«Mein Respekt vor den Müttern wächst von Geburt zu Geburt»
Ein Gespräch mit Dr. med. Michael Winter, Gynäkologe am Spital Zollikerberg – über Zwillingsgeburten, Vertrauen und wie Simulationstraining von Geburten die Risiken für Mütter und Kinder senkt.
Interview: Therese Krähenbühl-Müller
natürlich»: Michael Winter, Sie haben mich bei meiner Zwillingsgeburt begleitet. Als Patientin war das für mich eine absolute Ausnahmesituation, für Sie war es ja aber vermutlich einfach Routine?
Michael Winter: Die Gebärabteilung hier am Spital Zolli-kerberg ist etwa die siebtgrösste Geburtsklinik der Schweiz. Wir betreuen täglich normale und Risiko-Schwangerschaften sowie deren Geburten, daher ist bei allen involvierten Professionen grosse Expertise vorhanden. Davon profitieren besonders Risikoschwangere, wie eben zum Beispiel Mütter von Zwillingen.
Wie viele Geburten sind das in Zahlen?
Im Jahr 2023 hatten wir 2147 Geburten und 2024 waren es 2105 Geburten im Spital Zollikerberg und zusätzlich 95 im neu eröffneten Geburtshaus, das direkt neben dem Spital liegt. Im vergangenen Jahr fanden im Spital 35 Zwillingsgeburten statt, eine davon war ihre. Im Monat sind es also im Schnitt so drei Zwillingsgeburten. Eine von etwa fünf Zwillingsgeburten ist eine Spontangeburt, die anderen sind Kaiserschnitte.
Warum gebären nicht mehr Frauen ihre Zwillinge auf natürlichem Weg?
Es müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein, damit man bei Zwillingen eine natürliche Geburt wagen kann. Die Geburtsplanung sollte so ab der 34. SSW in Absprache mit der Schwangeren erfolgen. Es sollten Vor- und Nachteile sowie Risiken von Spontangeburt versus Kaiserschnitt gegeneinander abgewogen werden. Um vaginal gebären zu können, muss das vorangehende Baby mit dem Kopf nach unten eingestellt sein, beide Babies sollten zwei Längslagen sein und es sollte keine zu grossen Wachstumsunterschied vorhanden sein, so wie das zum Beispiel bei ihren Kindern der Fall war. Bei Zwillingen muss differenziert werden, ob sie je eine eigene Plazenta und einen eine eigene Fruchthülle haben. Diese Form, bei der alles zweimal vorhanden ist, die sogenannte dichoriale und diamniote Zwillingsschwangerschaft ist die häufigste. Bei dieser Form kann man immer schauen, ob man Richtung Spontangeburt gehen möchte. Gerade am letzten Wochenende durfte ich eine sehr schöne vaginale Zwillingsgeburt erleben, bei der einfach alles gepasst hat und die Frau und das Team optimal zusammengearbeitet haben. Das sind besondere Momente, die einem in Erinnerung bleiben.
Ich hatte lange Angst vor der Geburt – weil meine Grossmutter eines ihrer Zwillingsbabys verloren hat. Wie begegnen Sie Frauen, die solche Geschichten mitbringen?
Bedenken und Ängste ernst nehmen, auch wenn sie aus meiner Sicht nicht so schwer wiegen. Geburt ist nie nur körperlich. Es hängt immer eine individuelle Geschichte daran. Oft reicht ein einziger Satz aus der Familienvergangenheit – und die Schwangere trägt eine ganz eigene Sorge mit. Unsere Aufgabe ist es, dieses Gepäck zu erkennen und tragen zu helfen. Ohne sie zu verunsichern, aber die Patientin mit ihren Sorgen und Nöten abzuholen.
Zwillingsgeburten werden auch häufiger?
Ja, bis vor ein paar Jahren traf das zu. Das hatte einerseits damit zu tun, dass Frauen heute später Kinder bekommen und ab 35 Jahren die Häufigkeit für Zwillinge zunimmt. Dazu kommen aber auch die neuen Möglichkeiten rund um das Thema der Fruchtbarkeitsbehandlungen, welche die Tendenz zu Mehrlingsschwangerschaften erhöhen. Dennoch bleibt die Anzahl eineiiger Zwillingsschwangerschaften stabil und der aktuelle Trend leicht abnehmender zweieiiger Gemini-Schwangerschaften ist auf die Fortschritte der Reproduktionsmedizin zurückzuführen.
Dadurch gewinnt man entsprechende geburtshilfliche Expertise?
Ja, das ist so. Wir im Spital Zollikerberg sind bemüht, für jede Form der Geburt bestmöglich gerüstet zu sein. Dafür schulen wir unser Personal regelmässig: einmal pro Monat machen wir auch ein Simulationstraining für komplexere Fälle, damit im Team geübt werden kann, wie damit umzugehen ist. Das sind wertvolle Ressourcen, die unser Spital zur Verfügung stellt.
Wie läuft so ein Training konkret ab?
Bei uns trainieren je eine Assistenzärztin, eine Oberärztin und zwei Hebammen am Vormittag und ein weiteres Team am Nachmittag. Die Notfall-Situation wird im Gebär- oder Operationssaal durchgespielt. Eine Hebamme schlüpft in die Rolle einer Gebärenden mit entsprechenden Simulationsbauch und Puppe. Wir denken uns spezielle Fälle aus, beobachten und geben dem Team am Schluss eine Rückmeldung, wo es besonders gut re- und agiert hat und wo Verbesserungspotential liegt. Meist geht um Kommunikation und Koordination unter- und miteinander. Diese Trainings helfen in der hochspezialisierten Medizin Sicherheit zu geben und Risiken zu senken.
Eine hundertprozentige Kontrolle gibt es aber auch in der Geburtshilfe nicht?
Gerade in der Geburtshilfe ist es eine spezielle Eigenheit, dass im Gegensatz zur übrigen Medizin meist gesunde und junge Menschen ins Spital kommen und nicht primär Kranke mit grossen Leidensdruck. Da ist die Erwartungshaltung eine ganz andere und die Messlatte entsprechend hoch: es sind zwei Individuen zu betreuen, die vor Schaden zu bewahren sind und nicht per se geheilt werden müssen. Da darf eigentlich nichts passieren. Aber ich weiss aus meiner eigenen Erfahrung als Vater, dass man nicht alles kontrollieren kann. Mein Sohn zum Beispiel kam auch als Frühgeburt zur Welt.
Es scheint aber, dass die Ansprüche der Eltern punkto Sicherheit immer grösser werden?
Die Medizin heutzutage suggeriert und vermittelt natürlich auch den Glauben an die Sicherheit, selbst wenn es letztendlich keine Garantie gibt. So haben sich die Erwartungen der Gebärenden in den Jahren seit meinen Anfängen als Frauenarzt im Jahre 1996 dementsprechend verändert. Die Leute wissen heute mehr und sind besser informiert. Aber auch nach der Geburt möchten die Eltern alles richtig machen und das kann zu grossem Druck und gewissen Spannungen führen. Dazu kommt, dass die Anzahl Kinder pro Frau in den letzten Jahrzehnten drastisch gesunken ist. Um uns zu reproduzieren, bräuchte es ca. 2.1 Geburten pro Frau. Da sind wir jetzt bei knapp 1.4 und dann muss bei diesen ein bis zwei Kindern bis ins Erwachsenenalter alles optimal laufen, am besten noch die Erwartungen der Eltern übertreffen. Ich hatte einen Oberarzt, der hat einmal zu mir gesagt, dass es früher so gewesen sei, dass man auf dem Land mit drei Generationen unter einem Dach so um die sieben Kinder gehabt hat und einer dieser sieben dann eben den Hof gekehrt hat. Das heisst, bei einem war bereits im Bauch eine Erkrankung oder Schädigung vorhanden oder es ist unter Geburt etwas nicht so gut gelaufen und der hat auch eine Aufgabe bekommen, war integriert und genauso wertvoll im System des Mehrgenerationenhaushaltes. Das war einmal ….
Wie können Sie als Fachperson, aber auch die Paare dann mit der Unsicherheit umgehen?
Wir sprechen in Ethikrunden über schwierige Fälle. Wichtig ist, dass sich die Frau nie überfahren fühlt. Wenn das passiert, ist in der Betreuung etwas ziemlich schiefgelaufen.
Gebären unterliegt auch immer gewissen Trends und gerade die sozialen Medien liefern den werdenden Eltern neue Ideen. Was sind die neusten Entwicklungen in diesem Bereich?
Der eigentliche Geburtsmechanismus wird sich nie ändern. Das Kind muss geboren werden. Aber die «Begleitumstände» haben sich den Bedürfnissen der Gebärenden so gut wie möglich angepasst und sind einem steten Wandel unterworfen. Es gibt mehr Überwachungsoptionen und Möglichkeiten zur Schmerzlinderung. Ein Beispiel dafür ist die Periduralanästhesie, die sogenannte Walking PDA, mit der die Gebärende trotzdem mobil bleibt, was den Geburtsablauf begünstigt. Dann gibt es die Möglichkeit für sogenannte Kaisergeburten, bei denen die Frauen während des Kaiserschnittes die Kindsentwicklung direkt visuell verfolgen und dadurch intensiver erleben können. Zusätzlich wird bei der Geburt der Einbezug des Kindsvaters immer wichtiger. Das zeigt sich auch daran, dass wir stetig mehr Zimmer zur Verfügung stellen, in denen dann auch die Väter übernachten können.
Gibt es Dinge, die Sie bei all diesem Wandel vermissen?
Direkt vermissen nicht, aber ich würde mir wünschen, dass Dankbarkeit und Zufriedenheit nach der Geburt eines gesunden Kindes wieder mehr in den Vordergrund rücken. Die Ruhe und Besinnung auf den besonderen Augenblick direkt nach der Geburt zu schätzen und die Tage im Wochenbett im Kreis der neuen Familie zu geniessen ohne zu viel Trubel, Besuch und soziale Medien stärkt den Zusammenhalt. Auch über Rückmeldungen in Form von netten Worten, Geburtsanzeigen oder Dankeskarten, zum Teil noch Jahre später mit den Heranwachsenden, freut sich das gesamte Team.
Sie machen diesen Job seit fast 30 Jahren. Stumpft man da irgendwann ab?
Nein, im Gegenteil. Mein Respekt vor den Müttern wächst von Geburt zu Geburt. Die Arbeit stumpft nicht ab, ganz im Gegenteil. Es gibt so viele Kleinigkeiten, die entscheidend sein können. Ich bin oft erst wirklich ruhig, wenn die Plazenta da ist und endgültig alles gut ist. Und das Gefühl, wenn die Geburt geschafft ist, die Kinder gesund sind und die Mutter zufrieden – das ist jedes Mal aufs Neue besonders und wunderschön.
Persönliche Erfahrung der Autorin
Als ich mit meinen Zwillingen schwanger war, spürte ich eine Mischung aus Vorfreude, Sorge und hatte auch viele Fragen im Gepäck. In der 36. Woche brachte ich meine Kinder – dank Kaiserschnitt – gesund zur Welt. Der Mann, der mich auf dem letzten Stück der Schwangerschaft begleitet hat, ist Dr. med. Michael Winter, Leitender Arzt am Zürcher Spital Zollikerberg. Noch einmal trafen wir uns zum Gespräch – nicht im Operationssaal, wo die Babies geboren wurden – sondern in entspannter Atmosphäre der Jurte, die als Kulturraum im Park vor dem Spital aufgestellt wurde. Wir sprachen über das Gebären allgemein, medizinische Sicherheit und über die neusten Trends für einen Vorgang, der so alt wie die Menschheit selbst ist.
Therese Krähenbühl-Müller