«I bi no da» – eine Leidens- geschichte, die Mut macht
Ihre Krankenakte ist seitenlang. Ihre zahlreichen Diagnosen niederschmetternd. Doch Mirjam «Mirja» Gygax aus Konolfingen ist trotz körperlichen Einschränkungen eine Powerfrau, die aus der ihr zur Verfügung stehenden Kraft sehr, sehr viel macht.
Samuel Krähenbühl

Stell dir vor, dein Antrieb ist die Musik und du bringst alles mit, was eine Sängerin braucht. Deine Stimme ist einzigartig, du komponierst, spielst Instrumente und die Textideen fliegen dir buchstäblich um die Ohren. Die Zeichen für eine erfolgreiche Karriere stehen gut. Genau so geht es Mirjam «Mirja» Gygax aus Konolfingen. Ihre Krankheitsakte ist lang. Am Anfang steht vor 24 Jahren eine Gesichtslähmung, deren Ursache nicht sofort gefunden wird. Im Jahr 2007 muss der Kieferknochen durch eine Prothese ersetzt werden. 2008 folgt die Diagnose Multiple Sklerose. Dazu, dazwischen und danach: Immer wieder Magen-Darm-Probleme. Das sind nur einige der wichtigsten Diagnosen, die Mirja erhält. Ganze fünf Seiten füllt die chronologische Zusammenstellung ihrer Krankheitsgeschichte in der neu erschienenen Biographie «Herzklang».
Enormer Einsatz trotz Einschränkungen
Doch wenn man die quirlige Mitvierzigerin live erlebt, würde man zunächst nicht glauben, was sie alles hinter sich hat. Zwei lebendige und fröhliche Augen schauen einen aus dem hübschen Gesicht an. Dass sie eine Kieferoperation hatte, sieht man effektiv nur, wenn man es weiss. Und was sie alles so leistet im Leben. Da ist zunächst ihr erlernter Beruf als Primarlehrerin. Nachdem sie jahrelang in der Volksschule gearbeitet hat, ist sie nun selbständig tätig. Im eigenen Haus in Konolfingen führt sie eine Art Lernatelier für Homeschooling-Kinder der 1. bis 6. Klasse in den Fächern Deutsch, Mathematik und Musik.
Die Lehrerin mit Leidenschaft hat aber auch immer wieder selbst geschriebene Musicals mit ihren Schülerinnen und Schülern einstudiert. Und es nicht dabei bewenden lassen. Sie hat unter dem Titel «Phips und die Zauberlinse» nicht weniger als fünf illustrierte Musikbücher mit integrierter CD der Tonaufnahmen herausgegeben. Teilweise bereits in zweiter oder gar dritter Auflage. Ein sechstes zum Thema Piraten ist in Planung. Dazu hat sie mit ihrem Mann dessen vier Kinder, die er in die Ehe brachte, aufgezogen.
Traum wird weitergelebt
Und auch die Musik hat sie nie losgelassen. Obwohl ihre Gesundheit weder lange Studiozeiten noch eine Konzerttournee zulässt, realisierte sie bereits ihr siebtes Album. Musik machen ist ihr grosser Traum geblieben und zur Medizin geworden. Denn trotz allen Schwierigkeiten ist sie noch da, wie es das folgende, von ihr selbst komponierte und vertonte Lied zum Ausdruck bringt:

«Ich erlebe zwar viel Scheisse, aber daraus wird viel Gold»
Mirjam Gygax ist zwar erst 45 Jahre alt. Aber sie hat eine Krankenakte, wie sie nicht viele Neunzigjährige haben. Doch trotz aller Schwierigkeiten leistet sie Enormes. Im Interview erklärt sie, wie sie trotz Handicaps ihr Leben erfolgreich meistert.
Interview: Samuel Krähenbühl
«natürlich»: Die Kurzfassung Ihrer Krankenakte in Ihrer Biographie «Herzklang» füllt nicht weniger als fünf Seiten. Sie startet im Jahr 2000, als Sie 21 Jahre jung waren, mit einer misslungenen nasalen Impfung. Wie war Ihre Gesundheit zuvor?
Mirjam Gygax: Ich nenne die Auflistung meiner Krankheitsgeschichte selbst «Chronologie des Schreckens». Die Lähmung war schon eine sehr einschneidende Erfahrung. Ich startete zwar noch als gesundes Baby, war dann aber schon als Kind häufig krank.
Trotz dieser «Chronologie des Schreckens» wirken Sie aber immer fröhlich, lebendig und optimistisch …
Nein, ich bin nicht immer fröhlich. Ich habe bereits früh gelernt, mich hinter einem lachenden Gesicht zu verstecken. Das ist eine reine Selbstschutzfunktion. Wenn man sich schwach gibt als Jugendliche, ist man ein Angriffsobjekt.
Ist denn Ihre positive Lebenseinstellung gespielt?
Nein, ich bin ein positiver Mensch, der darauf schaut, was möglich ist. Und nicht darauf, was nicht geht. Und ich finde immer wieder Wege, damit ich machen kann, was mir wichtig ist. Diese positive Lebenshaltung habe ich von meinen Eltern mitbekommen. Ich habe Freude an Menschen, an der Welt. Ich bin ein unverbesserlicher Optimist. Die «Strahlefrau» gibt es also schon. Das ist die eine Seite. Im Buch war es mir aber ein Anliegen, auch die Schattenseite zeigen zu dürfen. Meine Schwierigkeiten, Tiefs, Krisen.
Ihre Krankheitsgeschichte ist echt beeindruckend.
Das sind die nackten Fakten. Doch es ist auch wieder nur die eine Seite, denn hier schaut man nur auf das Defizit. Jede Herausforderung bietet aber auch Chancen. Das macht die Resilienz aus. Es ist immer beides. Das kommt auch in meinen Liedern zum Ausdruck.
Wie kam es dazu, dass Sie Ihre Leidensgeschichte in Ihren Kompositionen verarbeiten?
Ich habe schon mit 14 Jahren angefangen, Lieder zu komponieren. Das gehört zu meiner hochsensiblen Natur, die hatte ich von Anfang an. Ich musste so vieles verarbeiten. Die Lieder waren immer mein Weg, meine Erfahrungen und Gefühle zu verarbeiten, da konnte ich immer alles rausgelassen.
Sie haben trotzdem viel auf die Reihe bekommen …
Ja, brutal viel. Ich könnte viel stolzer sein, als ich bin. Ich habe es vielleicht auch aus einem inneren Drang herausgemacht. Es steckte eine gewisse Verzweiflung darin, dass ich mich nicht ausbremsen lassen wollte. Doch wenn der Körper streikt, geht nichts mehr. Dann gibt es aber auch die schönen Momente, an denen ich denke: Ich habe es geschafft. Etwa an der Buchvernissage zu meiner Biographie «Herzklang» in der «Alten Oele» in Thun. Das ganze Konzertlokal war randvoll mit Menschen, die mir nahestehen, die meine Musik mögen. Es war so viel Liebe im Raum! Diesen Moment werde ich ein Leben lang mitnehmen. Das sind dann die «I bi no da»-Momente. Dieser Song auf meinem neusten Album bringt meinen Wesenskern auf den Punkt.
Man könnte es also wie folgt auf den Punkt bringen: Viel Talent, aber der Sprit reicht nicht für ein Langstreckenrennen?
Ja, genau. Ich möchte so vieles! Ich bin begeisterungsfähig, habe viele Ideen. Aber dann bremst es mich wieder aus. Das frustriert mich enorm! Ich sehe immer so viele Möglichkeiten, aber dann sagt das System wieder: Nein, fertig. Das ist schwierig zu akzeptieren. Die Frustration führt zu Trauer, ja, manchmal fast in die Depression. Ich erlebe deshalb immer wieder Berg- und Talfahrten. Auf grosse Visionen folgen grosse Frustrationen.
Aber es gibt auch immer wieder beeindruckende Erfolge.
Ja, das stimmt. Ich habe fünf Zauberlinsenbücher und drei Lehrmittel herausgegeben. Und jetzt auch noch eine Biographie über mich. Das alles habe ich geschafft, vieles geschenkt bekommen.
… und Sie haben soeben einen neuen Tonträger und eine Biographie über sich herausgebracht, die Ihre Musik aufnimmt. Wie ist das im Rückblick?
Die Kombination von Musik und Text finde ich genial, das ist einmalig! Das war wieder einmal himmlische Logistik, das passiert mir immer wieder im Leben. Ich erlebe zwar viel Scheisse, aber daraus wird viel Gold.
Was war die grösste Angst?
Nach meiner Diagnose von Multipler Sklerose (MS) war nicht der Rollstuhl meine grösste Angst, sondern dass ich Depressionen bekommen könnte. Doch ich erlaube das Wunder! Ich habe meine Krankheit in Gedanken «umprogrammiert», von unheilbar auf heilbar. Ich habe wohl den besten Verlauf von MS, den man haben kann, dafür bin ich extrem dankbar.
Was bringt die Zukunft?
Hoffentlich ganz viel Musik und schöne Begegnungen mit Herzensmenschen! Ich glaube, am Ende zählen nur die Beziehungen, die man gelebt und geliebt hat.
Mirjam Andrea Gygax-Strässle
Mirjam Andrea Gygax-Strässle (*1979) ist Primarlehrerin, Musikerin und Sängerin sowie Gesundheitscoach. Sie arbeitet als Lehrerin, ist Autorin (Phips und die Zauberlinse, Werkbucher Zytglogge) und Musikerin und Sängerin in diversen Projekten. Sie hat vier erwachsene Stiefkinder und lebt zusammen mit ihrem Mann und zwei Katzen in einer ehemaligen Schoggimanufaktur am Tor zum Emmental.