Flüssiges «Gold» als vielfältiger Rohstoff

Seit Tausenden von Jahren nutzen Menschen die vielfältigen Eigenschaften von Urin. Eine wichtige Bedeutung kommt dem Harn in der Medizin und als Reinigungsmittel zu.

Fabrice Müller

Als Titus seinen Vater, Kaiser Vespasian, rügte, weil dieser eine Steuer für Urin erhob, da hielt der Kaiser seinem Jüngling eine Münze vor die Nase. Sie stammte aus den ersten Gewinnen dieser neuen Steuer. Vespasian fragte seinen Sohn, ob er den Geruch der Münze als anrüchig empfinde. Als Titus mit «Nein» antwortete, sprach der Kaiser: «Und doch stammt sie vom Urin. Non Olet – es stinkt nicht.» Sprachlich betrachtet stammt der Begriff Urin vom lateinischen Wort «Urina» ab und bedeutet «Wasser des Lebens». Harn hingegen wird vom alten norwegischen «Skarn» abgeleitet und kommt an Bedeutung dem Wort «Giessen» gleich. «Schon damals glaubte man, dass der Harn Träger der Lebenskraft sei», erklärt Christoph Haiden, Autor der Studienarbeit «Urintherapie – eine Alternative zur Schulmedizin» an der Schule für allgemeine Gesundheits- und Krankenpflege des österreichischen Bundesheeres in Wien. In seiner Arbeit geht der Autor auf die Anwendung von Urin in den verschiedenen Kulturen ein.

Augenbehandlungen und Urindiagnostik

Etwa Tausend vor Christus wurden im «Papyrus Ebers», einer der wichtigsten Quellen über die Heilkunde des Altertums, erste Anwendungen der Urintherapie im alten Ägypten überliefert. Darin ging es laut Christoph Haiden vor allem um die Anwendungen von Augenärzt*innen: Urinkompressen auf Gerstenkörnern zur Auswaschung von eitrigen Augen mit Urin. Ebenfalls aus dem alten Ägypten stammen vermutlich die Ursprünge der visuellen Urindiagnostik, dem ältesten Verfahren zur Untersuchung von Körperflüssigkeiten. So sind in den medizinischen Papyri aus dem alten Ägypten Polyurie, sprich, übermässige Harnausscheidung etwa bei Diabetes Mellitus, und Hämaturie (Blutbestandteile im Urin) als Krankheitszustände angeführt. «Die alten Ägypter*innen waren somit auch Meister*innen in der Harnschau und in der Lage, verschiedene Krankheiten im Harn zu erkennen und zu behandeln», sagt Christoph Haiden.

Möglicherweise gingen sie dabei ähnlich vor wie die mexikanischen Medizinmänner. Diese stellten den Urin ihrer Patientinnen und Patienten in Kürbisschalen in die Sonne und beobachteten, welche Insekten davon angezogen werden. Setzten sich Käfer und Fliegen auf die Schale, war Eiweiss im Urin und der Mensch krank. Wenn Bienen und Wespen kamen, war Zucker im Urin, was auf Diabetes hinwies. «Setzten sich allerdings Schmetterlinge auf die Schale, dann war der Mensch gesund», schreibt Carmen Thomas in ihrem Buch «Ein ganz besonderer Saft – Urin».

Vielseitiges Heilmittel

Der griechische Arzt Hippokrates, der um 400 vor Christus lebte und wirkte, ebenso wie indische Yogis rühmten den «gelben Becher», täglich eingenommen, als Garant für ein langes und gesundes Leben. Hippokrates erforschte die Anwendungsmöglichkeiten des Eigenurins und entwickelte daraus erstmals die «Uropotie». Er empfahl in seinen Schriften Urin als Diagnostik und Therapeutikum. Die römischen Ärzte Galen (129–199 nach Christus) und Plinius (24–79 nach Christus) taten es ihm gleich und berichteten in ihren Niederschriften über die Verwendung von Urin als Heilmittel.

Indien gilt – so Christoph Haider – als das einzige Land, wo die Urintherapie seit 5000 Jahren, also seit Frühgeschichtszeiten, ununterbrochen angewandt wurde und wird. In den Aufzeichnungen des Bhavamishra aus dem 16. Jahrhundert wurden die Urin-Anwendungen medizinischer Art zum ersten Mal erwähnt. «Der menschliche Urin neutralisiert Gifte, gibt bei richtigem Gebrauch neues Leben, reinigt das Blut und löst Hautprobleme auf. Er hat einen scharfen Geschmack und enthält viele Mineralien», heisst es im Bhava Prakasha, dem umfassenden Werk zum Ayurveda. Die ayurvedische Medizin kennt die Urin-Behandlung seit mehr als 2500 Jahren. In den ayurvedischen Schriften wird über die hervorragende Wirkung bei der Behandlung von Augenleiden, Husten, Verbrennungen, der Verdauungsorgane, Heilung von Haut und Lebererkrankungen, dem Diabetes Typ II und vielen anderen Krankheiten berichtet. Im alten Rom war der Urin unter anderem für die Zahnhygiene beliebt. Sie mischten ihn mit Bimsstein, einem porösen, glasigen Vulkangestein, um Zahnpasta herzustellen. Offenbar war der Urin aufgrund der reinigenden Wirkung des Ammoniaks so wirksam, dass er bis ins Jahr 1700 in Zahnpasten und Mundspülungen verwendet wurde.

Schöne Haare und Lebenskraft

Wie Christoph Haider erklärt, benutzte auch die indigene Bevölkerung des heutigen Amerikas den Harn während Jahrhunderten, um körperlich gesund und fit zu bleiben und um sich vor Krankheiten zu schützen. Die Frauen der Inuit verwenden den Harn, um ihre Haare damit zu waschen. Offenbar mit Erfolg, denn ihre Haare sind sehr kräftig und glänzen. Als man in China noch keine genauen anatomischen Kenntnisse hatte, ging man davon aus, dass der Harnstrahl aus der Verlängerung der Wirbelsäule komme. «Aus dieser ursprünglich falschen Vorstellung heraus hat sich in China bis heute das Bewusstsein erhalten, Niere und Blase hätten mit Lebenskraft, mit dem Zentrum des Menschen zu tun», sagt Christoph Haider. Deshalb wurde die Urin-Therapie eingesetzt, um Mut, Selbstbewusstsein und Stärke zu unterstützen. Passend dazu gibt es ein chinesisches Sprichwort: «Wenn du dir aus Angst in die Hose pinkelst, so sollst du dein Wasser auffangen und trinken – die Angst wird vergehen, und Mut stärkt dich wieder.» Bis zum Aufkommen von Antibiotika war die Wundreinigung mit Urin gang und gäbe, vor allem auch auf den Schlachtfeldern. Mit der Renaissance der Naturheilverfahren in den letzten Jahren findet inzwischen auch die Eigenurin-Therapie langsam wieder Einzug in die ganzheitlichen Behandlungsmethoden.

Reinigen und färben

Neben gesundheitlichen Effekten wussten die Menschen schon sehr früh auch um die weiteren positiven Eigenschaften von Urin – zum Beispiel zum Färben von Textilien. Im alten Rom sammelten sogenannte «Fullonen » die Urin-Amphoren, die an wichtigen Verkehrsknotenpunkten in den Städten verteilt waren, ein, um den Harn für die Färbereien zu nutzen. Rohe Wollstoffe wurde mit einer Urinmischung behandelt, um auf das Wollfett einzuwirken. Als bester und somit teuerster Urin galt jener aus Portugal. Weiter wurde der Urin auch zur Reinigung von Kleidern genutzt. Als Waschmittel verwendeten die Römer*innen eine Mischung aus Urin, Seifenkraut, Pottasche und Tonerde. In Indien verwendeten die Menschen den Harn von Mangoblätter fressenden Kühen, um das Indischgelb zu erzeugen. Noch im Spätmittelalter kam Harnstoff für die Herstellung der blauen oder violetten Altardecken und Priestergewänder zum Einsatz. Die Arbeiter* innen wurden angehalten, am Wochenende viel Bier zu trinken, um am Montag genügend Harn anzuliefern und «Blau» zu machen.

Phosphor statt Zauberstein

Als einer der ersten Wissenschaftler experimentierte 1669 der deutsche Apotheker Henning Brand mit Harnstoff. Auf der Suche nach dem «Stein der Weisen», einem Zauberstein, der alle Metalle in Gold verwandelt, sammelte er Urin. Diesen erhitzte er und liess ihn so lange köcheln, bis nur noch eine weisse, wachsartige Substanz übrigblieb. Henning Brand fand dabei allerdings nicht den Stein der Weisen, sondern Phosphor – ein Stoff, der im Dunkeln geheimnisvoll leuchtete. Heute wird aus Phosphor vor allem Pflanzendünger hergestellt. Inzwischen kann Phosphor auch künstlich, also ohne Urin, gewonnen werden. Neben Phosphor ist Harnstoff ein weiterer Inhaltsstoff des Urins. Als geruchsloser Stoff kommt er etwa in Cremes oder in Salben zur Anwendung. Dort hilft er bei Hauterkrankungen. In Kombination mit anderen Stoffen dient Harn zudem zur Herstellung eines bestimmten Klebers, der für Spanplatten benötigt wird.

Pflanzen düngen

Friedrich Wöhler, ein deutscher Chemiker, schaffte es als Erster, 1828 in seinem Labor Harnstoff künstlich herzustellen. Dies galt als eine der wichtigsten chemischen Entdeckungen der Geschichte, denn somit eröffnete er erstmals das Feld der organischen Chemie und dann der Biochemie. Auch heute laufen verschiedene Experimente mit Urin. Für die Astronautinnen und Astronauten auf der ISS etwa gibt es eine Möglichkeit, aus ihrem Urin wieder Trinkwasser herzustellen. Im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt werden spezielle Tomaten gezüchtet, die im All wachsen und mit gefiltertem Urin gegossen werden können. Im Weltall soll Urin auch vor kosmischer Strahlung, die auf Dauer krebserregend ist, schützen. In Grossbritannien versuchten Forschende, aus den Bakterien und dem Stickstoff des Urins Energie zu gewinnen. Sie hatten Erfolg und konnten mit dem gewonnenen Strom kurz mit einem Handy telefonieren. Gemäss einem Bericht des Magazins «Spektrum» arbeiten Forscherinnen und Forscher auf Gotland, der grössten Insel Schwedens, an einem Projekt, wo aus Urin Düngemittelpellets hergestellt werden.

Ein Landwirt aus der Region verwendet den «Pipi-Dünger », um Gerste anzubauen. Nun wollen die Forschenden die Wiederverwertung von Urin im grossen Stil praxistauglich machen. Prithvi Simha, Ingenieur der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften (SLU) in Uppsala schätzt, dass Menschen genügend Urin produzieren, um rund einen Viertel der derzeitigen Stickstoffund Phosphordünger weltweit zu ersetzen. Menschlicher Urin enthält zudem Kalium und viele Mikronährstoffe. Durch den Verzicht auf das Herunterspülen von Urin könnten grosse Mengen Wasser eingespart werden.

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