Vergessene Heilkraft

Hanf ist eine sehr vielfältig einsetzbare Pflanze mit zahlreichen positiven Eigenschaften. Die aus den Stängeln gewonnenen Fasern werden für die Herstellung von Papier oder Kleidung eingesetzt. Doch nicht nur als Nutzpflanze hat Cannabis eine jahrhundertealte Geschichte, sondern auch als Heilpflanze. Seit letztem Sommer ist nun die Verwendung von medizinischem Cannabis in der Schweiz legal.

Blanca Bürgisser

Als erste Erwähnung von Hanf als Heilpflanze wird heute oft das über 4000 Jahre alte Werk «Shennong Ben Cao Jing» von Kaiser Shen Nung genannt. Bei Shen Nung handelt es sich jedoch um eine mythologische Figur, und der Text kann nicht genau datiert werden. Trotzdem gehen Forscher*innen davon aus, dass Hanf aus dem alten China zu uns kam. Bereits Hildegard von Bingen (* 1098) erwähnte in ihrem Werk «Physica – Liber simplicis medicinae» die schmerzlindernden und verdauungsfördernden Effekte der Cannabispflanze. Den Höhepunkt erlebte der Einsatz von Hanf als Arzneimittel in Europa im 19. Jahrhundert. In Deutschland war es gängig, Hanf als Arznei zu verschreiben, beispielsweise bei Schlafstörungen oder zur Schmerzlinderung, aber auch bei Rheumatismus, Neuralgien oder Psychosen wurden Cannabispräparate verwendet.

Kriminalisierung

Die Verwendung von Cannabis als Arzneimittel fand ein jähes Ende in den 1930er-Jahren, als dessen Kriminalisierung begann. Diese startete in den USA, wo das Federal Bureau of Narcotics nach dem Scheitern der Alkoholprohibition ein neues Feindbild brauchte und dieses im Hanf fand. Das war im Interesse grosser Unternehmer wie dem Verleger William R. Hearst, der nicht nur im Besitz der grössten Zeitungskette der USA war, sondern auch mehrere Wälder und Papierfabriken besass. Da er eine rentable Papierherstellung aus Cannabis verhindern wollte, startete er in seinen Zeitungen eine massive Hetzjagd gegen Cannabis. Dabei verbreitete er unzählige rassistische Lügengeschichten, die bis heute nachwirken. Auch Pharmafirmen in Deutschland kamen die Kriminalisierung von Hanf und die sinkende Verwendung von Cannabisarzneien entgegen. Denn zur Jahrhundertwende brachte eine der grossen deutschen Pharmafirmen Heroin als nebenwirkungsarmes Schmerzmittel auf den Markt.

Fortschritte in der Forschung

Die Kriminalisierung von Cannabis schadet dem Ansehen von Hanf bis heute. Es wurde zwar weitergeforscht, und doch änderte sich das Bild von Hanf in der breiten Bevölkerung erst langsam in den letzten Jahren. Die breiten Einsatzmöglichkeiten von Cannabis haben das Interesse an Cannabisarzneimitteln verstärkt. So hat das Parlament per August 2022 die Verwendung von Cannabis zu medizinischen Zwecken legalisiert. Bisher wurden über 500 Inhaltsstoffe der Hanfpflanze entdeckt. Mehr als 100 davon können eine Auswirkung auf den menschlichen Körper haben. Manche dieser Stoffe kommen auch in anderen Pflanzen vor, nicht aber die Cannabinoide. Diese sind einzigartig für die Hanfpflanzen. Forschende konnten bisher mehr als 100 Cannabinoide nachweisen, die sich in zehn Kategorien unterteilen lassen und von denen pro Pflanze meist drei bis vier in grösserer Konzentration vorkommen.

Die bekanntesten Cannabinoide sind Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). THC ist u. a. verantwortlich für die psychische Wirkung von Marihuana und Haschisch, hat aber auch zahlreiche medizinische Eigenschaften. THC wirkt beispielsweise aufheiternd, muskelentspannend, antiepileptisch, brechreizhemmend, appetitsteigernd, antibiotisch und fiebersenkend. CBD hat anders als THC keine psychischen Auswirkungen. In hohen Dosen wirkt es gar der psychischen Wirkung von THC entgegen. Zudem wirkt CBD sedierend, entzündungshemmend, antiepileptisch, angstlösend, antipsychotisch u. v. m. Cannabis enthält weitere Inhaltsstoffe wie Flavonoide oder ätherische Öle (Terpene), die sich positiv auf die Gesundheit auswirken können. Die Forschung geht davon aus, dass die verschiedenen Inhaltsstoffe zusammen besser wirken als isoliert. Dieses Phänomen wird als Entourage-Effekt bezeichnet. Er ist einer der Gründe, warum pflanzliche Extrakte grössere Wirkung erzielen als isolierte Moleküle.

Anfang der 1990er-Jahre entdeckten Forschende mit den Endocannabinoiden den Grund für die grosse Wirkung von Cannabis auf den menschlichen Körper. Die Endocannabinoide sind Stoffe in unserem Körper, die ähnliche Funktionen ausüben wie die Cannabinoide und an denselben Rezeptoren andocken. Die Bindungsstellen, an denen die Endocannabinoide und Cannabinoide andocken, werden Cannabinoidrezeptoren genannt. Diese befinden sich v. a. auf Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark, aber auch an anderen Organen wie auf der Lunge, dem Darm oder der Gebärmutter. Je nachdem, wo sich diese Rezeptoren befinden, führt ihre Aktivierung zu unterschiedlichen Effekten wie beispielsweise der Hemmung der Schmerzleitung oder der Unterdrückung von Entzündungen. Die Endocannabinoide bilden zusammen mit den Cannabinoidrezeptoren das körpereigene Endocannabinoidsystem. Dieses ist ein biologisches Nachrichtensystem, das an fast allen Prozessen in unserem Körper beteiligt ist, so z. B. an der Regulierung des Appetits, der Wahrnehmung von Sinneseindrücken, der Koordination von Bewegungen u. v. m. Bei einigen Krankheiten produziert der Körper als Ausgleich mehr Endocannabinoide und Cannabinoidrezeptoren. Forschende gehen davon aus, dass dies einer der Gründe für die positive gesundheitliche Wirkung von pflanzlichen Cannabinoiden ist.

Vielfältige Einsatzmöglichkeiten

Medizinische Cannabisprodukte wirken bei den verschiedensten Krankheiten. Oftmals können die Cannabisprodukte in Kombination mit anderen Medikamenten verwendet werden. Beispielsweise fördert Cannabis die schmerzlindernde Wirkung von Opiaten, sodass deren Dosis reduziert werden kann. Gleichzeitig lindert Cannabis die Übelkeit erzeugenden Nebenwirkungen mancher Schmerzmittel. Cannabis hilft bei weiteren Krankheiten wie:

  • Übelkeit und Erbrechen, z. B. infolge von AIDS oder Chemotherapie
  • Spastik, Muskelverhärtung und Muskelkrämpfen, z. B. bei Multipler Sklerose
  • Bewegungsstörungen, z. B. bei Parkinson
  • Chronischen Schmerzen
  • Psychischen Erkrankungen, z. B. bei Depression oder PTBS
  • Rheuma
  • Magen-Darm-Erkrankungen, z. B. bei Morbus Crohn
  • Erhöhtem Augendruck (Grüner Star)
  • Alzheimer
  • Epilepsie
  • Asthma (Weitung der Bronchien)
  • Neurodermitis und Juckreiz
  • Diabetes

Der Vorteil von Cannabis ist, dass es oft mehrere Symptome behandelt. So lindert es nicht nur die Schmerzen und fördert den Appetit, sondern es hilft auch gegen depressive Verstimmung aufgrund der Krankheit.

Medizinisches Cannabis kann auf verschiedene Weisen eingenommen werden. Dabei gibt es diverse Alternativen zum Rauchen, bei denen keine krebserregenden Verbrennungsprodukte freigesetzt werden. So kann Hanf über den Vaporizer oder auch über Lebensmittel oder als Getränk eingenommen werden. Weiter gibt es Öle, Sprays, Zäpfchen oder Salben. Je nach Einnahmeform ist die Dosierung einfacher zu kontrollieren und die Wirkung setzt schneller ein.

 

 

«Cannabis ist mein persönlicher Lebensretter»

Interview mit Franziska Quadri, Präsidentin von MEDCAN - Medical Cannabis Verein Schweiz

Was hat sich verändert, seit der Verkauf von medizinischen Cannabisprodukten legalisiert wurde?

Die Änderung des Betäubungsmittelgesetzes ist ein Meilenstein. Medizinische Fachpersonen müssen sich nun mit dem Thema auseinandersetzen. Cannabis ist eine Therapieoption, und sie müssen nicht alle anderen Medikamente zuvor ausprobiert haben. Das haben die Betroffenen gefordert. Leider hat sich in der Praxis nichts geändert. Es gibt immer noch nur wenige Produkte, und diese sind sehr teuer. Selten werden sie von der Krankenkasse bezahlt. Das ändert sich nun täglich. Bald kommen Schweizer Cannabisblüten für die medizinische Anwendung in den Verkauf. Auch die Preise werden bezahlbarer. Das grösste Problem ist, eine Ärztin oder einen Arzt zu finden, der bei einer Therapie unterstützt. Sie haben keine Erfahrung in der Verschreibung und stehen dem Thema oft negativ gegenüber. Darum braucht es Ausbildung und mehr wissenschaftliche Evidenz.

Welche Herausforderungen bleiben?

Cannabis wird, wenn überhaupt, nur von der Krankenkasse übernommen, wenn man eine Zusatzversicherung hat. Kranken Menschen fehlt diese oft. Sie sind nicht in der Lage, ihre Medikamentenkosten zu bezahlen. Deswegen ist es wichtig, dass Krankenkassen den Nutzen von Cannabis anerkennen. In der Schweiz gibt es über 100 000 Patient*innen, die Cannabis medizinisch einsetzen – schätzt das BAG. Leider hat man nicht überlegt, wie man diese Menschen zu legalen Konsument*innen überführen kann. Solange die Preise den Schwarzmarktpreis übersteigen, ist es vielen Betroffenen nicht möglich, sich Cannabis legal verschreiben zu lassen. Für viele ist nur der Eigenanbau finanzierbar. Im Moment wird aus Cannabis ein teures Medikament gemacht. Das darf nicht sein. Der Verein MEDCAN wehrt sich gegen eine Zweiklassenmedizin.

Die hohen Kosten von medizinischen Cannabispräparaten müssen von den Krankenkassen nicht übernommen werden. Welches Vorgehen empfehlen Sie Betroffenen?

Die hohen Preise führen dazu, dass viele mit illegalem Cannabis dazudosieren. So war das nicht gedacht. Deswegen gibt es im Moment nur eine Empfehlung, die ich weitergeben kann. Informieren Sie sich über die Preise und die Produkte. Das machen Sie momentan am besten durch den Austausch mit anderen Betroffenen – zum Beispiel an einem unserer MEDCANTreffen. Sammeln Sie Informationen und Argumente, um auf Ihre Krankenkasse zuzugehen, wenn Sie mit Cannabis Erfolg haben. Wir streben an, eine Datenbank aufzubauen und wissenschaftliche Evidenz zu sammeln.

Was empfehlen Sie Menschen, denen ihre Medikamente nicht helfen und die gerne eine Behandlung mit Cannabis versuchen würden?

Erst mal ist wichtig zu sagen: Cannabis ist kein Wundermittel. Es ist aber ein Heilmittel, das bei vielen Krankheiten die Symptome bekämpft, ohne den Körper zu vergiften. Das ist für viele chronisch Kranke ein Segen. Es ist entzündungshemmend, schmerzlindernd, hilft beim Schlafen, unterstützt beim Fokussieren, heitert die Psyche auf u. v. m. Es lohnt sich, Cannabis als Medizin auszuprobieren. Sprechen Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt darauf an. Als Präsidentin des Vereins MEDCAN kann ich Ihnen von den vielversprechenden Rückmeldungen unserer Mitglieder erzählen. Viele konnten ihre Symptome lindern und ihre Lebensqualität erhöhen.

Was ist der Hauptvorteil von Cannabis gegenüber anderen Medikamenten?

Ich kann nur von meinen eigenen Erfahrungen sprechen, aber verglichen mit anderen Medikamenten hat Cannabis moderate Nebenwirkungen. Zudem hat es keinen Einfluss auf meine Verdauung. Es half mir sogar, wieder Gewicht zuzulegen und meine permanente Übelkeit zu überwinden. Auch kann ich Cannabis individuell einsetzen. So nehme ich an einem guten Tag weniger und an einem schlechten Tag mehr. Und last but not least möchte ich die unterschiedlichen Cannabissorten erwähnen. Diese haben eigene Pflanzenprofile und wirken verschieden. Manche beruhigen, andere sind aktivierend und verstärken positive Gefühle. Es heisst also nicht, dass Cannabis Ihnen nicht hilft, wenn Sie nur eine Sorte und eine Einnahmeform ausprobiert haben. Es braucht Zeit und Geduld, bis man das Passende findet. Dieses Wissen muss bei den Ärzt*innen ankommen. Dann kann Cannabis als sicheres Langzeitmedikament eingesetzt werden.

Gibt es Krankheiten, bei denen Sie von Cannabis abraten?

Cannabis hat wie jedes Medikament Nebenwirkungen. Starten Sie mit wenig und erhöhen Sie die Dosierung langsam. In Kombination mit pharmazeutischen Medikamenten kann Cannabis deren Wirkung verstärken. Es senkt den Blutdruck und kann Schwindel verursachen. Das kann bei älteren Menschen ein Problem sein. Die Nebenwirkungen sind aber moderat, und man gewöhnt sich schnell daran. Besprechen Sie sich immer mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt. Gerade blutdrucksenkende oder blutverdünnende Mittel in Kombination mit Cannabis sind nicht unbedenklich. Wichtig ist die Qualität. Verunreinigtes Cannabis ist auch bei gesunden Menschen lebensgefährlich.

Möchten Sie noch etwas ergänzen?

Leider herrscht immer noch eine grosse Unsicherheit bei allen Parteien, wie Cannabis verschrieben werden kann. Der Verein MEDCAN ist im Moment eine der wenigen Anlaufstellen für Patient*innen. Wir sammeln Informationen und unterstützen die Betroffenen auf ihrem Weg zu einer legalen Therapie. Cannabis ist mein persönlicher Lebensretter. Es hilft mir, meine schlimmen neuropathischen Schmerzen und die spastischen Krämpfe jeden Tag auszuhalten. Deswegen setze ich mich dafür ein, dass andere kranke Menschen diese Möglichkeit ausprobieren dürfen.

www.medcan.ch

Ist Ihnen das Thema auch wichtig?

Dann werden Sie Mitglied. Das Ziel von MEDCAN Ziel ist, dass jede*r Cannabis als Medikament einsetzen kann und die Kosten von der Krankenkasse bezahlt werden.

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