aber mit Unterstützung, etwa in einem Kurs oder einer Beratung. Mehr Zeit gewinnt man dadurch nicht, aber mehr Handlungsspielraum und Einfluss über die Zeit.


Wieso scheitern trotzdem so viele an einem guten Umgang mit der Zeit?

Wir leben in einer Zeit, in der wir viel Ablenkung erfahren und viele Angebote, die Zeit zu verbringen, auf uns einprasseln. Sich dabei stets der eigenen Zeitressourcen bewusst zu sein, ist anspruchsvoll. Man kann sich Zeitfenster für Dinge reservieren, die einem wichtig sind. Und man kann auch mal Zeit ungenutzt verstreichen lassen. Denn niemand ist auf die Dauer nur diszipliniert.

Wie erreicht man ein gesundes und entspanntes Verhältnis zur verfügbaren Zeit?

Viel hat mit der Haltung zu tun: Wie gehe ich mit mir selbst und mit der Zeit um? Auch gibt es strengere und weniger strenge Phasen im Leben. Ich finde eine regelmässige Reflexion wichtig: Wie geht es mir aktuell? Wie viel Zeit gönne ich mir für Dinge, die mir wichtig sind? Was kann ich in den nächsten Monaten anders machen?


Wie teilt man seine Zeit im Alltag und bei der Arbeit angemessen ein?

Es gibt viele Tipps und Tricks, wie man den Alltag reibungsloser gestalten kann. Daneben ist es wichtig, dass die dringenden Themen des Alltags nicht stets die wichtigen, wie Zeit für mich, verdrängen. Das kann man bewusst planen. Ein anderer Ansatz wäre, bestimmte Verhaltensweise, für die man zu wenig Zeit hat, bewusst als Gewohnheiten aufzubauen. Indem man diese etwa an bestehende Gewohnheiten knüpft und regelmässig auszuüben versucht. So könnte man etwa ein Stück des Arbeitsweges zu Fuss gehen, anstatt Bus, Tram oder das Auto zu benutzen.



Urs Blum ist Arbeits- und Organisationspsychologe und Co-Leiter des Zentrums für Human Ressource und Corporate Learning am IAP Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW.



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