Singen macht nicht nur froh – es ist wohl eines der einfachsten Antidepressiva. Denn es stimuliert unseren Körper und Geist. Es sollte zur Prophylaxe und Heilung eigentlich längst ärztlich verordnet werden.
Lioba Schneemann
Morgens im Bad eine kleine Melodie vor sich hin summen. Beim Kochen oder beim gemeinsamen Wandern ein beschwingendes Lied auf den Lippen, ein Schlaflied für die Kleine oder das wöchentliche Singen im Chor – egal, wo und was, ob alleine oder gemeinsam: Singen ist gesund für Körper, Geist und Seele. Die unglaublichen Wirkungen des Singens sind allerdings weniger bekannt – darum klären wir auf.
Bessere Atmung
Schaut man sich an, was durch das Singen mit uns geschieht, wird klar, warum es so vielfältige, positive Auswirkungen (ausser vielleicht für die Mitbewohner*innen) hat. Es fängt mit der Atmung an: Da man für längere Strophen ausreichend Luft benötigt, muss man lernen, tiefer zu atmen. Wer singt, verlängert also automatisch das Ausatmen, damit der Ton gehalten werden kann. Zugleich wird das Einatmen variiert, je nachdem, ob ein schnelles oder langsames Lied gesungen wird. Automatisch benutzt man deshalb beim Singen die tiefere, gesündere Bauch-Flanken-Atmung anstatt der flacheren Brustatmung. Beim tiefen Einatmen senkt sich das Zwerchfell und massiert innerlich die Organe. Es erfolgt eine «innere Darmmassage», was die Verdauung stimuliert. Andererseits bewegt sich dann beim wirklichen Ausatmen das Zwerchfell wieder nach oben, sodass ein gewisser Sog entsteht, der das Herz entlastet. Das tiefe Atmen führt weiterhin dazu, dass auch die unteren Teile der Lunge gut belüftet werden. Die Sauerstoffsättigung wird so erhöht, was wiederum den Kreislauf in Schwung bringt.
« Singen Sie von Herzen ein Lied,
und Ihre Stimmung wird sich heben! »
Stärkung des Herzens
Singen ist aus vielen weiteren Gründen reinste Medizin. Es bewirkt eine Stärkung des Herzens, es kurbelt die Darmtätigkeit an und reguliert den Blutdruck. Daneben fördert Singen eine bessere Durchblutung von Hirn und Organen und fördert die Konzentrationsfähigkeit und das Gedächtnis. Zudem ist Singen reiner Hochleistungssport und darum auch für weniger Bewegungsfreudige eine gute Alternative für die eigene Fitness.
Wer singt, soll zudem weniger aggressiv sein, denn es vertreibt rasch allen Stress und Ärger. Es stimmt wirklich, wie alle selbst testen können: Singen Sie von Herzen ein Lied, auch wenn es Ihnen nicht gut geht, und Sie werden bemerken, wie sich die Stimmung hebt! Der Effekt kann unter anderem mit den Schwingungen des Körpers erklärt werden, die entstehen, weil die Stimmbänder beim Singen in Schwingungen versetzt werden. Das wirkt sich auf den ganzen Körper aus. Wir werden so ganz und gar beschwingt und fühlen uns auch so!
Der Mensch ist Musik
Gertraud Berka-Schmid, Professorin an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien, beschreibt den Menschen als Klang-Rhythmus-Melodie-Farblicht-Wesen und nicht nur als Körper-Geist-Seele-Wesen (in www. medizinpopulaer.at) «Wir haben uns in den in der Natur bereits längst vorhanden gewesenen musikalischen Strukturen entwickelt – das waren Klang, Rhythmus, Melodie, also die Grundlage für Musik.» Da der Mensch ein Teil der Natur ist, kann er auch nichts anderes sein als Musik. Wenn wir unser Ohr an unsere Brust legen, hören wir das tanzende Herz: Rhythmus und Klang, sogar Melodie sei da. Sprechen, vor allem Singen, sei im Grunde gestaltetes, verlängertes Ausatmen.
«Das Singen ist zuerst der innere Tanz des Atems, der Seele, aber es kann auch unsere Körper aus jeglicher Erstarrung ins Tanzen befreien und uns den Rhythmus des Lebens lehren», sagte auch der Geiger und Dirigent Yehudi Menuhin. Mit dem Körper als ureigenstem In-strument und der Stimme als hörbarem Ergebnis dieses Instruments musizierten wir, so Berka-Schmid. Und um uns in Balance zu halten, der Fülle an Eindrücken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen, benutzten wir die Stimme. Unsere menschliche Sprech- und Singstimmen seien in Verbindung mit der Gestik die Ausdruckmöglichkeiten schlechthin. «Ich kann so viel loswerden beim Singen, so viel Ärger, so viel Unangenehmes und Aufgestautes. E-motio heisst ja auch Herausbewegen.» Jede Emotion ist an ein bestimmtes Atemmuster geknüpft. Wenn wir aufgeregt sind, atmen wir anders als bei Traurigkeit. Damit werde klar, warum es so wichtig sei, unsere Stimme zu benützen, beim Sprechen oder eben beim Singen. Berka-Schmid: «Da bewegen sich auch unbenennbare Gefühle, Emotionen aus uns heraus.»
Schmerzen einfach wegsingen?
Studien aus England haben sogar gezeigt, dass sich Singen bei Menschen, die an chronischen Lungenerkrankungen COPD (Chronische obstruktive Lungenerkrankungen, die mit einer zunehmenden Einschränkung der Lungenventialion einhergehen) oder an Asthma leiden, vom Singen profitieren. Ebenso hat man festgesellt, dass sich viele Alzheimerpatient*innen durch das Singen wieder an Melodien oder sogar häufig auch an Liedtexte erinnern. Erklärt wird dies damit, dass Musik in einem Bereich des Gehirns gespeichert ist, der von dieser Krankheit länger verschont bleibt als andere Regionen. Singen kann sogar Schmerzen erträglicher machen oder helfen, sie nicht mehr zu spüren. In Deutschland wurde im Jahr 2009 die inzwischen internationale Initiative «Singende Krankenhäuser» gegründet, ein Netzwerk für heilsames Singen mit dem Ziel, Singangebote in Spitälern, Altersheimen und Hospizen anzubieten.
Singen im Chor fördert nicht nur das Gemeinschaftsgefühl, es ist auch äusserst gesund.
Stärkung des Immunsystems
Der Musikwissenschaftler Gunter Kreutz von der Universität Oldenburg fand heraus, dass Singen auch das Immunsystem stärkt. Sänger und Sängerinnen eines Laienchors wurden vor und nach einer Singstunde Speichel entnommen. Nach der Chorprobe waren die Werte von Immunoglobulin A deutlich erhöht. Das Molekül wehrt Infektionen der oberen Atemwege ab. Auch das Stresshormon Cortisol war gesunken.
Auch der Einsamkeit – einem aktuellen und Stress auslösenden Phänomen in unserer Gesellschaft – kann durch gemeinsames Singen entgegengewirkt werden. Singen verbindet uns auf ganz besondere Weise: Forschende der Universiät Göteborg konnten zeigen, dass sich die Herzen der Chorsänger und -sängerinnen schon nach einigen Takten synchronisierten. Kein Wunder also, dass sich Chormitglieder durch das Singen ausgeglichener, fröhlicher und verbundener fühlen – Singen in einer Gemeinschaft fördert Verbundenheit, es entstehen Gefühle der Zugehörigkeit. Wir sind beim Chorsingen in einen Dialog mit anderen und wir brauchen viel Aufmerksamkeit. Denn wir singen ja nicht nur selbst, sondern müssen auf die anderen achten, hören und schauen, das heisst, ständig in Kontakt sein. Wir kreieren gemeinsam etwas, ein «Lied» als gemeinsam gestaltetes Projekt, das einfach Freude bereitet. Somit ist Singen vor allem in einer Welt, in der vielfach ein Ziel erreicht werden muss, eine gute Alternative zu dem, was wir sonst tun. Denn es ist etwas, das zweckfrei und ganz und gar einfach nur zur Freude aller da ist. Es muss keinen weiteren Sinn erfüllen. Und, vor allem, es muss niemand «gut» darin sein.
Besser arbeiten durch Singen
Menschen, die oft singen, sind weniger depressiv und psychisch ausgeglichener. Sicher liegt dies auch an den körpereigenen Cannabinoiden, die bereits nach einer halben Stunde Singen ausgeschüttet werden. Dies brachte eine Studie der britischen Physiologin Saoirse O’Sullivan zutage: Singen fördert die Ausschüttung dieser stimmungshebenden Substanzen mehr als etwa Tanzen oder Velofahren. Selbst die Arbeitsleistung und die Ausdauer werden verbessert. Es ist anzunehmen, dass uns die Arbeit viel leichter zur Hand gehen würde oder wir motivierter wären, würden wir dabei auch singen. Unüblich war das früher in gewissen Bereichen oder unter harten Bedingungen ja auch nicht: Man denke nur an die Sklaven überall auf der Welt oder an die Minenarbeiter in Goldminen in den USA. Die Gesänge halfen, die unmenschlichen Bedingungen zu ertragen und gaben auch den Arbeitsrhythmus vor. Und Trauerlieder haben in vielen Kulturen immer noch Tradition.
Gemeinsames Singen bereitet Freude.
Schnarchstopp Singen?
Singen stärkt unseren Geist und fördert die Konzentration wie eine weitere Studie zeigte. Der Forscher Karl Adamek von der Universität Münster hat 34 Versuchspersonen einen Konzentrationstest vorgelegt. In der Pause nach dem ersten Testdurchlauf konnte sich die eine Hälfte frei entspannen, die andere Hälfte hat eine halbe Stunde lang gesungen. Das verblüffende Ergebnis: Die Personen, die in der Pause gesungen haben, schnitten in einem weiteren Konzentrationstest sehr viel besser ab als die Gruppe, die sich «nur» entspannt hat. Selbst Schnarchen soll durch regelmässiges Singen weniger werden. Allerdings sind für viele Effekte eine Regelmässigkeit und ein Mindestmass an Singen erforderlich. Mindestens 20 bis 30 Minuten täglich, so liest man bei vielen Studien, sollten es schon sein, will man einen Effekt für Körper, Seele und Geist, erzielen.
Jemanden zu sagen oder zu glauben, man sei unmusikalisch, ist ein «No-Go». Man schneidet sich und anderen den Zugang zu reiner Freude und zu unserer ursprünglichsten Quelle für Freude ab. Brummen, Summen, rhythmisches Sprechen – alles ist Musik.
Tipps für mehr Gesang im Alltag:
Versuchen Sie es mit Atemübungen, die befreiend wirken. Dabei die Hände auf den Bauch legen und wie ein Pferd schnauben: die Lippen flattern lassen.
Gemeinsam singen: Sei es mit der Familie, den Kindern oder Enkeln, mit Freunden oder bei einem «offenen» Singen, in der Kirche oder in einem Chor. Spass sollte im Vordergrund stehen. Singen Sie zu besonderen Anlässen doch einfach wieder Lieder.
Summen oder singen Sie daheim, im Auto, am PC. Und tun sie es oft. Lassen Sie eine kleine Melodie entstehen, wenn Ihnen kein Lied einfällt. Da Sie allein sind, müssen Sie auch keinen Ton «treffen».
Bewegung und Singen, beim Waldspaziergang, dabei schwingen, tanzen, hüpfen – warum denn nicht!?