Kleines Teil mit grosser Ausstrahlung

Es gibt in der Schweiz wohl kaum noch Jugendliche, die nicht ein Smartphone ihr Eigen nennen. Immer vielfältiger werden die Applikationen auf dem Handy. Gleichzeitig steigt jedoch das Suchtpotenzial. Für viele Eltern hat sich das Handy längst zum Reizthema entwickelt.

Fabrice Müller

In der Familie von Saskia Meier (Name geändert) gelten im Umgang mit dem Smartphone klare Regeln. So dürfen ihre beiden Kinder im Alter von 10 und 13 Jahren das Handy am Familientisch bzw. während des Essens nicht benützen. Ab 21 Uhr hat das Handy auch im eigenen Zimmer nichts mehr verloren und muss abgeschaltet und abgegeben werden. Bei Computerspielen gilt, die Lautstärke auf ein vertretbares Mass einzustellen. «Wir sind im Umgang mit dem Smartphone gegenüber unseren Kindern strikt. Es gibt immer wieder mal Streit deswegen. Doch grundsätzlich werden die Regeln meist eingehalten», erzählt die Mutter. Als besonders wertvoll bezeichnet sie eine neue App für gewisse Smartphones, mit der sich die Nutzung des Geräts über eine Zeiteinstellung eingrenzen lässt. So schaltet sich das Gerät beispielsweise nach einer Stunde automatisch ab. Die Eltern können die Zeiteinstellung über einen Code im Gerät programmieren. «Das ist meiner Ansicht nach ein gutes Mittel, um den Smartphone-Konsum der Kinder zu limitieren, ohne ständig diskutieren und auf die Uhr schauen zu müssen», findet Saskia Meier.

99 Prozent der Jugendlichen haben ein Handy

Smartphones sind bei den Jugendlichen weit verbreitet, wie zum Beispiel die James-Studie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) zeigt. Demnach besitzen 99 Prozent der Jugendlichen in der Schweiz ein eigenes Handy. An Wochentagen nutzen sie ihr Gerät gemäss der James-Studie ungefähr drei Stunden und 20 Minuten, an Wochenenden gegen viereinhalb Stunden. Von besonders vielen Jugendlichen wird das Handy zum Verschicken und für den Empfang von Mitteilungen aus Einzel- und Gruppenchats, zum Musikhören, zur Nutzung sozialer Netzwerke, zum Surfen im Internet oder für Videos genutzt. «Die grosse Bandbreite an Bedürfnissen, die das Handy erfüllt, ist wohl eine Erklärung dafür, weshalb das Smartphone heute gerade auch bei Jugendlichen so beliebt ist», sagt Sabine Dobler, Projektleiterin Prävention von Sucht Schweiz.

«Problematische Nutzung»

Die häufige Nutzung von Mobilfunkgeräten bzw. deren Apps gilt als nicht unproblematisch. Zwar sprechen Fachleute wie Sabine Dobler in diesem Zusammenhang nicht gerne von Sucht oder Abhängigkeit, weil keine Einigkeit zu diagnostischen Kriterien bestehe – doch: «Manche Personen berichten, dass sie die Kontrolle über die Nutzung des Smartphones verloren haben. Sie können nicht mehr darauf verzichten», berichtet Sabine Dobler. Es handle sich dabei aber eher um eine «problematische Nutzung» bestimmter Inhalte bzw. Angebote, auf die sie dank des Smartphones Zugriff haben, und weniger um eine Abhängigkeit vom Gerät selbst. Laut einer dem «SonntagsBlick» vorliegenden Studie der Beratungsfirma Deloitte mit rund tausend Befragten kommen 48 Prozent der Smartphone-Nutzenden zum Schluss, dass sie zu häufig am Smartphone sind. In der Altersgruppe der 25- bis 34-jährigen sind es gar zwei Drittel. Personen, die ihr Smartphone häufig nutzen, verspüren laut Sabine Dobler oft einen starken Wunsch, online zu gehen. Damit einher gehen Nervosität und Gereiztheit, wenn das Gerät oder der Internetempfang nicht zur Verfügung stehen. Betroffene vernachlässigen oft zugunsten der Smartphone- bzw. Internetnutzung andere Interessen und Verpflichtungen. Auf der psychischen, körperlichen und sozialen Ebene sind bei Menschen mit Online-Spielsucht laut Sabine Dobler Depressivität, Stress, Fehlernährung, Haltungs- und Rückenprobleme, Schulprobleme sowie die soziale Isolation mögliche Folgen. «Zu den Risiken gehört auch der mangelnde Schlaf. Es kann sein, dass Jugendliche zu wenig schlafen, weil sie ihr Smartphone auch nachts nutzen.» Jugendliche bräuchten neun Stunden Schlaf, damit ihr Organismus richtig funktionieren kann. Tatsächlich schlafen sie im Durchschnitt aber etwas weniger als acht Stunden pro Tag. «Dies dürfte bei vielen auch mit der Nutzung von neuen Medien zusammenhängen», vermutet Sabine Dobler.

Einfluss auf Gedächtnis und Gehirnleistungen

Als Lerncoach kennt Bettina Dénervaud den Handykonsum auch aus einer anderen Perspektive: «Beim Lernen steht vor allem das Vorderhirn im Zentrum. Vielen ist nicht bewusst, dass auch der Handy-Konsum das Vorderhirn fordert. Wer nach dem Lernen bzw. dem Unterricht gleich das Handy hervornimmt, überschreibt den Einspeicherungsprozess durch den Handy-Konsum.» Der Basler Epidemiologe Martin Röösli, Forschungsleiter am Schweizerischen Tropen- und Public- Health-Institut (Swiss TPH), untersuchte laut einem Bericht in der Aargauer Zeitung mit zwei Doktorandinnen, wie sich der Gebrauch von Handys auf die Gehirnleistung und Gesundheit von Jugendlichen auswirkt. Über 700 Schülerinnen und Schüler im Alter von 12 bis 17 Jahren wurden im Rahmen der Studie ein Jahr lang beobachtet. Dabei stellten die Forschenden fest: Die Strahlen von Mobiltelefonen können die Gedächtnisleistungen von Jugendlichen beeinträchtigen.

Das war vor drei Jahren. Die Überraschung war für Martin Röösli so gross, dass er mehr wissen wollte. Nun liegt Studie Nummer zwei vor. Sie ist kürzlich erschienen und bestätigt die früheren Resultate: Sind Jugendliche einer hohen Strahlenbelastung von Handys ausgesetzt, entwickeln sich bestimmte Gehirnregionen weniger gut. «Besonders davon betroffen ist das figurative Gedächtnis. Das ist jener Bereich des Gehirns, der räumliche Informationen verarbeitet», sagt Martin Röösli. Etwa beim Lesen von Strassenkarten.

Einfluss auf Schulleistungen

Um das Gelernte besser abzuspeichern, empfiehlt Bettina Dénervaud, nach dem Lernen bzw. dem Unterricht in der Pause an die frische Luft zu gehen, etwas zu trinken oder zu essen und sich zu bewegen. «Die Hirnforschung rät sogar, nach dem Lernen während einer Stunde keine elektronischen Medien zu konsumieren», ergänzt der Lerncoach. Sinnvoll wäre sicher, mindestens eine halbe Stunde nach dem Lernen auf das Smartphone zu verzichten. Welchen Einfluss der Handy-Konsum auf das Lernen und die Schulleistungen haben kann, zeigt das Beispiel eines 16-jährigen Lehrlings, den Bettina Dénervaud als Lerncoach betreut hat: «Der Junge war gamesüchtig und verbrachte sehr viel Zeit am Smartphone. Seine Schulleistungen bewegten sich zwischen genügend und ungenügend. Als Folge davon griff sein Vater durch und entzog ihm das Handy ein ganzes Jahr lang. Mittlerweile hat sich der Notendurchschnitt des Jungen auf 4,5 bis 5 erhöht. Im Gegensatz zu früher ist er heute offener und kommunikativer. Und er steht mit beiden Beinen auf dem Boden.»

Mit einer Gymnasialklasse machte Bettina Dénervaud ein Experiment: Einige Tage lang durften die Schülerinnen und Schüler nach dem Unterricht nicht – wie bis anhin gewohnt – zum Handy greifen, sondern die Pause draussen an der frischen Luft verbringen. Resultat: «Die Jugendlichen bestätigten mir, dass sie sich ausnahmslos besser fühlten. Sie waren aufnahmefähiger und verbesserten ihre Noten.» Ein Schüler, dem das Handy zu Boden fiel, war zwei Monate lang ohne Smartphone. In dieser Zeit verbesserten sich seine Schulleistungen um eine halbe bis zu einer ganzen Note. «Der Junge kam zum Schluss: Das Handy ist mein grösster Feind, der mich daran hindert, das Gymnasium zu schaffen», berichtet Bettina Dénervaud. Viele Jugendlichen merkten offenbar nicht, wie stark ihr Drang nach dem Smartphone sei.

Klare Regeln zu Hause

Smartphones sind in vielen Familien ein heisses Eisen. Wie sollen sich Eltern gegenüber ihren Kindern im Umgang mit dem Handy verhalten? «Je jünger ein Kind, desto stärker sollte es noch von den Eltern im Umgang mit dem Smartphone begleitet und kontrolliert werden – etwa auch mit Hilfe von Sicherheitseinstellungen und Beschränkungen der Funktionen oder des Internetzugriffs », rät Sabine Dobler. Sinnvoll sei auch eine Prepaid- Karte, damit die Kontrolle über Nutzung und Ausgaben gewahrt werden kann. «Eltern sollten sich dafür interessieren, wozu ihr Kind das Handy nutzt. Dazu gehört zum Beispiel der Austausch mit dem Kind über die konsumierten Inhalte.»

Weiter empfiehlt Sabine Dobler, mit dem Kind ein Zeitbudget für die Mediennutzung festzulegen und von Zeit zu Zeit anzupassen. Eine klare Abmachung brauche es auch für den Ort der Handy-Nutzung, indem etwa der Esstisch ausgeschlossen wird. Eltern sollten thematisieren, was im Internet legal und illegal ist, und sich versichern, dass ihre Kinder über Cybermobbing und Kosten für Spielapplikationen informiert sind.» Wichtig ist ferner, als Eltern Wert darauf zu legen, dass die Kinder auch reale Aktivitäten wie Sport, Freund*innen, Musik, Lesen usw. pflegen», sagt Sabine Dobler und fordert die Eltern auf, Vorbild für ihr Kind zu sein – auch im Umgang mit dem Smartphone.

Die nützlichen Seiten

Gerade im Unterricht hat das Smartphone – richtig eingesetzt – aber durchaus auch seine nützlichen Seiten. «Der Trend zu mobilen Kleincomputern ist in der Gesellschaft ausserhalb der Schule so stark ausgeprägt, dass die Schule mittelfristig nicht darum herumkommt, deren Besitz und Nutzung in einem medien-pädagogischen Konzept zu integrieren, Chancen zu nutzen und Risiken zu minimieren», heisst es von Seiten des Schweizer Medieninstituts für Bildung und Kultur «educa». So können Smartphones beispielsweise zum Nachschlagen von Informationen ein wertvolles Hilfsmittel sein, zur Berechnung von mathematischen und technischen Formeln, um sich ein Diktat diktieren zu lassen, ein Tafelbild zu fotografieren oder Diskussionen über Twitter zu führen.

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