Resilienz

Kategorie: Gesundheit


Mario Grossenbacher, Mitbegründer des Resilienz-Zentrums Schweiz, kennt die Nöte vieler Menschen in dieser Pandemie. Er plädiert für mentale Fitnessstudios, versteht unter 4A eine Strategie zur Stärkung der Steh-auf-Kraft – oder eben Resilienz – und findet es völlig in Ordnung, wenn einmal nichts mehr geht.



Resilienz ist das Schlagwort der Stunde während Krisen wie einer Pandemie. Herr Grossenbacher, macht sich das bemerkbar in Ihrem Resilienz-Zentrum? Mario Grossenbacher: Ja, die Nachfrage hat deutlich zugenommen. Quantitativ und qualitativ. Firmen und Organisationen fragen nach Rüstzeug, das im Alltag helfen kann. Ich habe den Eindruck, dass die Personalverantwortlichen ernsthaft interessiert sind, ihre Leute gut über diese ausserordentliche Zeit zu bringen.


Resilienz bedeutet Widerstandsfähigkeit, Steh-auf-Kraft. Sind Sie einverstanden mit dieser Kurzform? Beim Googeln kommt als erstes «Widerstandskraft». Da braucht es Klärung: Höre ich Widerstand, denke ich an Menschen, die sich sperren, die Situation aushalten und kämpfen. Das ist auf Dauer nicht gesund. Unser Ansatz ist ein anderer: Ziel ist es, dass die Menschen beweglich bleiben. Sie dürfen auch mal nachgeben und schwach sein. Die Frage ist: Was braucht es, um sich allmählich wieder aufrichten zu können? Kennen Sie diese Steh-auf-Tierchen?


Diese kleinen hölzernen Giraffen und Zebras? Ja, genau. Drückt man, fallen ihre Glieder in sich zusammen, lässt der Druck nach, richten sie sich wieder auf. So verstanden heisst Resilienz Steh-auf-Kraft. Sie ist das Immunsystem der Psyche.


Laut Studien sind zum Beispiel Lehrer besonders Burn-out-gefährdet. Sie brauchen viel Steh-auf-Kraft. Warum ist das so? Diese Berufsgruppe ist in hohem Mass intrinsisch motiviert, die Motivation kommt also von innen. Lehrpersonen, mit denen ich zu tun habe, lieben, was sie machen. Sie helfen, begleiten, unterstützen von Herzen. Keiner von ihnen steht am Morgen auf, weil es am Monatsende viel Geld gibt. Ihr Antrieb sind Sinn und Sinnhaftigkeit – mit der Gefahr, übers Ziel hinauszuschiessen und sich selbst zu vergessen.


Einige weitere Berufsgruppen brauchen zurzeit besonders viel Steh-auf-Kraft. Welche kommen Ihnen als erste in den Sinn? Pflegeberufe. Und interessanterweise Uniformierte, etwa bei Polizei und Feuerwehr. So unterschiedlich die Berufe, so ähnlich das Profil. Wie Lehrer sind auch hier viele in hohem Mass intrinsisch motiviert. Im Grenzbereich fast schon auf Mission. Antrieb sind Sinn und Sinnhaftigkeit – mit der Gefahr, sich selbst zu vergessen. Fallen im Flugzeug bei Druckabfall die Sauerstoffmasken herunter, muss ich zunächst selbst eine ergreifen, bevor ich mich um den Sitznachbarn kümmern kann. Die genannten Berufsleute tendieren dazu, zunächst anderen zu helfen.


Bekommt man Resilienz mit im Leben wie das Talent zu Singen? Bei gewissen Menschen ist das so. Für Neurowissenschaftlerin Sarah McKay kommen hier sogenannte Bottom-up-Aspekte zum Tragen wie Gene, Hormone und das Immunsystem. Wer damit nicht gesegnet ist, kann mit einem gesunden Lebensstil kompensieren. Bei den Top-down-Aspekten wiederum geht es um Denkweisen, Überzeugungen, um die Frage, wie stark ich Emotionen steuern kann. Mitentscheidend sind Erfahrungen aus der Kindheit: Gab es ein Umfeld, das uns stützte? Lernten wir, mit Stress umzugehen? Liessen uns Lebensbrüche wachsen oder untergehen? Wie konnten wir uns bilden? Was lebten die Eltern vor? McKay nennt dies die Outside-in-Perspektive.


Wie merkt man, wie stark oder schwach die eigene Resilienz ist ? Gut unterwegs ist, wer seine Lebenssituation akzeptieren kann; wer den Fokus eher auf das Veränderbare und weniger auf das Unveränderbare legt.


Das ist oft nicht einfach, Veränderbares von Unveränderbarem zu unterscheiden. Nehmen wir die Pandemie. Corona ist unveränderbar. Ich kann mich ewig darüber aufregen und die Umstände permanent hinterfragen. Oder die Situation akzeptieren und die Bereiche ausloten, die ich noch beeinflussen kann. Aus Studien mit Holocaustüberlebenden weiss man, dass diejenigen besser ins Leben zurückfanden, die im KZ ihren minimalen Handlungsspielraum maximal ausgeschöpft hatten. Im Englischen spricht man von Responsibility – Response Ability: Bin ich fähig, verantwortlich für mich zu sein und eine Antwort ans Leben zu geben? Verliere ich jedoch die Handlungsfähigkeit, bin ich nicht mehr resilient. Ich bin nicht mehr Gestalter meines Lebens und falle in die Opferrolle.


Was sind Alarmzeichen, wenn die Resilienz schwächelt? Die einen sind blockiert und haben Mühe, in die Handlung zu kommen und sich aktiv um die schwierige Situation zu kümmern. Die anderen kommen vor lauter Handlung nicht mehr in die Ruhe, können nicht mehr abschalten. Weitere Alarmzeichen sind Schlaflosigkeit, schleichender sozialer Rückzug, negative Gedanken – das Glas ist halb leer, man konzentriert sich auf das, was fehlt und nicht auf das, was ist.


Sie üben mit Menschen Resilienz ein. Wie gelingt das? Das persönliche Energiefass könnte bei vielen voller sein. Fällt der Akku unseres Mobiltelefons unter zehn Prozent, warnt uns das Gerät und wir suchen unverzüglich eine Steckdose. Für uns selbst aber haben wir dieses Verständnis nicht. Wir brauchen Energie, immer wieder. Hoffentlich sind nicht die Ferien unsere einzige Ladestation – das wäre Raubbau! Im Alltag gibt es für die meisten etwas, das sie wieder auflädt. Das gilt es, für sich zu suchen: Etwas, das ich heute machen kann, damit mein Energiefass morgen ein wenig mehr enthält – es muss ja nicht gleich bis oben voll werden.


An welche Quellen denken Sie da? Das ist sehr individuell. Die einen brauchen eine Joggingrunde, die anderen setzen sich auf einen Hügel und beobachten den Sonnenuntergang, andere scharen Leute um sich und tanken bei einem geselligen Abend auf. Wieder andere suchen eher die Stille, gehen in die Natur oder lesen ein gutes Buch. Es ist spannend mitzubekommen, wie unterschiedlich die Alltagsoasen der Menschen sind.


Und wenn einem im Hier und Jetzt alles über den Kopf wächst, das Kinderlachen in der engen Wohnung an den Nerven zerrt, die Konzentration im Heimbüro bei der x-ten Videoschaltung schwindet, die Einsamkeit einem erstickt – haben Sie da eine Strategie? Auf Knopfdruck Balance erlangen und Achtsamkeit üben – das funktioniert nicht. Doch in der Hektik des Augenblicks gibt es durchaus sinnvolle Übungen. Das Palmieren zum Beispiel: Man reibt die Hände aneinander und legt sie auf die Augen. Bei Stress leiden auch die Augen, Wärme und Dunkelheit tun ihnen gut. Oder man steht auf, macht das Fenster auf, atmet tief durch, trinkt ein Glas frisches Wasser. Oder man schüttelt den Stress buchstäblich ab, beginnend bei den Händen und Armen, endend bei den Beinen und Füssen. Oder man macht den Schulterwurf, nimmt das Problem in die Hand und wirft es über die Schulter, abwechselnd rechts und links. Oder man überprüft ganz einfach von Zeit zu Zeit seine Körperhaltung und lockert versteifte Partien. So kommt man in den Körper zurück.


Nützt denn das, in den Körper kommen? Es braucht wenig, um die Gedanken wieder zum Fliessen zu bringen. Studien zeigen, dass sogenannte Body-to-Brain-Einheiten tatsächlich etwas bringen. Probieren Sie es aus, winken Sie in geeigneter Situation jemandem zu. Sie werden sehen, dass Ihre Mundwinkel automatisch nach oben gehen und Sie zu grinsen beginnen. Ich nutze oft solch einfache Übungen. Mit Winken allein ist es aber natürlich nicht getan.


Was raten Sie ausserdem? Es gibt immer eine Vorgeschichte – es war ja hoffentlich nicht von Beginn an so, dass Kinderlachen einem auf die Nerven ging. Wird man nervlich dünnhäutig, zeigt der Körper oft die klassischen Reflexe von Kampf, Flucht, Erstarren. Das gilt es, zu durchbrechen. Zum Beispiel mit der 4A-Strategie: Annehmen – es ist gerade schwierig, und ich stehe dazu. Abkühlen – ich nehme mich kurz aus der Situation, suche eine stille Ecke, mache eine Atemübung. Analyse – kann ich hier und jetzt etwas machen und wenn ja, lohnt es sich oder lasse ich es lieber bleiben? Ist keine Aktion möglich: Ablenken – ich bin froh um die frische Luft auf dem Balkon, denke ans gute Nachtessen, das ich zubereiten will.


Was hilft Ihnen? Ich bin ein leidenschaftlicher Koch und lade gerne Gäste ein. Da kann ich richtig aufblühen. Andererseits kann Kochen eine Belastung sein, ein Energiefresser. So versuche ich, stets wahrzunehmen, wie es mir gerade geht und was mir jetzt guttun würde. Nicht immer ist es Kochen.


Sie nennen ein wichtiges Stichwort: Energiefresser. Können Sie es erläutern? Die Analyse bringt uns in diesem Punkt ein entscheidendes Stück weiter. Es geht um Fragen wie: Was ist so anstrengend in meinem Leben? Warum muss ich den Hahn meines Energiefasses ständig dermassen aufdrehen? Wo hat das Fass Löcher? Ich stelle fest, dass die Empathie für sich selbst bei vielen auf der Strecke bleibt. Gehe ich mit mir genau so sorgfältig um wie mit meinen Schutzbefohlenen? Bin ich mir der beste Freund, die beste Freundin? Bei Fallanalysen zeigt sich, dass man mit sich selbst oft viel strenger, viel weniger liebevoll ist als mit anderen.


Was kann man tun? Was, wenn man auf solche Fragen keine Antworten mehr findet? Es ist okay, wenn einmal die Worte fehlen. Vielleicht ist es auch ganz gut, keine Worte mehr zu haben. Oft lastet viel zu viel auf den eigenen Schultern. Dabei geht es um das altbekannte Grenzen setzen und Grenzen wahren. Und auch um die Selbstverantwortung der anderen. Daran sollte man sein Gegenüber erinnern. Hilfreich ist wieder, eine Vision von sich selbst zu haben als gemitteten Menschen und sich zu fragen: Wie wäre es denn gut für mich? Manchmal findet man heraus, dass gar nicht so viel fehlt. Hilfreich ist auch der Ansatz der drei Optionen: Love it, change it or leave it.


Und wenn man weg möchte, aber keine Ahnung hat wohin? Ich komme noch mal auf die Frage zurück: Wie wäre es denn gut für mich? Manchmal bringt es viel, zunächst nur ein paar Schritte zurückzutreten, das Pensum etwas zu reduzieren. Dann gilt es zu klären: Mache ich noch 20 Jahre so weiter? Und wenn ja: Wie könnte es besser funktionieren, und was brauche ich auf dem Weg dahin? Wir haben dazu ein Work-in entwickelt.


Work-in – abgeleitet von Work-out ? Ja, es ist eine Art mentales Fitnessstudio. Will ich körperlich fit sein, muss ich etwas tun dafür; drei Wochen Jogging reichen da nicht aus. Gleich verhält es sich bei mentaler Fitness: Wer fit bleiben will, braucht kontinuierliches Training. Unser Fitnessstudio umfasst eine wöchentliche Online-Gruppenstunde. Ein mentales Fitnessstudio kann aber auch etwas ganz anderes sein, es gibt Tausend Möglichkeiten. Wichtig ist, dass man sich regelmässig Zeit nimmt, in sich hineinzuhören.


Wie hört man in sich hinein? Man kann ein Glückstagebuch führen, regelmässig im Wald spazieren gehen, morgens und abends ein Check-in/Check-out machen – eine Routine von mir. Ich frage mich am Morgen beim Zähneputzen vor dem Spiegel: Wer bist du heute? Am Ende des Tages ziehe ich dann kurz Bilanz und überlege: War es gut so? Was könnte ich allenfalls morgen anders machen?


Das Check-in? Tönt interessant? Wir haben viele Facetten, und nicht immer blickt mich der gleiche Mensch aus dem Spiegel an. Manchmal merke ich, dass etwas im Anzug ist – eine Erkältung, eine Angst, ein Gedanke, der nicht abzuschütteln ist. Und manchmal kommt gar nichts – ausser dem unbändigen Wunsch nach dem ersten Kaffee. Ich korrigiere nicht, bewerte nicht, ich nehme einfach wahr und denke: Alles klar – wie will ich nun durch den Tag gehen? Eine solche Bestellung beim Unterbewusstsein kann sein: Ich will heute diese oder jene drängende Sache erledigen. Oder: Ich will mich heute auf das Positive konzentrieren. Oder: Ich will heute Dankbarkeit üben. Wenn man auf diese Art sein Tagewerk beginnt, entfaltet sich der Tag sehr oft in die angestrebte Richtung.











Mario Grossenbacher (50) ist Mitbegründer des Resilienz-Zentrums Schweiz. Die Fachstelle mit Sitz in Basel arbeitet unter anderem mit dem Begegnungszentrum Cura zusammen, einer Aussenstation des Basler Claraspitals für chronisch Kranke und ihre Angehörigen.

www.resilienz-zentrum-schweiz.ch

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