Innerlich zerrissen

Kategorie: Gesundheit


ADHS im Erwachsenenalter ist ein Tabu-Thema. Die Betroffenen haben meist einen langen Leidensweg hinter sich, bis sie sich abklären lassen. Die Geschichte von Thomas zeigt, weshalb die Frühdiagnose wichtig ist und wie das «Beruhigtalin» helfen kann.



Thomas* sitzt auf dem Stuhl und schwenkt seine Beine unruhig hin und her. «Wie geht es Ihnen?», frage ich vorsichtig. «Ich bin nervös, es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen», antwortet er. Mit «darüber» meint er seine Krankheit, die ihn seit seiner Kindheit plagt: die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Sie würde nicht ernst genommen, «schon gar nicht bei einem Erwachsenen». Unrecht hat er nicht: ADHS wird weit verbreitet als Modediagnose abgestempelt, weshalb die Betroffenen kaum auf Verständnis stossen. Aussagen wie «sie könnten, wenn sie wollten» oder «sie seien faul, egoistisch und beziehungsunfähig» und «nicht liebenswert», treffen sie an der Achillessehne, schreibt die Badener Psychologin und Psychotherapeutin, Ruth Huggenberger, in ihrer neuen Publikation «ADHS in der Familie» (siehe Interview). Der «Modediagnose» gegenüber stehen die internationalen, weltweit anerkannten Klassifikationssysteme für medizinische Diagnosen ICD-10 und DSM-5: Beide siedeln die ADHS bei den psychischen Erkrankungen an und erachten sie als behandlungsbedürftig.

Krankheit mit fatalen Folgen

Wird sie nicht früh genug diagnostiziert und behandelt, ist nicht nur der Leidensdruck enorm – es können Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen, Delinquenz oder Persönlichkeitsstörungen entstehen, die das Leben zusätzlich erschweren. Die Krux: Die erste fundierte Darstellung der adulten ADHS in Europa erfolgte 1998. Davor galt sie als Jungend- und Kinderkrankheit, die im Volksmund mit Heinrich Hoffmanns «Struwwelpeter», oder dem «Zappel-Philipp-Syndrom» (äusser-liche Unruhe), in Verbindung gebracht wird. Hinzu kommt, dass man lange davon ausging, der Cortex (die Grosshirnrinde) reife nach und die seelische Störung wachse sich in der Pubertät aus. «Das hat man mir damals auch gesagt», erinnert sich Thomas.


Heute ist erwiesen, dass dies nicht der Fall ist. Genauso wenig ist die ADHS ein Erziehungsfehler oder eine Charakterschwäche. Die Mehrzahl der ADHSler ist intelligent, kreativ, fantasievoll, hilfsbereit und begeisterungsfähig. Zudem haben sie eine gute Portion Humor wie die Berühmtheiten Dustin Lee Hoffmann, Robin Williams, Stefan Raab und Will Smith, die sich öffentlich zu einem ADHS bekannt haben, beweisen.

Was geschieht im Gehirn bei ADHS?

Bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung handelt es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um eine genetisch bedingte Störung. Zu den Risikofaktoren gehört der Konsum von Alkohol, Benzodiazepinen (Beruhigungsmittel), Zigaretten oder anderen psychotropen Stoffen während der Schwangerschaft. Neurophysiologisch gesehen spielen die Botenstoffe Dopamin (Antrieb und -Motivation) und Noradrenalin (Aufmerksamkeit) die wichtigste Rolle. Neue Studien schreiben jedoch auch dem Serotonin (Impulssteuerung und Stimmungskontrolle) grosse Bedeutung zu.


Bei der ADHS ist die Informationsverarbeitung im Gehirn gestört. Ein Mangel dieser Botenstoffe führt unter anderem zu einem schlecht funktionierenden Reizfilter: Relevante und irrelevante Informationen können nicht oder nur unzureichend differenziert werden, was zu den üblichen Symptomen wie etwa Verträumtheit, Konzentrationsschwierigkeiten, impulsiven Handlungen, Hyper- oder Hypoaktivität, emotionaler Labilität, einer geringen Frustrationstoleranz sowie emotionalen Überreaktionen führt. Doch auch die psychosozialen Bedingungen, wie Erziehung und Reaktionen in der Umwelt, bestimmen zum Teil den Verlauf und die Ausprägung der ADHS.



Wenn der Leidensdruck zu gross wird

Thomas konnte als Kind nicht ruhig sitzen. Er war laut, unkonzentriert und hatte Ticks. Die ADHS-Diagnose erhielt er mit acht Jahren, worauf er in eine zweijährige multimodale Therapie (ohne Medikamente) geschickt wurde. 19-jährig schloss er die Lehre ab und zog in seine eigene Wohnung. Doch es sollten zwölf schwierige Jahre folgen, geprägt von vielen Jobs, finanziellen Problemen, Drogen, Frauen und Depressionen. Erst als er seine heutige Lebenspartnerin traf, kam er «aus dem Sumpf».

Kurz nach der Schmetterlingsphase machten sich in der Patchwork-Familie die ersten Probleme bemerkbar. Unzuverlässigkeit, Lügen, Unruhe, Impulsivität und Wutausbrüche führten zu heftigen Eskalationen zwischen dem Paar. «Ich war unter Druck und überfordert, ich hatte meine Gefühle nicht im Griff», blickt er zurück. Die innere Unruhe und der Druck, auch im Geschäft, wurden immer grösser. Auf den Rat seiner Freundin liess er sich nochmals abklären. «Ich habe ein ausgeprägtes ADHS. Nach der Diagnose war mir klar, weshalb ich mein Leben lang immer wieder in dieselben Schwierigkeiten geraten war.»


Thomas ist kein Einzelfall. Studien belegen, dass die im Kindesalter diagnostizierten ADHS-Symptome in 40 bis zu 60 Prozent der Fälle weiterhin vorliegen, wobei die motorische Unruhe bei Erwachsenen aufgrund schlechter Erfahrungen meist kaum sichtbar ist. Sie wird als innere Anspannung oder als ein ständiges «auf dem Sprung sein» wahrgenommen (siehe Box). Thomas begab sich in eine Therapie bei einem Psychiater und erhielt ein Medikament nach dem anderen, darunter Ritalin. Doch keines zeigte Wirkung, weshalb er sich über alternative Therapien informierte. Er sei dabei auf die Urtinktur Schisandra gestossen. «Ich kann nicht sagen, wie sie genau wirkt, aber ich bin ausgeglichener.»


« Ich war unter Druck und überfordert, ich hatte meine Gefühle nicht im Griff. » Thomas

Alternative Möglichkeiten statt Ritalin

Schisandra ist seit über 2000 Jahren geschätzt. In der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM) nennt man sie die «Frucht der fünf Geschmäcker». Die chinesische Beerentraube wirkt auf alle Organe, besonders ausgeprägt und gut belegt ist die stärkende Wirkung auf die Leber. Sie ist auch ein Adaptogen (ausgleichend) und hilft emotional unter anderem bei Stress, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Deshalb wird die spagyrische Urtinktur Schisandra von Aurora Pharma auch als «Beruhigtalin» bezeichnet und, wie der Hersteller bestätigt, von vielen Ärzten und Psychotherapeuten bei ADHS eingesetzt – dies mit grossem Erfolg, sei es als Begleittherapie, beim Absetzen von Ritalin oder als Einzeltherapie.


Von der Firma Ceres können bei den Themen Kopflastigkeit die Urtinktur «Valeriana», bei Bewegungsunruhe und Angst «Passiflora incarnata» und bei Überforderung «Avena sativa» zum Einsatz kommen. Auch Bachblüten helfen, wie Erfahrungswerte zeigen: Die Gelassenheitsblüte Cherry Plum als Beispiel hilft demjenigen, der seine Gefühle nicht kontrollieren kann und um seine Selbstbeherrschung ringt. Eine Studie der Universität Bern ergab, dass ADHS-Symptome mit Homöopathika gelindert werden können. Häufig verordnet werden Calcium carbonicum, Lycopodium und Sulfur sowie Belladonna, Causticum, Chamomilla, Ignatia, Nux vomica, Phosphor oder Silicea. Wichtig sei eine Dauertherapie.


Ein grosses Thema ist die Ernährung. Eine ADHS-Diät gibt es zwar nicht. Laut Studien sollen Nahrungsmittelintoleranzen, Nahrungsmittelallergien, Umweltgifte und Mikronährstoffdefizite aber eine nahrungsmittelinduzierte ADHS-Symptomatik auszulösen. Propagiert wird die Supplementierung mit Eisen und Zink (bei Mangel) sowie der Verzicht auf Zucker, Süssstoffe und Zusatzstoffe. Die Leistungsfähigkeit steigern und die psychische Verfassung positiv beeinflussen sollen langkettige Omega-3-Fettsäuren.//





gefragt:

Ruth Huggenberger *





«  Die adulte ADHS wird stiefmütterlich behandelt   »

Immer mehr Erwachsene lassen sich bei Ruth Huggenberger in ihrer Praxis in Baden auf ADHS abklären. Im Mai 2019 erschien ihr Buch «ADHS in der Familie». Erna Jonsdottir traf die Psychologin und Psychotherapeutin für ein Gespräch.

Ruth Huggenberger, die ADHS gibt es nicht, so die verbreitete Meinung.

Das ist ein grosses Problem, die ADHS im Erwachsenenalter wird erst recht stiefmütterlich behandelt. Deshalb ist ein Teil meiner Arbeit die Aufklärung in der Öffentlichkeit. Tragisch ist, dass sie sogar von Fachleuten teilweise infrage gestellt wird.


Bei welchen Anzeichen sollte man sich abklären lassen ?

Wer Probleme mit der Aufmerksamkeit hat, oft zu spät kommt, Arbeiten vor sich herschiebt oder nicht abschalten kann, Beziehungsprobleme hat oder nie zur Ruhe kommt und immer gereizt ist, sollte genauer hinschauen, vor allem, wenn ein grosser Leidensdruck herrscht.


So wie bei Thomas ?

Es braucht meistens einen grossen Leidensdruck, bis sich ein Erwachsener abklären lässt. Der Missbrauch von Drogen, aber auch Depressionen, Angst, Kauf- oder Esssucht, sich nicht binden können, viele Jobwechsel und Beziehungsprobleme sind ganz typisch für eine adulte AHDS, er ist kein Einzelfall. Die Krux: Thomas und seine Lebenspartnerin, die kein ADHS hat, leben auf zwei verschiedenen Sternen.


Was heisst das für deren Alltag ?

Ihre Denkweise und Kommunikation sind komplett anders, was zu Missverständnissen und Streitereien führt. Deshalb schlage ich bei Abklärungen vor, dass der Partner mitkommt. Wenn man sich interessiert, kann man noch näher zusammenwachsen.


Wie sieht eine Abklärung aus ?

Die Diagnose ist ein Mosaik aus vielen kleinen Bausteinen. Es gibt keine standardisierte Abklärung, jedoch Richtlinien. Im Vordergrund steht das Gespräch mit dem Betroffenen und dessen Anamnese sowie die Ist Situation. Hinzu kommt ein standardisierter Fragebogen, ein Leistungs-, Wahrnehmungs- sowie Konzentrationstest. Danach erstelle ich einen Fachbericht, der besprochen wird, und kläre auf, welche Therapie-Möglichkeiten es gibt. Dazu können auch Gesprächsgruppen gehören. Zum Schluss erfolgt die körperliche Untersuchung bei einem Arzt.


Braucht es immer Medikamente  ?

Die Therapie ist eine komplexe Sache, die Zeit in Anspruch nimmt. Sie sollte auf jeden Fall multimodal sein. Die Verhaltenstherapie ist ein wichtiger Teil, genauso wie die Entwicklung von Strategien im Alltag. Sind Traumata vorhanden, sollten diese gelöst werden. Parallel muss man schauen, was im Alltag ansteht. Die meisten Erwachsenen nehmen eine Zeitlang Medikamente ein, bis sie sich die nötigen Strategien angeeignet haben.

* Ruth Huggenberger. Die 54-jährige Psychotherapeutin Dr. phil. Ruth Huggenberger ist seit über zehn Jahren auf die Abklärung und Therapie der ADHS und deren Folgeerscheinungen spezialisiert. Sie doziert an der Fachhochschule Nordwestschweiz und weiteren Instituten. 2015 gründete sie die Non-Profit-Vereinigung für Betroffene und Angehörige: www.adhs -info-schweiz.ch


Buchtipps






Ruth Huggenberger «ADHS in der Familie», Hogrefe Verlag, 2019, Fr. 32.50








Russel A. Barkley «Das grosse Handbuch für Erwachsene mit ADHS», Hogrefe Verlag, 2017, Fr. 39.90








Ulrike Schäfer und Eckart Rüther «ADHS im Erwachsenenalter – Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige»,

Hogrefe Verlag, 2005, Fr. 21.90







Fotos: istockphot.com

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