Ich habe «Rücken»

Jede vierte Person fühlt sich durch Rückenbeschwerden bei der Erwerbstätigkeit beeinträchtigt. Neben dem zu langen Sitzen gehören falsch eingestellte Büromöbel und einseitige sowie falsche Bewegungen zu den Ursachen.




Jeden Morgen um 7.15 Uhr wird bei Stadtgrün Luzern geturnt. Und das bereits seit zehn Jahren. «Wir waren und sind immer noch überzeugt, dass dies für unsere Mitarbeitenden eine positive Sache ist», sagt Otto Helfenstein, stellvertretender Ressortleiter Zentrale Dienste. Je nach Platzverhältnissen findet das Turnen im oder um eines der Depots des Stadtgrüns statt. (Siehe links) Einige Mitarbeitende übernehmen dabei abwechslungsweise das Vorturnen. Otto Helfenstein ist von der Wirkung des morgendlichen Turnens überzeugt: «Viele Mitarbeitende sind dadurch sensibler für Gesundheitsthemen geworden. Sie befassen sich auch in der Freizeit mehr mit Bewegung und dem Thema Gesundheit.» Die Reaktionen seien durchwegs positiv. Offenbar schätzen die Mitarbeitenden des Stadtgrüns die Zeit, die sie am Morgen in ihre Gesundheit investieren. Auf diese Weise konnten die für ihren Beruf typischen Beschwerden wie Rücken-, Schulter-, Handgelenk-, Hüft- und Knieprobleme reduziert werden.

215 Millionen Stunden Arbeitsausfälle

Rückenschmerzen sind in der Schweiz weit verbreitet und betreffen alle Altersgruppen und Berufe, wie der Rückenreport Schweiz 2020 der Rheumaliga Schweiz ergeben hat. Die Umfrage zeigt, dass 88 Prozent der Befragten in ihrem Leben bereits einmal an Rückenschmerzen gelitten haben. Frauen und sozioökonomisch schlechter Gestellte sind laut dem Rückenreport häufiger von Rückenproblemen betroffen. Jede vierte Person fühlt sich durch Rückenbeschwerden offenbar bei der Erwerbstätigkeit beeinträchtigt. Etwas weniger als ein Drittel der Betroffenen ist aufgrund von Rückenschmerzen bereits einmal am Arbeitsplatz ausgefallen. Laut den Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) erhöhten sich die Absenzen am Arbeitsplatz zwischen 2007 und 2017 von 176 auf 215 Millionen Stunden. Diese gehen mehrheitlich auf Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems wie Rückenschmerzen zurück.


Wir sitzen zu lange!

Für Barbara Zindel, diplomierte Physiotherapeutin FH mit einer ergonomischen Zusatzausbildung und zuständig für Projekte bei der Rheumaliga Schweiz, liegen die Ursachen für Rückenprobleme am Arbeitsplatz vor allem beim Menschen selber: «Viele, die im Büro arbeiten, sitzen zu viel – zuerst im Beruf, während des Pendelns im öffentlichen Verkehrsmittel oder Auto und dann abends auch noch zuhause vor dem Bildschirm.» Wie eine Studie des BFS ergeben hat, verbringen die 15- bis 74-Jährigen im Durchschnitt vier bis fünf Stunden pro Tag im Sitzen. Ein Sechstel der Befragten verharrt sogar mehr als 8,5 Stunden täglich in dieser Position.

Das lange Sitzen löst – so Barbara Zindel – muskuläre Beschwerden in den Beinen wie auch im Rücken sowie die Gefahr von Herzkreislauferkrankungen aus. Vor allem die Sauerstoffzufuhr und der Blutfluss verlangsamen sich beim Sitzen, was sich schlussendlich schädlich auf die Muskulatur und Gelenke auswirkt. «80 bis 90 Prozent der Rückenschmerzen sind auf ein muskuläres Ungleichgewicht vor allem im Bauch- und Rückenbereich zurückzuführen.» Laut Studien aus den USA lässt sich zu langes Sitzen am Arbeitsplatz auch nicht durch Sport am Abend kompensieren.


«Viele Mitarbeitende sind dadurch sensibler für Gesundheitsthemen geworden.»

Falsche Einstellung der Büromöbel

Ein weiteres Problem liege bei der unsachgemässen Anwendung von Büromöbeln. «Ich habe über 2000 Büros besucht und beraten. Dabei stellte ich vielerorts fest, dass Bürostühle, Tische und Stehtische in vielen Fällen nicht richtig eingestellt sind.» Obwohl in vielen Büros Stehtische angeschafft wurden – oft auch auf Wunsch der Mitarbeitenden selbst –, beobachte die Mitarbeiterin der Rheumaliga Schweiz, dass die Tische nur selten im Stehen genutzt werden.

Ein weiteres Beispiel: Dynamisch einstellbare Rückenlehnen von Bürostühlen bleiben häufig ungenutzt, weil viele der Büroangestellten gar nicht wissen, wie man diese Zusatzfunktionen richtig aktiviert. Das Problem einer schlechten Haltung und unergonomischer Büromöbel habe sich im Zuge des Home-Office-Trends zusätzlich verstärkt.






























































Rückenprobleme bei körperlicher Arbeit

Neben Büroangestellten sind auch Personen von Haltungs- bzw. Rückenschäden betroffen, die vor allem körperlich arbeiten. Menschen, die an Fliessbändern arbeiten, leiden laut Barbara Zindel häufig an Rückenschmerzen und Krampfaderproblemen, die durch das lange Stehen hervorgerufen werden. Eine Sitz-Steh-Hilfe würde die Rückenmuskulatur entlasten, ebenso ergonomische Fussmatten mit einer dämpfenden Wirkung. «Repetitives Arbeiten führt oft zu Fehlhaltungen», ergänzt die Physiotherapeutin. Bei Lastwagen- und Buschauffeure hingegen mache sich das lange Sitzen in Form von Beschwerden am Rücken, vor allem im unteren Rücken, bemerkbar. Barbara Zindel rät, das Sitzen regelmässig mit Gehpausen und kleinen Bewegungsübungen sowie Dehnungen zu unterbrechen, um den Rücken zu entlasten. Gewichte heben

Das Heben von schweren Gewichten birgt weitere Gefahren für den Rücken. Um kleine Gewichte zu heben, dürfe man schon mal den Rücken beugen, sollte sich jedoch mit der einen Hand am Oberschenkel abzustützen, erklärt Barbara Zindel. Doch ab ca. fünf Kilogramm sollte man auf eine korrekte Haltung achten. Das heisst: Heben mit geradem Rücken und gebeugten Knien. Eine gute Hebetechnik schont nicht nur die Bandscheiben, sondern den ganzen Bewegungsapparat. Sie hat zusätzlich einen gewissen Trainingseffekt und stärkt die Muskulatur. Je weiter man sich indes nach vorne beugt und je grösser das Gewicht, umso grösser ist die Belastung der Bandscheiben. «Deshalb sollte man schwere Lasten stets ums Eck anheben», ergänzt Barbara Zindel und rät, das Gewicht nahe an sich zu nehmen und sich mit dem Gegenstand zu drehen. (fm)


Dynamisches Sitzen

Schon seit Jahren ist das Angebot an «ergonomischen» Büromöbeln gross. Doch sind ergonomische Büromöbel, die zum Beispiel ein dynamisches, bewegtes Sitzen ermöglichen, oder höhenverstellbare Tische, an denen man auch im Stehen arbeiten kann, des Problems Lösung? Nur bedingt, findet Barbara Zindel. Wichtig sei, dass man die Möbel korrekt einstellen und bedienen kann. Von Bürostühlen ohne Rückenlehne etwa hält sie wenig: «Es braucht eine dynamisch verstellbare und auch fixierbare Rückenlehne, damit sich die Rückenmuskulatur beim Anlehnen immer wieder entlasten kann.» Auf diese Weise unterstütze der Bürostuhl die Angestellten in allen Sitzhaltungen. Ein weiterer wichtiger Faktor beim Bürostuhl sei die Sitztiefe: Der Abstand zwischen Stuhlkante und Kniekehle dürfe nicht mehr oder weniger als zwei Fingerbreiten umfassen. Ist der Abstand grösser, besteht laut Barbara Zindel die Gefahr eines krummen Rückens, weil die Oberschenkel zu wenig unterstützt werden und dadurch eine Fehlhaltung begünstigt wird. Liegt die Kniekehle eng an der Stuhlkante, werde die Blutzufuhr in die Beine zu stark abgeschnitten. Zwischen Ober- und Unterschenkel sowie zwischen Oberschenkel und Rumpf sollte ein Winkel von 90 Grad oder etwas grösser sein. Da man beim dynamischen Sitzen verschiedene Muskelstrukturen, die Rückenmuskeln und auch Bauchmuskeln unterschiedlich und im Wechsel beansprucht, werden einseitige Belastungen vermieden. Gleichzeitig be- und entlastet man dadurch die Bandscheiben auf natürliche Weise. Dies wirkt sich positiv auf die Nährstoffversorgung der Bandscheiben aus. Und schliesslich erhöht das dynamische Sitzen die Durchblutung – vom Körper bis zum Gehirn.

Zu langes Stehen ist ungesund

Der Wechsel zwischen Sitzen und Stehen wirke sich auf den Rücken grundsätzlich positiv aus, sagt Barbara Zindel – doch: «Die Tische müssen leicht verstellbar sein, am besten elektrisch, sonst bleiben die Tischflächen meistens unten.» Die Physiotherapeutin empfiehlt, mindestens eine halbe bis Dreiviertelstunden pro Halbtag im Stehen zu arbeiten. Eine Studie der australischen Curtin University hat allerdings ergeben, dass selbst Stehtische für Büroangestellte nicht unbedingt die gesündere Alternative darstellen. Dafür beobachteten die Forschenden 20 Personen bei der Arbeit. Laut der Studie kann längeres Stehen die Gesundheit und Produktivität negativ beeinflussen. Die Studienteilnehmenden klagten über Muskelentzündungen und Schwellungen der Beine.

Tiefenmuskulatur stärken

Vom Körperbau her müsste der Mensch jeden Tag einige Kilometer weit gehen. Doch nur die wenigsten sind dazu allein aus zeitlichen Gründen in der Lage. Trotzdem ist es laut Barbara Zindel wichtig, bewusst für genügend Bewegung zu sorgen. Um den Rücken während des Büroalltags zu entlasten, empfiehlt sie, regelmässig aufzustehen und einige Schritte zu laufen, sich zwischendurch zu strecken sowie Pausen und Kurzpausen bewusst einzuplanen. Das Stärken der Rücken- und Bauchmuskulatur wirke ebenfalls präventiv gegen Rückenschmerzen. Vor allem die Tiefenmuskulatur, nahe an den Gelenken gelegen, sollte trainiert werden, empfiehlt Barbara Zindel und schlägt dazu Sportarten wie etwa Pilates, Antara oder Yoga vor. «Allein die äusseren Muskeln zu trainieren, reicht nicht, weil sie dem Rücken nicht genügend Stabilität verleihen. Deshalb leiden zum Teil auch Bodybuilder*innen unter Rückenproblemen.»

www.rheumaliga.ch


www.suva.ch






Barbara Zindel, diplomierte Physiotherapeutin FH mit einer ergonomischen Zusatzausbildung und zuständig für Projekte bei der Rheumaliga Schweiz.


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