Heilige Zeit, heilende Zeit
Was bedeutet heilige Zeit? Und wie können wir mit ihr umgehen, damit sie zur heilenden Zeit wird? Anhand der heiligen Familie – Maria, Josef und das Jesuskind – zeigen wir, wie es in unseren Herzen Weihnachten werden kann. Wir sind im Inneren heiliger als wir meinen und es ist heilsam, dies anzuerkennen und zu leben.
Barbara Zanetti
Heilig – ein selten gewordenes Wort in unserer Gesellschaft, es mutet an wie aus der Mottenkiste vergangener Zeiten stammend. Einst wurde mit heilig etwas Geheimnisvolles verbunden, das Glanz und Gloria beinhaltet. Es interessierte mich, was Menschen in meinem Umfeld darunter verstehen. Folgende Antworten wurden gegeben: heilig ist etwas Kostbares, Wertvolles. Es ist unantastbar. Wenn man es erfährt, macht es demütig, bringt einen ins Erstaunen. Heilig ragt aus dem Alltag hervor, es befindet sich auf einer anderen Ebene, besitzt eine grössere Dimension. Es hat mit Wundern zu tun. Man kann es nicht mit dem Verstand begreifen. Jemand meinte, heilig sei eine Art Verbindung vom Irdischen zum Himmlischen. Jemand anderes sagte, die Schöpfung sei heilig, und sie sei Lebensgrundlage von allem. Es ist alles heilig. Dagegen wird gehalten, dass heilig verteilt werde als Beschreibung und Bewertung, sieh die Heiligsprechung in der katholischen Kirche. Als ich nachfragte, ob sie selbst heilig seien, verneinten sie es alle. Sie seien zu wenig vollkommen. Und sie machten alle einen Unterschied zwischen göttlich sein von der Herkunft her und heilig sein.
«Heilig ist das, was aus dem Alltag herausragt und uns mit Staunen und Demut erfüllt.»
Was hinter dem Wort heilig steckt
Das Wort heilig geht zurück auf Wörter im Althochdeutschen, die eigen, Eigentum bedeuten, dann auch Zauber, Glück, günstige Vorzeichen. Ebenso steckt das Wort heil dahinter mit der Bedeutung von gesund, unversehrt, gerettet. Die sprachgeschichtliche Forschung zeigt in allen germanischen Sprachen Zusammenhänge von heil mit verwandten Wörtern wie: ganz, gesund, frisch, ungeschwächt. Der Theologe und Religionsphilosoph Rudolf Otto (1869–1937) beschreibt das Heilige in seinem Klassiker der Religionswissenschaft («Das Heilige») als etwas Numinoses, etwas Religiöses, das in allen Religionen lebt, sonst wären es keine Religionen. Es macht ihr Innerstes aus, ist rational nicht erfassbar, wohl aber können Erfahrungen davon gemacht werden. Als Geheimnis, das Erstaunen und Sich-Wundern auslöst, als Anziehendes und Faszinierendes stellt er es dar.
Heilige Zeit
Die heilige Zeit wird – wie der heilige Raum, die heilige Handlung, das heilige Wort usw. – in den Religionen abgegrenzt von der profanen Zeit. Tabuvorschriften schützen die heilige Zeit, vor allem durch das Verbot von Arbeit, durch die sie entheiligt wird. Indigene Völker verknüpfen ihre Feste mit dem Leben der Natur, nomadisierende Herdenbesitzer*innen mit der Erstgeburt der Tiere, Ackerbäuer*innen mit Aussaat und Ernte. Dazu kommen die mit dem Lauf der Gestirne verbundenen Feste: Sommer- und Wintersonnenwende, Voll- und Neumond. Die Naturfeste gingen in den orientalisch-hellenistischen Mysterienreligionen wie im Judentum und Christentum in heilsgeschichtliche Feste über. So wurde das jüdische Passahfest aus einem Fest der Erstlinge der Herden und des Erntebeginns zu einem Fest der Erinnerung an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten.
Das christliche Osterfest wurde aus diesem und aus dem Fest des wiedererstandenen Vegetationsgottes oder der Frühlingssonne (Ostara) zum Fest des Gedenkens an die Auferstehung von Jesus Christus. Judentum und Christentum gestalten ein ganzes heiliges Jahr, an dessen Festen die einzelnen heilsgeschichtlichen Akte der Vergangenheit zu einer lebendigen Gegenwart werden, durch Erinnern, Feiern, Spielen und Zelebrieren. Anhand der heiligen Familie soll gezeigt werden, wie das Sich-Öffnen für und Vergegenwärtigen des Heiligen auch für uns heute heilend und heilsam werden kann.
Die heilige Familie
Im Anschluss an die Kindheitsgeschichten im Lukas- und Matthäusevangelium wird in der röm.-kath. Kirche unter der heiligen Familie Jesus mit seiner Mutter Maria und seinem Vater Josef verstanden. Die Familie kann als Gefäss angesehen werden, die Seelen ermöglicht, hier auf die Erde zu kommen, einen physischen Körper anzunehmen. Offenbar war für die Seele von Jesus das Gefäss, das seine Eltern Maria und Josef bildeten, die ideale Voraussetzung, um geboren zu werden und seine Aufgabe hier auf der Welt zu verwirklichen. Von Maria berichtet die Bibel, dass in ihr das göttliche Kind, der Erlöser, Mensch werden solle. Sie soll als unverheiratete Frau ein Kind gebären. Menschlich gesprochen eine Zumutung. In der damaligen Welt Israels stellte das eine grosse Schande dar. Sie wusste, dass niemand sie verstehen und dass sie wie eine Ausgestossene behandelt würde.
Trotzdem wird ihr klar, dass dies ihr Weg ist. Gott hat ihn für sie vorgezeichnet und durch den Engel Gabriel verkünden lassen. Deshalb sagt sie Ja dazu. Maria steht so stellvertretend für Menschen, die der Stimme Gottes in ihrem Inneren lauschen, die den Plan für ihr Leben erkennen und Ja sagen dazu. Weil es nichts Wichtigeres gibt als das. Egal, ob andere Menschen sie verstehen, egal, was sie dazu sagen. In der Ewigkeit wird es darauf ankommen, dass wir den Weg gegangen sind, den wir im Herzen geführt werden. Nur so wird das göttliche Leben auch in uns geboren, wird es Weihnachten in unserem Leben.
Josef ist der erste, der das neue Leben in Maria entdeckt. Er versteht es nicht und sucht einen Ausweg aus der Misere. Er will Maria nicht verurteilen, aber auch nichts mit dem neuen Leben in ihr zu tun haben. Aber Josef ist ein Mensch, der ebenfalls auf die göttliche Stimme in seinem Leben lauscht. Er vernimmt die Botschaft des Engels im Traum und – er nimmt sie ernst. Er erkennt, dass es seine Aufgabe ist, das neue Leben, das göttliche Kind, zu schützen. So nimmt er Maria zu sich und bekennt sich zu ihr und zum Kind und bewahrt sie vor dem Gerede der Leute. Später führt er, wieder auf Geheiss des Engels, Maria und das Kind nach Ägypten und bewahrt so des Kindes Leben vor dem Morden des Herodes. Josef steht für die schützenden und bewahrenden Kräfte in unserer Seele. Diese Kräfte sind wichtig. Wenn wir Ja sagen zum Weg Gottes mit uns, wenn neues göttliches Leben in uns geboren wird, dann ist dieses von mancherlei Gefahren bedroht. Bedroht vom Gerede der Nicht-Glaubenden und vom Schwert des Herodes. Menschen und auch eine Stimme in uns wollen uns ausreden, dass der Weg, den wir gehen, der Weg Gottes sei. Sie wollen uns einreden, dass man nicht aus der Reihe tanzen dürfe, sondern sich so zu verhalten habe wie alle anderen auch. Es geht darum, dass wir uns, wie Josef, vor das neue Leben stellen und es schützen, es als zu uns gehörig erklären. Und dass wir uns nicht unnötig in Gefahr begeben und die Gemeinschaft mit Menschen meiden, die sich dem feindselig gegenüber verhalten und uns davon abbringen wollen. So stehen Josef und Maria vor uns, als Sinnbilder für die neue Geburt in uns. An ihnen können wir lernen, wie es in unserem Leben Weihnachten werden kann.
Das göttliche Kind – Jesus genannt, das in der Krippe liegt, erinnert uns daran, dass Gott in uns wohnt, genauso zärtlich und leicht übersehbar wie dieses Kind. Das Geheimnis dieses Kindes entdecken wir in unserem eigenen unverstellten Wesen. Es bringt neue Saiten in uns zum Klingen. Unsere tiefste Sehnsucht wird davon berührt. Das Ursprüngliche und Unverfälschte in uns will geboren werden. Das göttliche Kind ist die Quelle von Lebendigkeit und Kreativität. Es kann das verletzte Kind in uns, das übersehen, geschlagen und gekränkt worden ist, heilen. Sodass wir ganz werden können, in tiefem Frieden in uns, mit allem was ist. Darum wird das Kind in der Krippe Immanuel genannt – Gott mit uns.
Heilige Zeit – heilende Zeit
Am Beispiel der heiligen Familie wurde aufgezeigt, wie diese Gestalten einerseits damals als reale Menschen lebten. Und wie sie andererseits Symbole sind, die uns zeigen, wer wir wirklich sind. Ihre Wesenszüge und Haltungen sind nicht nur Vergangenheit. Das Erlösungsgeschehen von damals kann Gegenwart werden, und es geschieht an uns, wenn wir uns dafür öffnen. Die Gebräuche, Riten und Zeremonien des Kirchenjahres sprechen die Tiefe unserer Seele an, anders als es Worte alleine vermögen.
Uralt und geheimnisvoll sind die Ursprünge der christlichen Feste. Sie reichen zurück bis an die Anfänge der Menschheit. Sternenkonstellationen und Planetenbilder, der Tierkreis und die vier Elemente, das Werden und Vergehen der Natur begegnen uns dabei. Sie zeigen uns Möglichkeiten auf, wie wir uns weiterentwickeln können aus unseren Verwicklungen heraus.
In den Krippen aus Südfrankreich mit den «Santons» stehen viele Figuren, Engel, Menschen und Tiere. Es gibt Metzger und Bäcker, Knechte und Mägde, Soldaten und Handwerker, Ärzte und Nonnen, Gaukler und Diebe. Sie stehen für die Welt, in der wir leben und das ist auch unsere innere Welt. Dahinein wird das göttliche Kind geboren. Es gibt dem ungeordneten Haufen der vielen verschiedenen und teils auch gegensätzlichen Figuren eine ordnende Mitte. Alle diese seltsamen Figuren werden dadurch zu kleinen Heiligen, zu «Santons». Dort, wo das Neue in unserem Leben zum Durchbruch kommt, erhält alles seinen Sinn und seine ordnende Mitte. Das Heilige bringt Heilendes mit sich für alle, die empfänglich und offen dafür sind.