Gedanken über eine schwierige Krankheit
Kaum eine andere Krankheit führt uns die Endlichkeit des Lebens derart erbarmungslos vor Augen wie Krebs. Er erschüttert unser Selbstverständnis und zeigt uns immer wieder die Grenzen unserer Macht. Der Umgang mit ihm ist schwierig, aber vielleicht könnten ein bisschen Gelassenheit, Zuversicht und Vertrauen dabei helfen.
Markus Kellenberger
Krebs. Allein schon das Wort löst ein diffuses Unbehagen bis hin zur Angst aus, und deshalb tat ich mich am Anfang schwer mit diesem Thema. Wie sollte ich es anpacken, denn so unglaublich vieles ist darüber schon geschrieben und berichtet worden.
In tausenden Broschüren und auf noch mehr Websites breiten die Fachleute von Universitäten, Spitälern und Patientenorganisationen verständlich aufbereitet alles aus, was man über die bis heute bekannten rund 300 Krebsarten weiss. Unter dem Suchbegriff «Krebs» erfährt man im Internet umfassend, warum Zellen entarten können, was für Folgen das hat, wer davon betroffen sein kann, welche Behandlungsmethoden es gibt und welche Chancen sie bieten.
Laufend kommen ausserdem Ratgeber-Bücher auf den Markt, die uns erklären, wie wir uns vor Krebs schützen, mit ihm leben oder aus eigener Kraft sogar heilen können. Und täglich finden sich irgendwo in den Medien Meldungen, dass irgendein Star an Krebs erkrankt ist, ihn besiegt hat oder daran gestorben ist; dass irgend ein Labor mit einem neuen Krebsmedikament «kurz vor dem Durchbruch» steht; dass wieder ein Lebensmittel oder ein Stoff in der Umwelt gefunden wurde, der Krebs auslösen kann; und dass irgendeine Krebsart gerade im Vormarsch ist – und irgendwann im Leben kennen alle von uns auch persönlich noch jemanden, den es «getroffen » hat.
Die geschürte Angst
Kein Wunder, haben drei Viertel aller Menschen Angst davor, an Krebs zu erkranken. Diese Zahl hat die Charité in Berlin, das grösste Universitätsspital Europas, erhoben, und diese Zahl dürfte problemlos auf die Schweiz übertragbar sein. Wie also soll ich diesem Thema, bei dem es um Menschen, um tragische Schicksale, um Hoffnung, Leiden, Sterben und vor allem um so viel Angst geht, gerecht werden? Das fragte ich Marcel, einen alten Journalisten-Freund, der sich vor sieben Jahren, rund um seinen 60. Geburtstag herum, die Prostata entfernen lassen musste. «Bleib persönlich und denk einfach daran, uns wird mit Krebs viel zu viel Angst gemacht», antwortete er. Und ja, Krebs sei eine verdammt unangenehme Krankheit, «aber die wenigsten Leute sterben daran.»
Ein nüchterner Blick in die Statistik gibt Marcel Recht. In der Schweiz sterben jährlich rund 72 000 Menschen, und das im hohen Durchschnittsalter von etwas mehr als 83 Jahren. Bei sieben von zehn verstorbenen Menschen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Infektionen die Hauptursache für deren Tod, nur bei dreien ist es Krebs. Selbstverständlich gibt es dabei erschütternde Fälle, bei denen Kinder und voll in der Blüte des Lebens stehende Erwachsene einem Krebsleiden erliegen, was dann häufig in den Medien einen entsprechenden Widerhall findet – aber übers Ganze gesehen liegt auch hier das Durchschnittsalter der an Krebs Verstorbenen mit rund 75 Jahren recht hoch.
Krebs ist die Krankheit des Alters
Krebs ist in erster Linie also eine Erkrankung des höheren Alters, was auch die Schweizer Krebsliga bestätigt. Man kann es darüber hinaus aber auch so drastisch formulieren wie der Sozialstatistiker Walter Krämer. In seinem Buch, «Die Angst der Woche – warum wir uns vor den falschen Dingen fürchten», schrieb er: «Wer lange genug lebt, stirbt irgendwann auf jeden Fall mit oder an Krebs.» Aus Sicht der Medizin ist das nur logisch, denn je länger ein Mensch lebt, desto mehr Zeit haben die Körperzellen, sich falsch zu teilen und begünstigt durch innere und äussere Einflüsse einen Krebs zu entwickeln. Das sieht auch Marcel so, der sich intensiv mit seiner Krankheit auseinandergesetzt hat. Und gerade deshalb sagte er während unseres Gesprächs auch mit Nachdruck: «Wir müssen aufhören, Krebs dermassen zu dämonisieren, wie wir es bisher getan haben.» Und tatsächlich: Krebs ist nicht einfach eine Krankheit wie jede andere. Krebs wird eher wie ein boshafter und heimtückischer Dämon wahrgenommen, der überall und in allem lauern kann. Er ereilt einem wie ein Fluch. Er schlägt zu, ohne zu fragen, ob sich der oder die Betroffene um ein gesundes, ein gutes oder auch ein gottgefälliges Leben bemüht hat. Der Krebs überfällt wen er will, wobei er gemäss verschiedener Studien Arme, Dicke, Alkohol- und Nikotinabhängige und Alte bevorzugt – aber, und das ist wohl das unheimliche an ihm, nicht immer. Und ganz sicher ist das ein wesentlicher Teil der weit verbreiteten Angst vor Krebs: Niemand ist vor ihm sicher.
Der totale Kontrollverlust
Eine Erkältung ist eine Erkältung, die nimmt man hin, bleibt ein paar Tage im Bett und das Leben geht weiter. Eine Krebsdiagnose ist aber etwas ganz anderes. «Das Erschütternde daran liegt zunächst einmal in dem Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren », sagt der Philosoph und Medizinethiker Giovanni Maio. «Eine solche Diagnose führt dem Menschen schmerzhaft vor Augen, dass die Vorstellung eines Lebens, das man bis ins Kleinste nach eigenen Vorstellungen planen und gestalten könne, eine Illusion war.» Und: Sie macht einem bewusst, dass das Leben endlich ist.
Zusätzlich verstörend ist für die Betroffenen, dass es kein Virus oder ein Bakterium, also etwas von «aussen » ist, das einem angreift, sondern der eigene Körper. «Mit dem Krebs im eigenen Inneren erhält der Körper, auf den man sich bisher weitgehend verlassen konnte, einen Anstrich von Feindlichkeit und Unberechenbarkeit », sagt Maio weiter. Das löse bei vielen Patientinnen und Patienten den verstörenden und beängstigenden Prozess der Entfremdung vom eigenen Körper aus. Ist dieser Schock erst überwunden, geht es ihnen nur noch darum, die Kontrolle über sich, den Körper und das eigene Leben zurückzugewinnen, wenn nötig um jeden Preis.
Kämpfen bis zum bitteren Ende
Unter diesen Voraussetzungen wundert es nicht, dass in Bezug auf Krebs auch häufig eine Terminologie verwendet wird, die der Militärsprache entlehnt ist. Krebs ist ein Feind, ein Gegner und Eindringling, gegen den man mit allen möglichen Mitteln vorzugehen hat. Der Krebs muss denn auch zurückgedrängt, vernichtet und besiegt werden. Krebs ist Krieg im eigenen Körper, und immer wieder liest man in Todesanzeigen Formulierungen, die aller Welt verkünden, dass die betroffene Person ein Held oder eine Heldin war, die «bis zuletzt gegen die Krankheit gekämpft hat». Und wer es schafft, gilt als «Cancer-Survivor», und ist somit quasi ein Kriegsveteran.
Dieser martialische Tonfall lässt vergessen, dass die meisten der heute bekannten 300 Krebsarten in der Regel mit gutem bis sehr gutem Ergebnis behandelt werden können, dazu gehört mittlerweile auch Brustkrebs. Eindeutig weniger günstig bis sogar verschwindend klein sind die Überlebenschancen hingegen nach wie vor bei Lungenkrebs, Leberkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Speiseröhrenkrebs und Krebs der Gallenblase und der Gallenwege sowie des zentralen Nervensystems. Diese Krebsdiagnosen kommen einem Todesurteil gleich, wobei es auch hier immer wieder zu positiven Überraschungen kommt und Patienten ihre Krankheit deutlich länger überleben als der Durchschnitt, was wiederum als Argument dafür verwendet wird, dass sich «kämpfen» – kombiniert mit einer grossen Portion Glück – unter Umständen auch lohnen könnte.
Flucht nach vorn
Wer kämpft, fühlt sich weniger ausgeliefert, selbst dann, wenn nahezu alle wissen, dass dieser Kampf nicht zu gewinnen ist. Er gibt einem ein Stück weit das Gefühl zurück, nicht ganz so hilflos einer tödlichen Krankheit ausgeliefert zu sein und die Kontrolle über sich und sein Leben zurückgewinnen zu können. Für Medizinethiker Giovanni Maio stellt das einen der Hauptgründe dar, weshalb sich Menschen in einer aussichtslosen Situationen den Strapazen von «eigentlich sinnlosen» Operationen, Chemotherapien und Bestrahlungen aussetzen.
Bei Ruedi, er war ein Freund von mir, war das so. Als er vor vierzehn Jahren krank wurde, machte ich alle Stationen seines Martyriums mit, angefangen bei der Diagnose im Februar bis zu jenem Tag kurz vor Weihnachten desselben Jahres, als die Sterbehilfeorganisation Exit zu ihm nach Hause kam. Operationen, Chemotherapien und Bestrahlungen wechselten sich in diesen elf Monaten ebenso ab, wie hoffen und bangen, und am Schluss waren die Metastasen trotzdem in seinem Kopf. Ruedi griff in dieser Zeit nach jedem Strohhalm, den ihm die Schulmedizin immer mit dem Hinweis reichte, dass die Entscheidung, ihn zu ergreifen, einzig bei ihm liege und es immer wieder Wunder gäbe. Wunder übrigens, an die Ruedi selbst nie glaubte. Aber: Ruedi war wie viele andere krebskranke Menschen nicht der alleinige Entscheider über sein Schicksal. Mit ihm litten auch seine Partnerin und seine beiden Buben. «Weisst du», sagte er mir kurz vor seinem Tod und mit dem ihm eigenen Galgenhumor, «hätte ich nicht alles mitgemacht, was mir die Ärzte anboten – meine Frau hätte mich umgebracht.» Am Ende war es dann aber doch der Lungenkrebs.
Schuld und Sühne
Was Ruedi nie in Zweifel zog, war der Grund für seine Erkrankung. Schon im Moment der Diagnose stand für ihn fest, dass jemand, der sein halbes Leben lang Kette geraucht hat, mit so etwas rechnen muss. Andere tun sich damit schwerer, besonders dann, wenn keine so eindeutigen Faktoren wie bei Ruedi zu ihrer Erkrankung beigetragen haben. Es ist noch nicht lange her, da waren die Menschen davon überzeugt, dass bestimmte Krankheiten von höheren Mächten geschickt werden, um Sündhafte, Fehlbare und die, die zu wenig glauben zu bestrafen. Die wenigsten Menschen glauben heute noch daran, dass Krankheiten etwas sind, das zornige oder beleidigte Götter über sie kommen lassen – und dennoch: Krebs wirkt immer noch wie eine Strafe und viele Betroffene fragen sich deshalb: Was habe ich getan, dass es mich trifft?
In der so genannten Ottawa-Charta von 1986 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Eigenverantwortung des Einzelnen als einen der wichtigsten Eckpfeiler für die gesamtgesellschaftliche Gesundheitsförderung festgelegt. Diese Eigenverantwortung wird von einer mittlerweile milliardenschweren Industrie tatkräftig unterstützt, zu der auch die Schulmedizin gehört. «Ihren Gewinn erzielt diese Industrie mit dem von ihr gezielt geförderten Streben der Menschen nach besserem Essen, einem möglichst jugendlichen Aussehen, einem längerem Leben und weniger Krankheiten », schreibt der kanadische Arzt Gabor Maté in seinem neuen Buch «Vom Mythos des Normalen». Vom Yoga-Kurs bis zur Vorbeugebehandlung von Krebs biete diese Industrie alles an, was der ständigen mentalen und physischen Selbstverbesserung förderlich sein soll und suggeriere in Zeitschriften, Fernsehsendungen, Werbeanzeigen und auf unzähligen Internetseiten, dass Gesundheit etwas sei, das man bekommt, wenn man nur genug dafür tut und zahlt.
Du bist nicht schuld!
Entsprechend gross ist der Schock, wenn einem trotz aller Bemühungen um die eigene Gesundheit dann doch eine Krankheit wie Krebs widerfährt. Noch fast schlimmer aber ist die Antwort dieses konsum- und leistungsorientierten Systems auf die Frage, was habe ich getan, dass es mich trifft, denn sie lautet ganz einfach: zu wenig! «Mit diesem Trick hält uns die Gesundheitsindustrie im Griff», ist Gabor Maté überzeugt. «Sie zwingt uns zur Eigenverantwortung, erklärt uns im Falle des Scheiterns für schuldig – und bietet gleich wieder Lösungen dafür an.» So behält Krebs den Ruch der Strafe, die Betroffenen sind selbst schuld und die Medizin ist der einzige Weg zur Erlösung. Dieses System, so Gabor, erinnere an mittelalterliche Prinzipien der Kirche. Deshalb müsse im aufklärerischen Sinne jeder von Krebs betroffenen Person klar und deutlich gesagt werden: «Es ist nicht deine Schuld. Krebs ist einfach eine Krankheit und nichts persönliches, aber du musst einen persönlichen Umgang damit finden.» Das ist nicht einfach, wenn man in einer Welt lebt, in der Gesundheit käuflich zu sein scheint und die Eigenverantwortlichkeit im Falle einer Erkrankung sofort in eine Anspruchshaltung gegenüber der Reparaturmedizin kippt. Einen persönlichen Umgang mit einer schweren Krankheit zu finden bedeutet, Heilung als etwas Ganzheitliches zu sehen, das über die rein körperliche Genesung hinaus geht, weil es die vielleicht nicht gibt.
Heilung auf Augenhöhe
Genau das ist das Thema eines langen Gesprächs, das der Schweizer Psychotherapeut und Schamane Carlo Zumstein kurz vor seinem Tod letzten Jahres mit der auf Gesundheit und Entwicklung spezialisierten Bewusstseinsforscherin Rébecca Kunz führte. Dieses Gespräch über Krankheit, Heilung und Ganzheitlichkeit ist nun als Buch unter dem Titel «Kosmologie der Seelenkraft» erschienen. Daraus entnehme ich das folgende, ausführliche Zitat von Carlo, weil ich finde, dass es gut zusammenfasst, wie Patienten und Ärzte im Sinne einer echten Heilung zusammenarbeiten sollten: «Der Arzt erklärt mir, wie meine Organe und Lebensfunktionen richtig zusammenwirken müssten und welche Mittel er zur Verfügung hat, um die Harmonie in meinem Körper wiederherzustellen. Und auf dieser Grundlage entscheide ich selbst, was ich möchte und was nicht. Natürlich kann ich mir überlegen, wie ich bei der Heilung mitwirke durch Imagination, Meditation, Ernährungsumstellung, durch Beizug eines Schamanen oder einer Psychotherapeutin. Ich wünsche mir eine Medizin, die mich informiert und mir dann die freie Wahl lässt, wie ich etwas behandeln lassen möchte.»
Das Schlusswort überlasse ich meinem alten Freund Marcel, der seit sieben Jahren mit den Folgen der Prostataentfernung und dem Risiko, dass der Krebs trotzdem zurückkommen könnte, lebt. Er sagt: «Angst vor Krebs ist sinnlos. Und wer von Krebs verschont bleibt, darf einfach dankbar sein und dem Leben gegenüber auch ein bisschen demütig werden.»
Buchempfehlungen
- Carlo Zumstein, Rébecca Kunz: «Kosmologie der Seelenkraft – das Vermächtnis eines modernen Schamanen», Verlag Spuren, 2024
- Giovanni Maio: «Ethik der Verletzlichkeit», Verlag Herder, 2024
- Gabor Maté: «Vom Mythos des Normalen – wie unsere Gesellschaft und krank macht und traumatisiert», Verlag Penguin, 2023
- Walter Krämer: «Die Angst der Woche – warum wir uns vor den falschen Dingen fürchten», Verlag Piper, 2012