Musiktherapie: Die Seele erklingen lassen
Musik lässt kaum einen Menschen kalt. Sie kann glücklich machen, kann zu Tränen rühren, aber auch auf die Nerven gehen. Dass Musik die Seele berühren kann, ist eine Chance gerade für Menschen, die den Zugang zu sich selbst wiederfinden möchten.
Christian Kloter
A ls Frau Wyss* (* alle Namen geändert) aufhört zu trommeln, schaut sie mich entgeistert an. Schweissperlen tropfen ihr von der Stirn. Frau Wyss hatte minutenlang mit geschlossenen Augen und aller Kraft auf die Djembe eingeschlagen. Nach einem letzten kräftigen Schlag hat sie die Hände zurückgezogen, die Augen geöffnet. Nun sagt sie beschämt: «Es tut mir leid. Was ist bloss in mich gefahren.» Die ungezügelte Wut, die da durch die Musik spür- und hörbar wurde, verklingt im Raum. «Können Sie mir beschreiben, was Sie während dem Trommelspiel erfahren haben?», frage ich sie. Frau Wyss zögert einen Moment und sagt dann: «Ich sah meinen verstorbenen Mann vor mir. Der Mistkerl hat mich einfach im Stich gelassen, nach vierzig Jahren Ehe.» Wir schweigen einen Moment, dann sagt sie: «Er starb an Krebs. Ich weiss, man darf doch nicht wütend sein in so einem Moment, aber ich bin jetzt ganz allein.» Monatelang hat sie mit niemandem über ihre Gefühle gesprochen, jetzt sind sie auf einmal aus ihr herausgebrochen. Dies ist der Beginn einer langen Trauerarbeit, auf der ich Frau Wyss musiktherapeutisch begleite.
Musik als Tor zur Körper- und Gefühlswelt
Musik hat eine unmittelbare Wirkung auf Körper und Seele, deshalb ist sie ein hervorragendes Medium, um innerpsychische Vorgänge auszudrücken und sie so bewusst werden zu lassen. Wer in die Musiktherapie kommt, muss kein Instrument spielen können. Es reicht, Interesse und Neugierde mitzubringen.
Für die musikalische Arbeit steht eine breite Auswahl von leicht spielbaren Musik- und Rhythmusinstrumenten aus verschiedenen Ländern und Kulturen zur Verfügung. Im Gegensatz zum gewohnten «Musizieren» steht nicht das musikalische «Produkt» im Zentrum, sondern was die Musik beim Menschen auslöst: Was begegnet mir über und durch die Musik? Welche Gefühle tauchen während des Spielens auf? Wie reagiert mein Körper? Welche persönlichen Themen zeigen sich im Hören und Spielen? Alles was auftaucht, wird unmittelbar erlebt und zugleich gestaltet, und wird dadurch auf sinnliche Weise erfahrbar. So wie bei Frau Wyss. Sie hatte ihre Wut nach dem Tod ihres Mannes unterdrückt, es schien ihr verwerflich, diese zu empfinden. Die unterdrückte Wut raubte ihr die Lebensenergie und blockierte sie in ihrem Trauerprozess. Mit Hilfe der Musik konnte sie ihren ambivalenten Gefühlen Ausdruck verleihen und ihnen begegnen.
«Musik hat eine unmittelbare Wirkung auf Körper und Seele.»
Dass Musik so wirkungsvoll ist, geht weit in unsere vorsprachliche Entwicklung zurück. Klänge sind entwicklungspsychologisch eng mit unseren Gefühlen verknüpft. Dadurch ist die Musiktherapie kein harmloser Zugang, und das nehmen Menschen oft intuitiv wahr. Viele drücken «schwierige Gefühle» gewohnheitsgemäss weg. Aufgabe des Musiktherapeuten kann es sein, den Zugang zu Trauer, Schmerz oder Wut dosiert und behutsam zu begleiten. Aber nicht nur Belastendes kann sich in der Musik zeigen, sondern auch Ressourcen. Endlich wieder einmal dem Gefühl von Freude, Begeisterung, und Leichtigkeit begegnen, so wie das Herr Gruber in einer meiner Gruppensitzungen erlebt hat.
Den inneren Kritiker überspielen
«Mit einem ruhig dahinplätschernden Bergbach hatte dies ganz und gar nichts zu tun!», lacht Herr Gruber, nachdem alle Teilnehmenden ihre Instrumente verklingen lassen haben. Ich hatte der Gruppe vorgeschlagen, dass wir eine Klangreise mit dem Titel «Von der Quelle bis zum Meer» improvisieren. Ich überliess es den Teilnehmenden, ob sie den Wasserlauf aktiv mitgestalten oder ob sie sich hinlegen und zuhörend treiben lassen wollten. Die Musik, die in den letzten zwanzig Minuten den Therapieraum erfüllte, beinhaltete jede erdenkliche Klangfarbe, auch schräge.
Wie alle anderen Teilnehmenden in der Gruppe beherrscht auch Herr Gruber keines der herumstehenden Instrumente. Er merkt schnell, dass er die Situation nicht kontrollieren kann. Zuerst fühlt er sich überfordert, doch dann registriert er, wie die restlichen Teilnehmenden ziemlich unbekümmert einfach drauflos spielen. Also versucht er sich auch, packt sich eine Rassel und gestaltet den «Wasserklang» mit. Dabei nimmt er wahr, wie befreiend sich das unperfekte Tun in diesem Moment anfühlt. Nichts von all den Klängen ist «falsch», sondern es entsteht eine Stimmigkeit und Ästhetik wie in der Natur.
Für Herrn Gruber, einen Perfektionisten, der immer das Maximum von sich erwartet und von seinem inneren Kritiker angetrieben wird, ist das eine Augen und Herz öffnende Erkenntnis. Denn seit er Kind ist, hat er Liebe nur in Verbindung mit Leistung erfahren. Irgendwann ist er, am Ende seiner Energie, zusammengebrochen. Das war der Moment, als er über eine Empfehlung die Musiktherapie aufsuchte.
In diesem für ihn noch ungewohnten Erfahrungsraum findet Herr Gruber vom «Performen», das er so gut kennt, ins «Spielen». Für einen Moment entflieht er seinem inneren Kritiker. Dieses Erlebnis berührt ihn tief. In der Nachbesprechung bemerkt er, dass ihm seine Kindheit gestohlen worden ist und dass er sich nun auf die Suche machen will nach kreativen Räumen, in denen er dem Spielerischen wieder begegnen kann – ohne Leistungsdruck.
Die Trommel ist eines der Instrumente, welches in der Musiktherapie eingesetzt werden.
Neue Wege und Perspektiven
Wir leben in einer kopflastigen Zeit. René Descartes Grundsatz «Ich denke, also bin ich.» ist für viele Menschen immer noch massgebend. Wenn der Mensch Probleme hat, wird zumeist gedanklich nach einer Lösung gesucht. Wir sind aber mehr als nur unser Gehirn und eine Lösung ist nicht immer in der intellektuellen Auseinandersetzung zu finden. Kognitionsforscher weisen inzwischen darauf hin: Wer denken will, muss fühlen. Genau das passiert in der Musiktherapie, auch bei Frau Graf.
Sie hat eine sichere Arbeitsstelle in einem Büro. Sie weiss, wie der Hase läuft, ihre Arbeit ist Routine geworden. Sie ist 55 Jahre alt und seit 15 Jahren beim selben Arbeitgeber, da erhält sie über eine Bekannte ein Jobangebot. Sie könnte eine kleine Buchhandlung übernehmen und dieser «frischen Wind» einhauchen. Seit vielen Jahren träumt sie davon, mit Büchern zu arbeiten und in einem Buchladen ein Café zu eröffnen, doch die neue Stelle ist mit Unsicherheiten verbunden. Sie wird weniger verdienen, ob der Buchladen überlebt ist ebenfalls nicht sicher. Frau Graf zweifelt, weiss nicht, wie sie sich entscheiden soll. Ich lade sie ein, ihre aktuelle Arbeitsstelle erklingen zu lassen. Sie entscheidet sich für das Xylophon und beginnt eine repetitive Tonfolge zu spielen. Es gibt keine Ausreisser, keine Dynamik, keinen Tempowechsel. Es könnte ewig so weiterklingen. Als ich sie frage, wie sie ihr Spiel erlebt hat, sagt sie, ohne zu zögern: «Öde, wie bei der Arbeit.» Ich lade sie zu einer zweiten Improvisation ein. Wie könnte die Stelle in der Buchhandlung klingen? Frau Graf holt diverse Instrumente: Eine Schale voller Kleinperkussion und eine Trommel. Anfänglich spielt sie die Instrumente kurz an, probiert sich aus. Die Musik wirkt noch unsortiert, doch mit der Zeit scheint es, als ob die Klänge ihren Platz finden. Ein Grundrhythmus entsteht, über dem unterschiedliche Klangfarben tanzen. Frau Graf beginnt zu strahlen, sie wirkt lebendig und inspiriert. Als ich frage, wie diese Improvisation für sie gewesen sei, antwortet sie: «Erstaunlich, was da aus dem Nichts entstanden ist. Ich wusste gar nicht, dass sich Arbeit so aufregend anfühlen kann.» Als Frau Graf den Therapieraum verlässt, will sie Neues wagen. Da ist auf einmal eine Vision, eine Klarheit.
Die Prozesse der musikalischen Auseinandersetzung sind
ganz unterschiedlich, je nach Bedürfnissen und Themen.
Der Prozess im Fokus
Wie die Fallbeispiele zeigen, gestalten sich die Prozesse der musikalischen Auseinandersetzung ganz unterschiedlich, je nachdem, welche Bedürfnisse und Themen auftauchen. In der Kombination mit dem therapeutischen Gespräch können die im Spiel gesammelten Erfahrungen reflektiert und in Sinnzusammenhänge gestellt werden.
Frau Wyss, die nach dem Tod ihres Mannes durch das Trommelspiel ihrer Wut begegnet ist, begleite ich mehrere Monate in ihrer Trauerarbeit. Mit der Zeit kamen andere Klänge an die Oberfläche. Der Trauer gab Frau Wyss leise, kaum hörbare Saitenklänge. Und auf die Trauer folgte die Stille, Zeiten des gemeinsamen Schweigens. Aus dieser Stille wuchsen neue, zarte Klänge. Ein Windspiel, helle, klare Noten. Frau Wyss hiess sie willkommen.
Ein Jahr nachdem Frau Wyss mit aller Kraft auf die Trommel gehämmert hatte, legt sie zum letzten Mal das Windspiel aus der Hand und sagt: «Danke. Ich brauche die Trommel nicht mehr. Der Schatten des Todes ist verschwunden.»
Einsatzbereiche der Musiktherapie
Musiktherapie kann …
Psychiatrie
… bei Depressionen dazu beitragen, Stimmungsschwankungen zu regulieren, negative Gedanken zu reduzieren und das allgemeine Wohlbefinden zu verbessern.
… bei Angststörungen beruhigend wirken, Stress abbauen und dabei helfen, Ängste zu bewältigen.
… bei Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) helfen, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten, emotionale Blockaden zu lösen und die Selbstregulation zu verbessern.
… bei einem Burn-out helfen, die psychische Widerstandsfähigkeit zu stärken und neue Bewältigungsstrategien zu entwickeln im Umgang mit den Herausforderungen.
Neurologie
… nach einem Schlaganfall oder bei neurologischen Erkrankungen wie Parkinson motorische Fähigkeiten verbessern und Sprachstörungen lindern.
Pädiatrie
… Kinder mit Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten durch die spielerische Herangehensweise unterstützen.
Geriatrie
… bei älteren Menschen Erinnerungen wecken und das Wohlbefinden steigern – besonders bei Demenzpatient*innen zeigt sich eine positive Wirkung.
Onkologie
… Krebspatient*innen Trost und Unterstützung im Umgang mit ihrer Krankheit ermöglichen.
Christian Kloter arbeitet als selbstständiger Musiktherapeut und Supervisor/
Coach in Baden (AG).