Verführe mich!

Kategorie: Gesundheit


Guter Sex will gelernt sein. Mit Geduld. Achtsamkeit und gefühlvollem Erforschen können wir unser volles sexuelles Potenzial entwickeln.




Sexualität ist komplex und facettenreich. Und guter Sex fällt uns nicht einfach so in den Schoss! Erfüllende Sexualität und das Erleben von Begehren setzt die Kenntnis des eigenen Körpers und seiner Reaktionen sowie seiner eigenen sexuellen Persönlichkeit voraus. Der Körper und das Geschlecht sollten «bewohnt» werden. In Kontakt mit unseren sexuellen Bedürfnissen, Wünschen und Gefühlen zu sein, ist auch hierbei von zentraler Bedeutung. «Ich treffe immer wieder auf Menschen, die sich dieser scheinbar banalen Tatsache nicht bewusst zu sein scheinen. Die Konsequenz ist, dass sich bestimmte Gewohnheiten und Körperhaltungen verfestigen, die für ein lustvolles Sexualleben nicht förderlich sind», sagt die bekannte Sexualtherapeutin Susanna-Sitari Rescio.


Wir lernen beim Sex, uns mit unserem Körper auszudrücken und mit ihm und über ihn zu kommunizieren. Neben dem angeborenen Erregungsreflex – das Genital reagiert auf bestimmte Reize mit verstärkter Durchblutung – hat jeder Mensch einen einigen Erregungsmodus erlernt. Wird der oder die eine durch hohe Körperspannung, Druck, «Dirty Talk» oder Sextoys erregt, stehen andere eher auf zärtliche Berührungen mit Federn und Tüchern oder auf Rollenspiele.

Gemäss Rescio haben viele Menschen mit Sexualproblemen oft einen eingeschränkten Erregungsmodus erlernt: «Die Erregung wird mit einer hohen Anspannung aufgebaut, der Höhepunkt relativ schnell und durch mechanische Bewegungen erreicht – das ist ein Modus, in dem weniger Genuss möglich ist.» Was lustvoller Sex hingegen brauche, sei Zeit und Spiel mit den Ressourcen des Körpers. Verspielte Bewegung statt Verspannung. «Der Orgasmus ist dabei nicht immer ein Muss.»



Das volle Potenzial kosten

Ein Modus mit vielen Variationen wie verschiedenen intimen Berührungsqualitäten, Bewegungen im Becken, Brustbereich und Kopf, dynamischer Spannung statt Verspannung und einer tieferen Bauchatmung ist auch «partnerkompatibler». Männer, die einen mechanischen Modus gelernt haben, können sehr effektiv zum Höhepunkt kommen; Frauen in diesen Modi haben es meist schwerer, durch den/die Partner/-in zum Höhepunkt zu kommen. Rescio betont: «Wenn wir unseren Modus erweitern, ist der Fokus nicht mehr nur auf den Höhepunkt gerichtet, sondern auf eine lustvolle Reise zwischen dem Erregungs- und dem Orgasmusreflex.»


Aber auch dann, wenn Männer und Frauen einen Orgasmus erleben, erforschen sie meistens nicht ihr ganzes sexuelles Potenzial. Die Ressourcen des Körpers bleiben oftmals unentdeckt. Dass der Sex mit der Zeit bestenfalls «öde» und mechanisch wird oder derart unbefriedigend, dass man sich trennt – Sex ist immer noch ein Hauptgrund für Trennungen –, scheint nur eine logische Konsequenz zu sein. Rescio: «Das Ziel in meiner Arbeit ist es, Menschen zu unterstützen, das ganze Potenzial ihres Körpers zu entdecken und alle Ressourcen zu nutzen. Das eigene sexuelle Profil wird klarer, der Horizont erweitert. Aus einer veränderten inneren Position entspringt dann zudem die Sicherheit, selbst bestimmen zu können.»


« Über unsere Gefühle kommen wir in Kontakt mit unseren Wünschen und Bedürfnissen. »




Wenn die Lust erblüht

Sich beim Sex mehr zu bewegen, die Anspannung aufzuweichen, den Atem fliessen zu lassen und die Rhythmen der Bewegungen und der Berührungen zu variieren – all dies können Schlüssel sein, um «die Blüte der eigenen Lust zum Erblühen zu bringen», wie Rescio es ausdrückt. Eine liebevolle und wertfreie Wahrnehmung dessen, was momentan da ist, sei hierfür eine wichtige Voraussetzung. Sie macht mit Klienten deshalb diverse Achtsamkeitsübungen, die die Wahrnehmung für den eigenen Körper verbessern; zu Hause forschen die Klienten dann weiter. Die Übungen reichen von Atem-Wahrnehmungsübungen, Körperreisen, der Wahrnehmung von Gedanken und ihrer jeweiligen Wirkung auf den Körper, der Körperhaltung und ihrer Bedeutung sowie der Wahrnehmung von Körperspannung bis hin zu regelmässiger Selbstbefriedigung.


Achtsamer Sex heisst erst einmal, wirklich zu erfahren, was im Moment in Geist, Körper und Seele passiert, und zwar, ohne dies zu bewerten. Das Bewerten geschieht automatisch, denn oft «funktioniert» unser Körper nicht in der Art, wie wir es wollen, oder die sexuelle Begegnung ist nicht so, wie wir es uns erträumt haben. Hilfreich ist es dann, mit einer möglichst wohlwollenden Haltung sich selbst gegenüber zu versuchen, anzunehmen, was ist, anstatt zu hadern oder sich vorzustellen, was sein könnte. Es geht dabei stets um die Qualität der Wahrnehmung des Moments, indem der Geist sich auf das, was gerade passiert, fokussiert. Das Denken lässt so langsam nach und ein wertfreies Fühlen kann entstehen.


« Die Genitalien sind der Resonanzboden des Gehirns. »

Arthur Schopenhauer (1788–1860)



Immer schön langsam

Sexualität ist ein Lernprozess. Die achtsame Wahrnehmung hilft, aufzuspüren, was einer erfüllteren Sexualität im Wege steht. Somit hält Achtsamkeit ein weiteres Geschenk bereit, nämlich die Möglichkeit, etwas zu verändern. «Achtsamkeit ist nicht einfach passive Hingabe und Akzeptanz, sondern ein innerer Zustand höchst gelassener Wachsamkeit, die uns erlaubt, in jeder Situation die richtige Entscheidung zu treffen. Das kann bedeuten, die Dinge so zu lassen, wie sie sind, oder aber etwas daran zu ändern», sagt Rescio. Ein weiterer Rat ist, dem Gegenüber mit einer «ergebnisoffenen Absicht» zu begegnen: «Ich komme mit einem Wunsch, der mir klar ist und den ich transparent mache. Das Gegenüber kann sich darauf einstellen. Jedoch bleibt es offen, wie wir die Begegnung gestalten oder wie sie endet.»

Achtsamkeit beim Sex zu lernen, heisst vor allem auch, sich Zeit zu nehmen; den Rhythmus zu verlangsamen. Diese Entschleunigung hilft, unsere Gefühle wahrzunehmen, denn sie brauchen Zeit, um spürbar zu werden. Über unsere Gefühle – nicht mit Denken – kommen wir in Kontakt mit unseren Wünschen und Bedürfnissen und können sie schliesslich erfüllen.

Ein grösseres Zeitfenster entsteht zwischen Reiz und Reaktion, was es dem Menschen erlaubt, Neues auszuprobieren. Mit mehr Übung erkennt man schneller den eigenen Zustand – und kann mit verschiedenen Rhythmen sowie Tempi spielen. Ausserdem braucht ein Körper, der sich viele Jahre lang an Schnelligkeit und Anspannung gewöhnt hat, ausreichend Zeit und Geduld für ein «Reset».

All das erfordert Mut: Mut, sich selbst zu entdecken, sich seiner innigsten Wünsche, der Glaubensmuster und Scham bewusst zu werden, und Mut, dies dann auch dem Partner respektive der Partnerin zu offenbaren. Wesentlich in Partnerschaft und Sexualität, so Susanna-Sitari Rescio, sei es, zu sprechen. Jedoch spricht die Sexualtherapeutin lieber vom «Verführen»: «Ich nutze meine Verführungskünste, um dich für mein Projekt – Sex oder etwas anderes – zu überzeugen. Und zwar so, dass du Lust hast, mit mir dieses Projekt zu ermöglichen.» //



Übung

Achtsamer Sex – das Becken fühlen


Eine Basisübung in Sachen «Achtsamer Sex» besteht in der bewussten Wahrnehmung der Beckenregion. Als Einstimmung können wir mit einem sogenannten Bodyscan anfangen. Dabei spüren wir den ganzen Körper über verschiedene Sinnesempfindungen wie Wärme, Kühle, Druck, Kitzel und Ähnliches. Anschliessend verweilen wir mit unserer Aufmerksamkeit beim Becken. So gehts:



●  Setzen Sie sich auf einen Stuhl, am besten auf die Kante, sodass Sie Ihre Beine gut spüren können.

●  Legen Sie Ihre Hände auf die Hüfte und erfühlen Sie die gesamte Knochenstruktur des Beckens. Verweilen Sie einige Atemzüge lang: Erfühlen Sie dabei die Hüftknochen links und rechts, hinten das Darmbein, auch links und rechts, wandern Sie dann Richtung Pofalte. Kehren Sie zurück zu den Hüftknochen und wandern Sie mit Ihren Fingern nach unten zu Kreuz- und Schambein.

●  Stehen Sie nun auf und trommeln Sie mit Ihren Fingern einige Minuten lang über den ganzen eben abgetasteten Bereich.


●  Halten Sie inne und spüren Sie der Wirkung nach. Wie hat sich Ihre Wahrnehmung verändert?


●  Fangen Sie nun an, das Becken in alle Richtungen zu bewegen.


●  Stellen Sie dann die Füsse weiter auseinander, beugen Sie Ihre Knie und setzen Sie die Bewegung des Beckens einige Minuten lang fort.


●  Halten Sie inne und spüren Sie der Wirkung nach. Wie hat sich Ihre Wahrnehmung nun verändert ?



Buchtipps


Susanna Sitari-Rescio «Sex und Achtsamkeit. Sexualität, die das ganze Leben berührt» Kamphausen 2014, ca. Fr. 22.–


Susanna Sitari-Rescio «Sinnliche Intimität» Kamphausen 2020, ca. Fr. 26.–


Diana Richardson «Slow Sex. Zeit finden für die Liebe» Integral 2011, ca. Fr. 28.–


Barry Long «Sexuelle Liebe auf göttliche Weise» MB-Verlag 2004, ca. Fr. 25.



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