Freundschaften – eine kleine Gebrauchsanleitung
Ob Freundschaften ein Leben lang halten oder nur kurze Zeit dauern, ist egal – wichtig ist, dass es sie gibt, denn ohne sie wäre unser Leben öde und leer. Freundinnen und Freunde inspirieren uns, stehen uns in schwierigen Lebenslagen bei und machen uns glücklich. Doch wie findet man wahre Freunde – und wie trennt man sich von falschen? Wir gehen diesen Fragen nach.
Markus Kellenberger Illustration: Sonja Berger
Mein ältester Freund und ich, wir lernten uns in der zweiten oder dritten Klasse kennen, aber so genau wissen wir das auch nicht mehr, denn das ist lange her, mehr als fünfzig Jahre sind es mittlerweile. Manchmal sahen wir uns häufig, manchmal jahrelang gar nicht und hin und wieder nur sporadisch. Aber das ist völlig egal, denn eines haben wir in dieser Zeit mehrmals erfahren: In tiefsten Lebenskrisen sind wir füreinander da. Weil wir Freunde sind.
« Die Sehnsucht nach Freundinnen und Freunden ist uns angeboren. »
Aber was heisst das, Freunde sein, wie definiert sich das, und gibt es überhaupt eine allgemeingültige Definition dafür? Grundsätzlich lässt sich dazu sagen: Freundschaften sind freiwillige Beziehungen zwischen zwei Menschen, die auf Vertrauen, Sympathie und gegenseitiger Wertschätzung basieren. Miteinander befreundete Menschen können sich aufeinander verlassen, sie unterstützen sich gegenseitig und sie tun das sogar mit einer gewissen Selbstlosigkeit, die ihren Ursprung in den Anfängen der Menschheit hat. Denn: Die Sehnsucht nach Freundinnen und Freunden ist uns angeboren.
Das Erbe unserer Vorfahren
Seit Beginn der Menschwerdung vor rund zwei Millionen Jahren zogen wir als Stamm in kleinen, familiären Gruppen durch die Welt. Alle waren dabei aufeinander angewiesen, und so entwickelte sich die «Urnatur des Menschen», wie sie der Anthropologe Carel van Schaik nennt. Laut Schaik, der bis vor fünf Jahren noch als Professor an der Universität Zürich wirkte, ist die Urnatur genetisch in uns verankert und gewährleistet unter normalen Umständen ein fast reibungsloses Funktionieren des Menschen in seiner sozialen und ökologischen Umgebung. Sie stellt eine Art natürliche Moral dar, die wir heute noch spüren, zum Beispiel als untrüglichen Sinn für Fairness oder auch als das Gefühl, sich anderen nach Geschenken und erhaltener Hilfe verpflichtet zu fühlen. Um es aus der Sicht unserer Vorfahren zu sagen: Steht man als Jägerin oder Jäger einem griesgrämigen Mammut gegenüber, ist es gut zu wissen, dass einem die anderen Mitglieder des Stammes nicht im Stich lassen. Hier liegt der Anfang dessen, was wir heute Freundschaft nennen.
Bis ins 17. Jahrhundert hinein lebten die meisten Menschen ähnlich wie unsere Steinzeitvorfahren als Grossfamilie, Stamm oder Clan eng beieinander. Für sie bedeuteten die Begriffe «Freundschaft» und «Verwandtschaft» weitgehend dasselbe. Doch dann begann die Industrialisierung. Sie verlangte von den Menschen eine immer grössere Mobilität und zerstörte damit die althergebrachte Lebensform der Grossfamilie – und so wandelte sich auch der Begriff der Freundschaft. Mit Verwandtschaft hat er, und das ist unserem heutigen Lebensstil geschuldet, nicht mehr viel zu tun.
Je älter desto tiefer
Studien der Aalto Universität in Finnland und solche der Oxford Universität in England zeigen auf, dass sich Freundschaften mit dem Alter verändern. Bis zum Alter von etwa 24 Jahren haben wir meist viele, dafür lockere Freundschaften. Danach aber und mit zunehmendem Alter werden die Freundschaften zwar weniger, dafür tiefer. Und diese tiefen Freundschaften halten oft ein Leben lang und somit länger als manche Ehe.
Gute Freunde brauchen Distanz
Freundschaften bilden sich heute nicht mehr fast ausschliesslich innerhalb der Familie oder deren näheren Umfeld. Sie bilden sich zwar immer noch bereits im Kindesalter, aber eher beim Spielen im Sandkasten in der Kita oder im Kindergarten mit dem Lieblingsspielkameraden. Später ist es dann die Schule oder der Sportverein, in dem Freundschaften geschlossen werden, und noch später der Lehrbetrieb, die Uni oder das berufliche Umfeld.
Was sich über all die Zeit nicht geändert hat, ist: Freundschaften begleiten uns oft länger als die Beziehung zu unserem Lebens- oder Ehepartner dauert. Für Peter Oertle, der seit über zwanzig Jahren Männer und Paare als Therapeut im Berner Oberland und in Basel begleitet, ist klar warum: «Freundinnen und Freunde verbringen weniger Zeit miteinander als Paare.» Logisch, dass da weniger Raum für Konflikte und Streit vorhanden sei. Ausserdem seien die Erwartungen an Partnerinnen und Partner andere als an Freundinnen und Freunde, und selbstverständlich variiere das auch von Mensch zu Mensch. Treue Freundschaften, sagt Oertle aus eigener Erfahrung, zeichneten sich dadurch aus, dass sie eher einer Wegbegleitung als einer Partnerschaft ähneln. «Manchmal gehen Freunde ein Stück Weg gemeinsam, weil es gerade stimmt und richtig und wichtig ist.» Dann wieder trennen sich deren Wege, um irgendwann – vielleicht – wieder zusammenzufinden.
Freunde verlängern das Leben
Eine gute Freundschaft macht nicht nur Freude, sie hat auch das Potenzial, das Leben zu verlängern. Verschiedene Studien belegen, dass Menschen mit guten sozialen Beziehungen zufriedener und gesünder sind als solche ohne. Mehr noch: Eine gute Freundschaft fördert die Gesundheit des Herz-Kreislauf-Systems und verringert die Chance, an Depressionen zu erkranken.
Keine Freunde zu haben wirkt sich schlecht auf unsere Gesundheit aus. Das hat die Psychologin Julianne Holt-Lunstead von der Brigham Young Universität, USA, herausgefunden. Das Resultat ihrer Untersuchung fasste sie so zusammen: Fehlende soziale Kontakte sind in etwa so gesundheitsschädlich wie das Rauchen von 15 Zigaretten pro Tag.
Nichts ist für immer und ewig
Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass viele Freundschaften tatsächlich nur auf Zeit funktionieren. Alle sieben Jahre verlieren wir rund die Hälfte unserer engen Kontakte. Herausgefunden hat das der niederländische Soziologe Gerald Mollenhorst in einer Langzeitstudie mit über tausend Teilnehmenden im Alter zwischen 18 und 65 Jahren. Konkret stellte er dabei fest, dass zwar die Zahl wirklich enger Freunde und rund die Hälfte der weniger engen Freundschaftsverhältnisse in diesen sieben Jahren recht stabil bleibt – die andere Hälfte sich aber aus einem völlig neuen Freundeskreis zusammensetzt.
Wie weiter oben schon Peter Oertle festgehalten hat: Unter «Freundschaft» versteht jeder Mensch etwas anderes. Und tatsächlich gibt es die unterschiedlichsten Arten von Freundschaft. Ungefähr so könnte man sie einteilen:
- Lose Freundschaften: Das sind gute Bekannte, mit denen wir uns gerne hin und wieder treffen.
- Gute Freunde: Hier können sich alle aufeinander verlassen, sich alles anvertrauen und sie sind in der Regel füreinander da.
- Freundschaft Plus: Bei dieser Art von Freundschaft darf es auch zu Sex kommen.
- Zweckfreundschaften: Das sind meistens Freundschaften auf Zeit, weil man gerade gemeinsame Interessen oder ein gemeinsames Projekt hat.
- Toxische Freundschaften: Oberflächlich sehen solche auf den ersten Blick nach Freundschaft aus. Tatsächlich schaden sie uns, weil sie zum Beispiel von Einseitigkeit und Egoismus geprägt sind (siehe Box «Schluss mit falschen Freunden»).
Gemeinsame Zeit schafft Freunde
Damit jemand zu einem Freund oder einer Freundin wird, braucht es einige Grundvoraussetzungen. Dazu gehört ein gemeinsamer Werte-Kodex, eine Art ungeschriebenes Gesetz, was zwei Menschen von einer gemeinsamen Freundschaft erwarten. Um diesen gemeinsamen Kodex überhaupt entwickeln zu können, braucht es am Anfang einer Freundschaft vor allem eins: gemeinsame Zeit. Wie viel davon nötig ist, hat der amerikanische Genetiker Jeffrey Hall untersucht und herausgefunden:
- Damit aus einem «Bekannten» ein «Freund» wird, braucht es mindestens 50 Stunden, die man gemeinsam verbracht hat.
- Weitere 90 gemeinsame Stunden sind nötig, damit aus einem «Freund» ein «guter Freund» wird.
- Nach weiteren 200 gemeinsam verbrachter Stunden dürfen sich gute Freunde durchaus «beste Freunde» nennen.
Das mit den Stunden mag ein bisschen sehr statistisch erscheinen und ist es sicher auch. Viel wichtiger aber als so und so viele Stunden ist die Erkenntnis, dass es beim Aufbau einer Freundschaft um tatsächlich miteinander verbrachte Zeit geht. In den sozialen Medien lernt man heute zwar schnell allerlei Leute kennen und man hat je nach Plattform innert kürzester Zeit auch unzählige «Freunde» – aber sie sind alle nur digital. «Herzenswärme können solche Freunde nicht vermitteln», sagt der Schamane Wowitan Uta Mani vom Stamm der Lakota, der sich intensiv mit den Auswirkungen von Social Media auf die Gesellschaft befasst hat. Erst wenn Menschen Zeit in echt miteinander verbringen, sagt Wowitan, entsteht das, was eine tiefe und beglückende Freundschaft ausmacht: Seelenverwandtschaft.
Wahre Freunde gibt es nur wenige
Niemand hat unzählige Freunde, auch wenn uns das digitale Medien wie Facebook gerne suggerieren. In der Regel ist der wahre Kreis jener Menschen, die die Bezeichnung «Freund» oder «Freundin» wirklich verdienen, relativ klein und überschaubar – und oft sogar noch kleiner, als wir denken. Zu diesem Schluss kamen Forschende der Universität Tel Aviv und des Massa- chusetts Institute of Technology bei einem gemeinsamen Studienprojekt.
Das Ergebnis der Studie lässt sich mit einem kleinen Experiment verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, wie viele Menschen Sie als «wahre Freunde» bezeichnen würden – und teilen Sie diese Zahl durch zwei. Wenn Sie dieses kleine Experiment machen, werden Sie erstaunt feststellen, dass sich Ihre «wahren Freunde» an einer Hand abzählen lassen – seien Sie beruhigt, das ist normal. Anders sieht es bei «allgemeinen» Freundschaften aus. Deren Zahl kann mehrere Dutzend betragen, allerhöchstens aber 150.
Diese Obergrenze hat der britische Psychologe und Primatenforscher Robert Dunbar vor rund 30 Jahren errechnet. Dunbar untersuchte dazu den Zusammenhang zwischen der Grösse bestimmter Hirnregionen und der Gruppengrösse, in denen Säugetiere leben. Für den Menschen ergab sich dadurch eine sozial zu bewältigende maximale Gruppengrösse von 150 Individuen. Empirische Beobachtungen an tatsächlichen menschlichen Gemeinschaften bestätigen diese Zahl.
Aufbruch zu neuen Freundschaften
So schön und erfüllend Freundschaften auch sein können – manche zerbrechen auch mit der Zeit. In einigen Fällen verändern sich einfach die Interessen oder man zieht an einen anderen Ort und es wird schwierig, den Kontakt aufrecht zu erhalten und die Beziehung zu pflegen. Solche Freundschaften schlafen dann in der Regel einfach ein und es wird Zeit, sich neue Freunde zu suchen. Allerdings: Nicht allen fällt das leicht, manche sind schüchtern, andere zurückhaltend. Für all diese Menschen – aber nicht nur die – hier drei simple Tipps, die es leichter machen, neue Freundschaften zu knüpfen:
1. Werden Sie aktiv: Wer nichts wagt, gewinnt auch keine Freunde. Nehmen Sie all Ihren Mut zusammen, riskieren Sie auch mal einen Korb und nehmen Sie solche Rückschläge nicht persönlich.
2. Zeigen Sie Interesse: Eine Freundschaft beginnt mit echtem Interesse am Gegenüber. Stellen Sie Fragen, seien Sie empathisch und erzählen Sie nicht nur von sich.
3. Bieten Sie Hilfe an: Freundschaften leben vom Geben und Nehmen – und zwar in dieser Reihenfolge. Bieten Sie Ihre Unterstützung dort an, wo gerade Not herrscht. Das steigert – erinnern Sie sich an unsere am Anfang dieses Artikels beschriebene Urnatur – die Chance, dass sich das Gegenüber irgendwann revanchiert.
«Eine Freundschaft beginnt mit echtem Interesse am Gegenüber.»
Ja, manchmal muss man alte Freundschaften los- und sich auf neue einlassen. Aber grundsätzlich lässt sich sagen, dass es immer bereichernd ist, Freundinnen und Freunden Zeit zu schenken und diese Beziehungen zu pflegen. Denn wer gute Freunde hat, kommt leichter durchs Leben. Und jetzt zum Schluss noch eine alte Weisheit, über die nachzudenken sich lohnt: Wahre Freunde erkennst du nicht daran, wie sie dich loben – sondern wie sie dich kritisieren.
Schluss mit falschen Freunden
Manchmal gerät man im Leben an falsche Freunde oder eine bereits bestehende Freundschaft verwandelt sich aus tausenderlei Gründen in eine toxische, die niemandem mehr guttut. Und tatsächlich gibt es Anzeichen dafür, wann es bei allem Schmerz an der Zeit ist, Schluss zu machen. Zum Beispiel dann, wenn …
... Sie ausgenutzt werden. Sie waren immer für ihre Freundin, ihren Freund da, wenn nötig sogar mitten in der Nacht. Wenn jedoch Sie Unterstützung bräuchten, heisst es «geht grad nicht», «keine Zeit» oder «passt nicht». Passiert das oft, sollten Sie sich überlegen, ob sich bei dieser Freundschaft Geben und Nehmen noch die Waage halten.
... Sie nicht unterstützt werden. Es gibt Situationen im Leben, die kann man nur mit Hilfe und Unterstützung von Freunden be- wältigen. Um nur einige zu nennen: schwere Krankheiten, Todes- fälle, Beziehungsbrüche oder plötzliche Arbeitslosigkeit. In solchen Zeiten brauchen wir Menschen, die zu uns stehen, uns zuhören, trösten und vielleicht sogar einen guten Rat wissen. Wer in Zeiten der grössten Not aber das Weite sucht, kann kein Freund sein. Auf «Schönwetterfreunde» können Sie verzichten.
... Sie hintergangen werden. Von einem Freund oder Freundin erwarten wir Loyalität und Ehrlichkeit. Wer sich Freund nennt, hinter unserem Rücken aber schlecht von uns redet oder sogar intrigiert, hat in unserem Leben nichts verloren. Von solchen «Freunden» sollten Sie sich trennen.
... Sie in ständiger Konkurrenz leben. Jedes Mal, wenn Sie von einem persönlichen Erfolgserlebnis berichten, erzählt Ihr Gegenüber eine Geschichte, die die Ihre in den Schatten stellt. Nie haben Sie das Gefühl, dass sich Ihre Freundin oder Ihr Freund mit Ihnen freut; es geht immer nur darum, besser als Sie zu sein. Dahinter stecken oft Missgunst und Eifersucht – und auf solche Freunde können Sie verzichten.
... Sie unwichtig werden. Freunde haben nicht immer Zeit und manchmal auch etwas ganz anderes vor als Sie selbst. Das ist völlig okay, sofern das nicht zur Normalität wird und sich die andere Person keinerlei Mühe gibt, den Kontakt zu Ihnen zu halten oder aktiv Alternativen anzubieten. In solchen Fällen haben sich offenbar die Prioritäten verschoben und die freund- schaftliche Beziehung zu Ihnen steht nicht mehr weit oben auf der Liste. Auf solche Freundschaften dürfen Sie ruhig verzichten.