Opfer oder Erlösung: Was Blut in den Religionen bedeutet

Blut ist weit mehr als nur ein Bestandteil des Körpers. Seit Jahrtausenden gilt es als Ur-Symbol für Leben und Tod, Schuld und Reinigung, Sühne und Erlösung. In fast allen Religionen spielt Blut eine zentrale Rolle – sei es als Tabu, als Opfergabe oder als heiliges Zeichen göttlicher Verbundenheit.

Samuel Krähenbühl

Besonders in der jüdisch-christlichen Überlieferung ist Blut tief verankert in den grossen Erzählungen: vom ersten Mord der Menschheit über das Passahfest bis zum Kreuz von Golgatha. Doch auch ausserhalb der biblischen Welt ist Blut ein Medium der Transzendenz. Ein Streifzug durch Kulturen und Religionen zeigt, wie universell – und wie vieldeutig – die Symbolik des Blutes ist.

Lebenssaft und Energiequelle

Bereits frühe Kulturen verbanden Blut mit Lebenskraft. Wenn jemand blutete, verlor er sichtbar an Energie – eine Erfahrung, die in der Annahme mündete, dass das Leben selbst im Blut wohne. Besonders eindrücklich zeigt sich das im alten Ägypten. Im ägyptischen Totenbuch findet sich ein Amulett aus rotem Karneol, das als das «Blut der Isis» bezeichnet wird. Es sollte dem Verstorbenen Kraft verleihen, um den Übergang ins Jenseits zu bestehen. Die rote Farbe – Symbol für Vitalität und Macht – verstärkte diese Wirkung. Blut wurde hier nicht als etwas Schmutziges oder Ekelhaftes verstanden, sondern als etwas Heiliges und Kraftvolles. Auch die Priester jener Zeit trugen rote Insignien bei Ritualen, um die göttliche Lebenskraft zu repräsentieren.

Stimme aus der Tiefe: Die Antike

Auch in der griechischen Antike begegnet uns Blut als Träger von Erinnerung und Identität. In Homers Odyssee lässt Odysseus Blut von geopferten Tieren in eine Grube fliessen, um mit den Toten zu sprechen. Die Seelen der Verstorbenen erhalten erst durch das Blut die Kraft, sich zu zeigen und zu reden.

Es ist, als würde das Blut das Gedächtnis aktivieren – eine Brücke zwischen Lebenden und Verstorbenen schlagen. In der gesamten antiken Welt war das Vergiessen von Blut Teil religiöser Zeremonien – nicht nur, um Götter zu besänftigen, sondern auch, um mit ihnen in Kontakt zu treten. Blutopfer waren Ausdruck von Ehrfurcht, von Hingabe – und auch von Angst.

Das Bluttabu im Alten Testament

Im Judentum ist das Blut nicht nur Leben – es gehört Gott. Schon früh wird im Buch Genesis festgelegt: «Nur das Fleisch mit seinem Leben, seinem Blut, sollt ihr nicht essen.» (1. Mose 9,4). Diese Vorschrift findet sich in verschärfter Form im Buch Levitikus wieder. Dort wird das Blut als Träger des Lebens bezeichnet – und sein Konsum verboten. Gleichzeitig spielt Blut in den Opferriten eine zentrale Rolle: Es wird auf den Altar gesprengt, an das Heiligtum gestrichen oder vollständig vergossen, um Schuld zu sühnen.

Eine der eindrücklichsten Szenen findet sich in der Geschichte von Kain und Abel. Nachdem Kain seinen Bruder erschlagen hat, spricht Gott: «Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir vom Erdboden.» (1. Mose 4,10). Hier wird Blut zur Stimme der Gerechtigkeit – zur moralischen Instanz, die nicht schweigt.

Rettung durch das Blut des Lammes Die symbolische Macht des Blutes findet einen Höhepunkt in der Erzählung vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Die zehnte Plage – der Tod der Erstgeborenen – soll die Ägypter treffen, während die Israeliten durch das Blut eines Lammes verschont bleiben. In 2. Mose 12,7 heisst es: «Und sie sollen von dem Blut nehmen und es an die beiden Türpfosten und an den oberen Türbalken streichen.»

Das Blut wird zum Schutzzeichen – sichtbar für Gott, unsichtbar für die Ägypter. Es markiert die Zugehörigkeit zum Volk Gottes, ist Zeichen des Glaubens und der Rettung. Bis heute erinnert das jüdische Pessachfest an dieses Ereignis – mit rituellen Speisen, Symbolen und dem Verzicht auf Blutverzehr.

Christus als Blutopfer

Im Christentum wird das Motiv des Opferbluts auf Jesus übertragen. Sein Tod am Kreuz ist nicht einfach das tragische Ende eines Propheten, sondern ein bewusstes Opfer zur Erlösung der Menschheit. Beim letzten Abendmahl sagt Jesus: «Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.» (Lukas 22,20). Im ersten Petrusbrief heisst es: «Ihr seid erlöst […] mit dem kostbaren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes.» (1. Petrus 1,18–19). Die Eucharistie als zentrales Ritual des Christentums greift diese Symbolik auf: Der Wein wird zum Blut, das Leben schenkt. Christen trinken ihn nicht nur als Erinnerung, sondern als Teilhabe an Christus selbst. Das Blut wird zur Brücke zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Schuld – zur Kraftquelle, die den Tod überwindet.

Kunst und Theologie des Mittelalters entwickelten reiche Bildwelten um das Blut: Von Blutquellen in Christusgestalt bis zu Marienbildern, in denen sie mit dem Blut des Sohnes verschmilzt. Mystikerinnen wie Mechthild von Magdeburg oder Hildegard von Bingen beschrieben ekstatische Visionen, in denen das Blut als brennende Liebe Gottes erschien. Noch heute ist das Herz-Jesu-Fest ein Symbol für das durchbohrte, blutende Herz des Erlösers – Ausdruck seiner unendlichen Hingabe.

Vergiessen, Reinigen, Verbinden – Weltweite Parallelen

Auch andere Religionen kennen die tiefe Symbolik des Blutes. In der aztekischen Kultur wurde es geopfert, um den Lauf der Sonne zu sichern. Die Götter hatten einst ihr eigenes Blut vergossen, um die Welt zu erschaffen – nun musste der Mensch mit Menschenblut danken. Diese Vorstellung mag verstörend wirken, aber sie zeigt, wie universell die Idee vom blutigen Opfer als Quelle der Ordnung ist. Im Hinduismus gibt es Blutopfer an Göttinnen wie Kali, die Zerstörung und Erneuerung zugleich verkörpert. Auch im Islam spielt das Blut beim Opferfest (Eid al- Adha) eine Rolle. Ein Tier wird geschlachtet zum Gedenken an Abrahams Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern. Das Blut des Tieres ist dabei Zeichen des Gehorsams und der spirituellen Reinigung. Auch wenn viele dieser Praktiken heute in symbolischer Form weiterleben, bleibt das Blut ein Element der Verbindung zwischen Menschen und Transzendenz.

Die bleibende Kraft eines Symbols

Blut ist nicht nur biochemische Realität, sondern ein kollektives Bild für das, was Leben bedeutet. Es ist Grenze und Gabe, Tabu und Trost, Sühne und Verheissung. In religiösen Texten schreit es, fliesst es, schützt es, erlöst es. Ob als sichtbares Zeichen an Türpfosten, als unsichtbare Stimme aus dem Erdboden oder als liturgisches Element im Abendmahl – Blut bleibt eine der mächtigsten religiösen Chiffren. In einer Welt, die viele religiöse Bilder hinter sich lässt, wirkt das Blut als Symbol weiter – in Sprache, Kultur, Literatur und Ritual. Es erinnert uns an das, was wir nicht messen, aber spüren können: dass Leben ein Geschenk ist – und Opfer eine Brücke zur Hoffnung.

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