Zu jedem Entwicklungsschritt eines Kindes gibt es Tabellen und Statistiken, in denen festgehalten wird, was normal ist. Doch oft ist normal in Bezug auf die kindliche Entwicklung ein sehr weiter Begriff.
Therese Krähenbühl-Müller
«Schläft es schon durch, isst es schon vom Tisch und warum läuft es noch nicht?» All diese Fragen werden den meisten Eltern von Babys und Kleinkindern irgendwann mal gestellt. Dazu gesellen sich auch gerne Kommentare über Intensität und Dauer des Stillens, die zuckerfreie Ernährung und die Art, wie sich das Kind fortbewegt. Für Eltern, besonders für diejenigen, die ihr erstes Kind grossziehen, sorgen solche Fragen oft für Verunsicherung. Denn sie machen sich häufig schon selbst genügend Gedanken darüber, ob sich ihr Kleines gut und normal entwickelt.
Ein breites Spektrum
Was ist denn schon normal? Wer diese Frage in Bezug auf Menschen allgemein einmal konsequent zu Ende denkt, merkt schnell, dass es darauf weder bei Babys noch bei Kindern und schon gar nicht bei Erwachsenen eine eindeutige Antwort gibt. Die Welt ist kunterbunt und so sind es auch unsere Kinder. Gerade darum lohnt es sich, einmal einen etwas genaueren Blick darauf zu werfen, wie weit das Spektrum des Normalen in der kindlichen Entwicklung reicht.
Schreckensgespenst grosser Kopf
Fangen wir also am Anfang an oder besser gesagt noch etwas davor. Nämlich bei der pränatalen Diagnostik. Heutzutage gibt es ein breites Angebot an Tests, das den werdenden Eltern während der Schwangerschaft präsentiert wird. Bereits anhand einer Blutprobe lassen sich allerhand Krankheiten oder eben besser gesagt, mögliche Wahrscheinlichkeiten für eine solche nachweisen. Kein Wunder, dass sich Eltern gerne darauf einlassen und bereits vor der Geburt wissen möchten, was sie genau erwartet. Auch via Ultraschall lassen sich viele Dinge feststellen und so erhalten werdende Mütter oft bereits vor der Geburt Prognosen zur Grösse und dem Gewicht des Kindes. Besonders das Messen des Kopfumfanges kann vor einer geplanten vaginalen Geburt für ungute Gefühle sorgen, wenn die Schwangeren unbedacht darauf hingewiesen werden, dass ihr Kind einen besonders grossen Kopf habe. Wer dann auch noch Dr. Google kontaktiert, wird nicht nur sofort auf schreckliche Geburtsgeschichten aufgrund eben dieses grossen Kopfes, sondern auch auf mögliche Erkrankungen seines Babys stossen, denen ein grosser Kopf zugrunde liegt. Oft fehlt in Untersuchungen dann auch die Zeit, auf die Fragen der Schwangeren genau zu diesen Themen einzugehen. Doch auch hier lohnt sich erst einmal der Blick auf die Erwachsenen und die Eltern selbst. Die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern mit einem grossen Kopfumfang diesen auch an ihr Kind weitervererben werden, ist gross. Wenn man bedenkt, dass der Kopfumfang eines Neugeborenen statistisch gesehen in etwa zwischen 33 bis 38 Zentimetern liegt, stellt man auch hier wieder fest, dass «normal» ein weiter Begriff von mindestens fünf Zentimetern ist. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Länge und das Körpergewicht eines Neugeborenen. Je nach Zeitpunkt der Geburt, ob ein Kind also zu früh, termingerecht oder sogar etwas verspätet zur Welt kommt, können Grösse und Gewicht ganz gewaltig variieren. Allein deshalb, weil ein Fötus ab der 37. Schwangerschaftswoche pro Tag ungefähr 30 Gramm Gewicht zulegt.
Normal geboren?
Ist das Kind erst einmal da, geht es mit den Fragen nach dem Normalen direkt weiter. «Kam das Kind normal zur Welt oder war es ein Kaiserschnitt?», ist dabei ein absoluter Klassiker, bei dem schon wieder eine Bewertung mitschwingt. Unzähligen Frauen hat eben dieser Eingriff bereits das Leben gerettet und egal ob eine Frau eine Vaginal- oder eine sogenannte Bauchgeburt hatte,sie hat auf wundersame Weise ein neues Leben hervorgebracht und sollte dafür respektiert und besonders im Wochenbett von allen Seiten liebevoll umsorgt und verwöhnt werden. Denn geht es der Mutter gut, geht es auch dem Kind gut.
Grösse oder Länge
Wer glaubt, dass man die Fragen nach dem «Normalen » nach der Geburt hinter sich gebracht hat, irrt sich gewaltig. Denn dann geht es direkt weiter. «Trinkt das Kind normal und nimmt es normal zu?» Diese Frage ist in den ersten Tagen und Wochen nach der Geburt omnipräsent. Gerade für Mütter, die sich fürs Stillen entschieden haben, kann das ein gewaltiger Stress sein. Denn Stillkinder verlieren in der Regel nach der Geburt etwas an Gewicht. Das hat damit zu tun, dass sie Körperflüssigkeiten ausscheiden und Milchproduktion der Mutter manchmal nicht sofort einsetzt. Wird diese heikle und sensible Phase nicht fachkundig begleitet, führt das bei vielen Frauen zu frühzeitigem Zufüttern mit der Flasche oder gar zum Abstillen. Zusätzlich behindert der damit verbundene Stress oft die optimale Milchproduktion. Nach Lehrbuch sollte die Gewichtsabnahme nach der Geburt nicht mehr als sieben Prozent des Geburtsgewichtes betragen und das Baby sollte dieses nach 10 bis 14 Tagen wieder erreicht haben. In den ersten drei Monaten nimmt ein Kind pro Woche 170 bis 330 Gramm zu. Das wird immer weniger, bis es zum Ende des ersten Lebensjahres hin nur noch 40 bis 110 Gramm pro Woche sind. Hierbei gilt aber wiederum, dass Kinder in einer Phase, in der sie viel Längenwachstum haben, oft im Gewicht etwas weniger zulegen. Normal ist also wiederum ein weiter Begriff und hängt mitunter nicht nur von der Ernährung, sondern auch von genetischen Faktoren ab.
Entwicklung in Schüben
Sobald Eltern eines Babys etwas Sicherheit bei der Ernährungsfrage gewonnen haben und das Gewicht im Normbereich liegt, wird der Schlaf ins Zentrum rücken. Gerne wird Eltern suggeriert, dass ein kleines Wesen, das zuvor monatelang im warmen, dunklen Mutterleib herumgetragen wurde, direkt neun oder zehn Stunden am Stück ruhig und wenn möglich sogar bereits im eigenen Zimmer durchschlafen sollte. Doch gerade am Schlaf lässt sich die Entwicklung eines Kindes wunderbar beobachten. Denn diese verläuft meist nicht linear, sondern in Sprüngen und genau diese Zeiten, in denen sich das Kind stark weiterentwickelt, können für das Kind und die Eltern ganz schön turbulent sein. Zahlreiche Studien und Bücher widmen sich dem Thema, wann genau diese Entwicklungssprünge einsetzen und wie sie sich bemerkbar machen. Oft sind damit auch Wertungen verbunden und das Kind wird dann zum Beispiel als quengelig und anstrengend beschrieben. Zusätzlich kann es für Eltern sehr belastend sein, wenn ihnen eine App auf dem Handy meldet, dass ihr Kind in fünf Tagen für zwei Wochen in eine mühsame Phase komme, weil es seinen dritten Entwicklungssprung durchmache. Oft wird dies zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, da sich Eltern direkt auf mögliche Schwierigkeiten fokussieren. Denn auch Entwicklungssprünge oder Schübe fallen nicht bei jedem Kind gleich aus. Fakt ist aber, dass oft in Zeiten, in denen sich die Wahrnehmung von Babys und Kleinkindern verändert, es stark wächst oder Zähne durchbrechen, auch das Thema Schlaf etwas schwieriger wird. Schlechte Nächte sind dann unter Umständen sogar normal und es kann hilfreich sein, wenn man sich immer wieder bewusst macht, dass es sich um eine Phase handelt, die irgendwann vorbei sein wird. Was die Schlafthematik erwiesenermassen bei vielen Eltern etwas erleichtert, ist die Tatsache, dass so um den vierten Monat herum bei den Babys der Tag-Nacht-Rhythmus einsetzt und man sich das gezielte Verdunkeln des Schlafraumes, auch tagsüber, zu Nutze machen kann. Denn so werden nicht nur Reize reduziert, sondern die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin wird beim Baby unterstützt. Auch die Einhaltung eines Schlafrhythmus und das Wissen darum, wie lange die Wachphasen eines Säuglings zwischen den einzelnen Schläfchen sein sollten, kann Eltern das Thema Schlaf leichter machen. Aber auch hier gilt im Endeffekt, dass normal ein weiter Begriff ist und nicht jedes Kind gleich viel Schlaf braucht.
Herausforderung Beikost
Und kaum trinkt ein Kind gut und hat seinen Schlafrhythmus in etwa gefunden, wird die Beikost zum grossen, alles dominierenden Thema. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, Babys bis zum sechsten Monat ausschliesslich zu stillen. Anderseits soll ab dem fünften Lebensmonat der Start der Beikost möglich sein. Meist liegt er zwischen dem fünften und siebten Monat des Kindes. Doch auch hier ist normal ein weiter Begriff. Während einige Kinder sehr früh Interesse am Essen signalisieren und zum Beispiel starken Speichelfluss haben, wenn sie bei essenden Menschen am Tisch sitzen, möchten andere Kinder am liebsten bis zum zehnten Monat nur gestillt werden. Dann gibt es auch die Kinder, die sich zwar sehr fürs Essen interessieren, aber mit Brei nur wenig anfangen können und praktisch direkt von der Brust oder dem Fläschchen zum Essen am Tisch übergehen. Was, während dem grössten Teil der Menschheitsgeschichte wohl die Norm war, wird heute unter dem Namen «Baby led weaning», was grob übersetzt für die Kind geführte Entwöhnung von der Brust steht, propagiert. Kindern wird also von Anfang an normale Kost, die natürlich entsprechend weichgekocht, aber nicht püriert und nicht gesalzen oder gezuckert wurde, angeboten. Schlussendlich gibt es auch hier eine enorme Spannweite des Begriffes normal und es gilt die Methode zu finden, die für das Kind am besten passt.
Auf sein Gefühl vertrauen
Doch nicht nur beim Schlafen und beim Essen, sondern auch bei der Bewegung, dem Spracherwerb, dem Sozialverhalten und so weiter sehen sich Eltern immer und immer wieder mit der Frage nach dem Normalen konfrontiert. «Ist mein Kind normal?», werden sie sich die ganze Kindheit lang fragen. Und ja, nebst dem breiten Spektrum an Normalen, gibt es auch immer wieder Abweichungen, die eben nicht mehr normal sind und die man nicht verpassen sollte. Meist haben Eltern da aber ein gutes Gespür dafür und sollten sie wiederholte Male Dinge beobachten, die nach ihrem Gefühl ausser der Norm sind, lohnt es sich direkt Fachleute zu konsultieren und sich nicht von unbedarften Kommentaren aus dem Freundes- oder Familienkreis verunsichern zu lassen. Oftmals hilft der Gedanke, dass die Norm in Bezug auf die Entwicklung eines Kleinkindes ein weiter Begriff ist, Eltern ruhig zu bleiben und dann zu entscheiden, ob das Normal hinterfragt werden, noch etwas weiter beobachtet oder eben als weiter Begriff betrachtet werden sollte.