«Unter dem Strich lebe ich ganz gut mit ADHS»

Ein Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) begleitet Betroffene ein Leben lang. Was in der Kindheit als Störung und Schwierigkeit wahrgenommen wird, kann im Erwachsenenalter auch zur Stärke werden. Ein persönlicher Erfahrungsbericht zeigt, wie aus Herausforderungen Chancen entstehen – und wie sich ADHS sogar als Gewinn erweisen kann.

Samuel Krähenbühl

Als ich 1983 in den Kindergarten kam, kannte man den Begriff Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) noch nicht. Damals sprach man vom Psycho-Organischen Syndrom (POS). Ich besuchte ganz normal den Kindergarten, hatte aber oft grosse Mühe, stillzusitzen – und vor allem, meine Ideen und Überlegungen nicht sofort auszusprechen. Meine Kindergärtnerin bemühte sich sehr, ein Umfeld zu schaffen, in dem ich einigermassen ruhig sitzen und zuhören lernen konnte. Wenn ich mich eine Woche einigermassen unauffällig verhalten hatte, schenkte sie mir jeweils kleine Holztiere. Diese habe ich übrigens heute noch, und ich liebte sie damals sehr.

In der 1. Klasse ging es ähnlich weiter. Auch dort fiel ich manchmal auf, aber die Lehrerin bemühte sich sehr um mich, und so konnte ich mich einigermassen in den Unterricht integrieren. Leistungsmässig hatte ich keine Probleme. Ich lernte rasch lesen, schreiben und rechnen. In der 2. und 3. Klasse wurde es schwieriger. Sicher, ich war herausfordernd. Aber die damalige Lehrkraft hatte wohl auch nicht den richtigen Zugang zu mir und meiner Energie.

Meine Eltern – insbesondere meine Mutter – verlangten schliesslich, dass ich für eine Abklärung auf die kantonale Fachstelle der Erziehungsberatung ging. Meine Klassenlehrerin war davon nicht begeistert, aber meine Eltern setzten sich durch. So kam ich zu einer Psychologin, die mich abklärte. Ich fand es bei Frau Müller – so hiess die Psychologin – lustig. Sie hatte viele Spielzeuge und ihre Tests nahm ich gar nicht als solche wahr. Ich verstand damals kaum, worum es ging. Am Ende kam die Diagnose: Ich hätte ein leichtes POS – was heute als ADHS mit Ausprägung «Überaktivität» bezeichnet würde.

«Mit der richtigen Organisation kann ADHS
von einer
Last zu einer Stärke werden.»


Diagnose erstellt, aber die Schule reagierte nicht

Ich selbst konnte mit dieser Diagnose herzlich wenig anfangen. Hatte ich eine Krankheit? War ich komisch? Ich nahm es zur Kenntnis, kümmerte mich aber nicht weiter darum. Und noch etwas ist interessant: Obschon ich bereits in den Achtzigerjahren als Kind eine ADHS-Diagnose erhalten habe, habe ich bis auf den heutigen Tag kein einziges Mal das berühmte ADHS-Medikament Ritalin eingenommen. Damals kam niemand auf die Idee, mir das zu verabreichen.

Meine weitere Schulzeit war trotz eigentlich vorhandener ADHS-Abklärung eine Herausforderung – für mich wie für meine Lehrkräfte. Es gab Lehrerinnen und Lehrer, mit denen ich gut zurechtkam, mit anderen weniger. Ich wusste viel und sagte es auch. In der Sekundarschule diskutierte ich oft mit meinen Lehrpersonen – manchmal zu lange. Das führte häufig dazu, dass ich aus dem Unterricht vor die Türe gestellt wurde. Aus heutiger Sicht muss ich diese Lehrkräfte vielleicht auch ein wenig in Schutz nehmen. Damals hatte man keine Ahnung, wie mit solchen Diagnosen umzugehen war. Ich muss allerdings auch anmerken, dass ausgerechnet eine ältere Lehrerin, die während meiner Schulzeit pensioniert wurde, mich gut unterstützen konnte. Und mich kein einziges Mal vor die Türe stellte. Sie prägte mich auch insofern, dass sie mit uns einen äusserst strukturierten Unterricht abhielt. Und viel forderte. In meiner ersten Französischprobe in der 5. Klasse schrieb ich gleich eine 6. Bei der zweiten dachte ich, ich sei ebenfalls gut vorbereitet. Ich war dann sehr enttäuscht, dass ich nur die Note 3 zurückerhielt. Allein in einem Satz hatte ich fünf Fehler. Ich kann den Satz der Übersetzung heute noch auswendig: «Derrière le canapé, il y a cinq souris grises.» Sie korrigierte streng. Und lenkte meine Aufmerksamkeit darauf, dass die komischen «Accents» eben doch ihre Bedeutung und Wichtigkeit hatten. Wir mussten jedes neue Französischwort jeweils zehn Mal auf Französisch und daneben auf Deutsch schreiben. Aus heutiger Sicht mag man das altmodisch finden. Aber für Kinder mit ADHS sind solche klar strukturierten Vorgaben sehr hilfreich. Beliebigkeit führt bei ihnen oft zu Überforderung.

Das Klassenfoto aus der 1. Klasse unseres Autoren im Bild ganz rechts.
Mit der Lehrerin (Bildmitte) hat er heute noch regelmässig Kontakt.


Lehrer manchmal bloss gestellt

Bei anderen Lehrern – ja, ich hatte vor allem mit männlichen Lehrern Probleme – hingegen sass ich oft buchstäblich tagelang vor der Türe. Sie hatten mich ziemlich auf der «Latte». Weil ich sie manchmal korrigierte, wenn ich etwas besser wusste. Mit meinem Geographielehrer hatte ich beispielsweise einmal einen Streit, weil er im Unterricht behauptete, dass der Gotthard-Eisenbahntunnel – also der alte Scheiteltunnel – von Andermatt aus in den Berg gehe. Ich konnte es nicht unterlassen, ihn vor der ganzen Klasse etwas blosszusellen, indem ich ihn korrigierte und darauf hinwies, dass der Tunnel von Göschenen nach Airolo führte. Trotz häufigen Unterrichtsausschlüssen gelang es mir, bei Tests einigermassen gut mitzuhalten. Und irgendwie schaffte ich es sogar ins Gymnasium.

Dort änderte sich die Situation. Ich wurde älter, und meine Lehrkräfte behandelten uns zunehmend als Erwachsene, was ich sehr schätzte. Disziplinarisch hatte ich keine Probleme mehr. Zu Beginn hatte ich jedoch noch immer Mühe mit dem Lernen. Hausaufgaben waren für mich ein grosses Problem. Teilweise konnte ich mich auch im Unterricht schwer konzentrieren.

Wenn mich ein Thema aber interessierte, konnte ich sehr aufmerksam folgen und sog den Stoff regelrecht auf – dann musste ich kaum lernen. Musste ich hingegen Vokabeln oder Mathematikübungen auswendig lernen, fiel mir das enorm schwer. Meine Mutter verzweifelte schon während meiner Volksschulzeit regelmässig, weil ich ewig brauchte, bis ich überhaupt mit dem Lernen begann. Wenn ich dann endlich anfing, ging es allerdings meistens ziemlich schnell.

Im Gymnasium musste man sich organisieren und kontinuierlich arbeiten. Damit hatte ich anfangs Mühe und mein Zeugnis war nach eineinhalb Jahren so schlecht, dass meine Promotion gefährdet war. Insgesamt hatte ich nicht weniger als vier ungenügende Zeugnisnoten. Irgendwie gelang es mir dann doch, mich zu organisieren und mich besser fürs Lernen zu motivieren. In Englisch konnte ich zum Beispiel meine Note innerhalb eines Semesters von einer 3 auf eine 5 verbessern. Nach und nach lernte ich, meine Zeit einzuteilen und mich auf das Leben einzustellen. So schaffte ich am Ende eine respektable Matura.


Studium und Erwachsenenalter

Im Studium lief es dann erstaunlich gut. Die Themen interessierten mich, und ich war plötzlich effizient, weil ich Strategien entwickelt hatte, wie ich Aufgaben anpacken und sehr rasch erledigen konnte. Nachdem ich meine inneren Motivationskämpfe beim Anpacken von Aufgaben überwunden hatte, erwies sich meine rasche Auffassungsgabe und meine Fähigkeit, Zusammenhänge ebenso rasch formulieren zu können, als Vorteil. Meine Effizienz stieg gewaltig. Einmal schrieb ich beispielsweise eine Seminararbeit von rund 80 Seiten innerhalb nur eines Monats – und erhielt eine sehr gute Note.

In dieser Zeit war mir gar nicht mehr bewusst, dass ich ADHS hatte. Als Kind hatte man mir gesagt, POS «verwachse» sich. Doch das stimmt nicht. ADHS prägt mich bis heute. Mittlerweile erlebe ich es aber oft als Chance: Wenn ich eine Aufgabe angehe, kann ich unglaublich effizient sein. Ich habe gelernt, mich gut zu organisieren. Ich bin selten im Rückstand und weiss, wie ich Aufgaben strukturieren muss. Mit strikter Zeitplanung und den richtigen Settings kann ich mich sehr gut vertiefen. Ja, ich darf sagen, dass ich mittlerweile sehr gut organisiert bin und selten eine Aufgabe versäume.


Chancen und Herausforderungen

Zweifellos ist ADHS eine spezielle Disposition. Menschen mit ADHS unterscheiden sich in gewissen Punkten von anderen – besonders in der Kindheit fällt das stark auf. Diese Kinder haben Mühe, sich zu konzentrieren, sie brauchen Ruhepausen, Auszeiten und klare Strukturen. Und vor allem Bezugspersonen, die sachlich und verständnisvoll mit ihnen umgehen.

Aber es gibt auch Chancen. Menschen mit ADHS können unglaublich kreativ sein. Man hat eigentlich den ganzen Tag «Kopfkino» – wie ein dauerndes Puzzlespiel, bei dem man immer wieder neue Möglichkeiten und Ideen kombiniert: Was würde noch zusammenpassen? Was könnte man noch machen? Wie liesse sich ein Problem angehen? Dieses Kopfkino läuft rund um die Uhr, besonders intensiv bei starken Eindrücken. Das erklärt wohl auch, warum Menschen mit ADHS auch als Erwachsene Ruhepausen brauchen und leiden, wenn die Dauerberieselung und die Impulse zu stark werden. Gleichzeitig neigen Menschen mit ADHS dazu, sich zu verzetteln – zu viele Projekte gleichzeitig in Angriff zu nehmen. Im Erwachsenenalter kann das dazu führen, dass man sich überfordert, zu viel auflädt und damit in Stress oder gar in eine Burn-out-Gefährdung gerät.


Persönliches Fazit

Ich weiss nur, wie es ist, mit ADHS zu leben – nicht, wie es ohne wäre. Unter dem Strich lebe ich ganz gut damit. Ich sehe grosse Vorteile und Chancen: Man ist kreativ, agil, hat Ideen, ist offen für Menschen und interessiert am Leben. Gleichzeitig muss man die eigenen Schwächen sowie die Gefahr von Überreizung und Überbeanspruchung kennen. Entscheidend ist, die passenden Settings zu finden, um die eigene Kreativität in Bahnen zu lenken. Dann kann ADHS sogar ein Gewinn sein.

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