Essen – ein Wechselspiel zwischen Kopf und Bauch
Essen ist viel mehr als reine Nahrungsaufnahme. Mit dem Essen gehen viel weitergehende Bedürfnisse einher, welche uns aber auch fehlleiten können. Dazu kommt eine starke Wechselwirkung mit organischen und hormonellen Signalen des Körpers. Wir zeigen auf, wie sich das alles auf unsere Psyche auswirken kann.
Helena Kistler-Elmer
«Du bist, was du isst» – dieses Sprichwort vom deutschen Philosophen Ludwig Feuerbach (1804–1872) stammt aus dem 19. Jahrhundert. Rund 200 Jahre später ist man sich in der Wissenschaft und Forschung einig, dass sich unsere Nahrung verblüffend stark auf unsere Psyche auswirken kann. Noch vor dem ersten Bissen und weit darüber hinaus, bestimmt Essen zu einem gewissen Teil auch, wer wir sind.
Das Wechselspiel aus wissenschaftlicher Sicht
In zahlreichen Studien wurde in den vergangenen Jahren dieses hochkomplexe Wechselspiel von Lebensmitteln und der Beeinflussung unserer Psyche untersucht. Dabei gib es verschiedene Wirkungskreise.
- Unsere Sinnesempfindungen: Der Vorgang von Essen und Trinken greift als eine der wichtigsten Überlebensaufgaben tief in die Schaltkreise unserer Gefühlssteuerung ein. Mit dem Geruch einer Speise oder dem Geschmack eines Getränks können ganz unterschiedliche Empfindungen hervorgerufen werden. Ebenso mit der Konsistenz oder Textur eines Lebensmittels. Das reicht dann von Lust und Freude bis hin zu Ekel und Überdruss.
- Die unmittelbare Wirkung über die Darm-Hirn-Achse: Manche unserer Speisen werden in ihren Bestandteilen vom Darm aufgenommen, erreichen über die Blutbahn unser Gehirn und wirken direkt auf unser Denkorgan. Schokolade enthält zum Beispiel Substanzen, die beinahe den berauschenden Komponenten von Marihuana ähneln. Sie wirken also beinahe wie Drogen und könnten die gefühlte Abhängigkeit von Schokolade erklären.
- Die Hormonsteuerung: In unserer Nahrung gibt es auch Botenstoffe, die für die Emotionsregulation zuständig sind. Ein Botenstoff ist zum Beispiel das Serotonin. Für die Herstellung dieses Hormons benötigt der Körper spezifische Moleküle aus bestimmten Aminosäuren, die zum Beispiel in Käse, Fisch, Fleisch, Hülsenfrüchten, Getreiden oder Nüssen enthalten sind.
- Die psychoaktive Wirkung unserer Darmbakterien: Was wir zu uns nehmen, wirkt sich auf die Mikroben in unserem Darm aus. Unsere Darmbakterien ernähren sich von bestimmten Nahrungskomponenten und produzieren ihrerseits wieder Substanzen, die sich womöglich auf unser Gemüt auswirken.
Im Fokus der Ernährungspsychologie stehen aber noch weitere Zusammenhänge. Nämlich die Beeinflussung unserer Gefühle in Verbindung mit dem Essen und der Blick über den Tellerrand hinaus mit der Verknüpfung der jeweiligen Lebensbereiche.
Wie Gefühle unser Essverhalten steuern
Jede Mahlzeit bestimmt, was wir fühlen, und steuert entsprechend unser Essverhalten. Essen drückt eine Art der Lebenseinstellung aus, symbolisiert einen gesellschaftlichen Status, weist auf die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und Lebenskultur hin. Menschen essen, um zu feiern, um sich zu belohnen, um sich zu entspannen oder um sich zu trösten. Der Mensch ist ein Wesen, der sich nicht im fachspezifischen Sinn ernährt und das Essen nur zur Befriedigung von Hunger betrachtet. Es ist immer ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren und zugleich auch Genuss. Oder wie es Professor Joachim Westenhöfer, Fachbereich Ökotrophologie der Fachhochschule Hamburg, formuliert: «Das Essverhalten, das an der Mutterbrust beginnt, ist immer auch eingebettet in einen sozialen und in einen emotionalen Bezug.»
Selbstverständlich gehören emotionale Ausdrucksformen zu einem völlig normalen Essverhalten. Sie fliessen in einen automatischen Regelkreis der Nahrungszufuhr mit ein. Als problematisch erweist es sich erst, wenn Menschen in Bezug auf einzelne Funktionen nicht mehr über andere Handlungsalternativen verfügen und Essen für jegliche Art der emotionalen Ausbalancierung nutzen. Benötigen Menschen das Essen für ihr seelisches Gleichgewicht, beginnt auch die Genussfähigkeit zu leiden. Im extremen Fall können Süchte und Zwänge entstehen, die sich in einem entgleisten Essverhalten bis hin zu Essstörungen ausdrücken können. Gemeint ist damit eine übermässige Beschäftigung mit dem Essen und dem Körper, die dazu führt, dass die emotionale, soziale und körperliche Integrität stark beeinträchtigt wird.
Besseres Wohlbefinden durch bestimmte Lebensmittel?
Es gibt Lebensmittel, die in der Tat im Köper eine besänftigende Wirkung haben. Ein wohltuender Geschmack lässt uns besser fühlen. Oder assoziierte schöne Erinnerungen können angenehme Gefühle wachrufen. So zum Beispiel bestimmte Süssspeisen aus der Kindheit oder frische Himbeeren aus dem Garten der Grossmutter.
Ein Energieschub, durch Lebensmittel geliefert, schenkt auch mehr Kraft. Oder bioaktive Substanzen wie zum Beispiel Tryptophan als Vorstufe zum Glückshormon Serotonin, lassen unsere Laune anheben. Die positive Wirkung ist aber in der Regel nur von kurzer Dauer, denn sensorische Erlebnisse wie Geschmack, Geruch oder das Gefühl auf der Zunge lassen schnell nach. Sie halten genauso lange an, wie die Lebensmittel die Sinnesorgane zu reizen vermögen. Dies gilt auch für die Effekte bioaktiver Substanzen.
Gründe für eine emotionale Kopplung ans Essen
Noch ist nicht ausreichend begründet, wieso einige Menschen einen Hang zum emotionalen Essen haben und andere nicht. Allerdings gibt es dazu einige Vermutungen. So kann es sich beim emotionalen Essen um ein erlerntes Verhalten handeln. Zum Beispiel hat man erfahren, dass bestimmte Lebensmittel beruhigen, Trost spenden oder zur guten Stimmung beitragen. Dabei sind die Einflüsse aus Kindheitstagen ein wesentlicher Faktor zur Erlernung eines bestimmten Essverhaltens, die ein emotionales Essverhalten zur Folge haben.
Auch biologische Einflüsse sind mit verantwortlich. Einige Personen reagieren sensitiver auf eine Belohnung in Form von Lebensmitteln, weil das Belohnungssystem in ihrem Gehirn gut darauf anspricht. Und natürlich geht es auch immer wieder darum, wie gut genährt der Mensch im Allgemeinen ist. Ist die Seele ausgehungert, scheint der Mensch anfälliger für emotionales Essen zu sein. Essen füllt dabei die innere Leere. Warum ein emotionales Essverhalten sich zu einer Essstörung entwickeln kann, ist wissenschaftlich noch nicht abschliessend geklärt.
Warum wir bei Stress selten zum Salat greifen
Wer schon mal hungrig einkaufen gegangen ist, weiss, dass nicht nur mengenmässig mehr gekauft wird, sondern dass auch mehr ungesunde Lebensmittel im Einkaufskorb liegen. Unter Stress passiert Ähnliches: die Lust auf Süsses oder Fettreiches ist grösser als die Lust auf Karotten und Salat. Den Grund dafür liefert der Hirnforscher Professor Dr. med. Achim Peters mit seiner Selfish-Brain-Theorie, die auf der These des egoistischen Gehirns beruht. So ist unser Gehirn der grösste Energieverbraucher im Körper und unter Stress besonders gefordert.
In der Regel verbraucht das Gehirn bis zu 60 Prozent der zirkulierenden Glukose. Bei Stress steigert sich dieser Verbrauch auf bis zu 90 Prozent. Ein kleiner Kern im Hypothalamus ist dabei für den Appetit zuständig und übernimmt die Aufgabe eines Wächters, wenn das Gehirn zu wenig Glukose meldet.
Informationen aus dem restlichen Körper werden blockiert und wir greifen weiterhin zu Kohlenhydraten, obwohl der Rest vom Organismus gut versorgt ist. Das Verlangen nach energiereichem Essen in stressigen Zeiten ist also kein Mangel an Selbstkontrolle, sondern eine Einrichtung der Evolution.
Mit einem ganzheitlichen Blick für eine gute Balance sorgen
Ein ganzheitlicher Blick verhilft zu einer adäquaten Ordnung im komplexen Wechselspiel zwischen Kopf und Bauch. Denn all die erwähnten Einflussfaktoren wie unsere Emotionen, die gustatorischen Verknüpfungen mit unseren Kindheitserinnerungen oder auch der Stress beeinflussen eine entspannte Beziehung zum Essen. Emotionen, Lust oder Zwänge dominieren zunehmend über das vorhandene Wissen und bremsen die intuitive Handlungskompetenz aus.
Dient Essen zudem vermehrt der Befriedigung von Bedürfnissen, die nichts mit dem Essen zu tun haben, entsteht ein fehlgeleitetes Essverhalten. Hilfreich ist hierbei der Blick über den Tellerrand und der eigentlichen Nahrungsmittelauswahl hinaus, um sich mit den Verknüpfungen im Leben im Zusammenhang mit dem Essen auseinanderzusetzen. Das anthropologische Würfelmodell mit seinen sechs Lebensdimensionen nach Dr. med. Dr. theol. Yvonne Maurer kann ein hilfreiches Tool sein, all den Stolpersteinen zwischen Kopf und Bauch auf die Spur zu kommen.
Oft kristallisiert sich heraus, dass Essen zwar ein wirkungsvoller, aber auf Dauer ungünstiger Weg ist, um ein Zuwenig an Zeit, an sozialen Kontakten oder an sinnlichem Erleben zu kompensieren. Dazugehörige unangenehme Gefühle wie Anspannung, Stress, Müdigkeit oder innere Leere werden aufgegriffen und den echten Bedürfnissen zugeordnet. Bestimmte Fragen stehen im Zentrum: «Was tut mir gut? Welchen Impulsen folge ich bei der Nahrungsmittelwahl? Was brauche ich in bestimmten Situationen wirklich? Wie wohl ist es mir in meinem Körper – vor, während und nach dem Essen?» Sich diesen und weiteren bedürfnisorientierten Fragen zu stellen, sich zu beobachten und Handlungen entsprechend danach auszurichten, unterstützen den Weg zu einer intuitiven Ernährungsform und bringen das Wechselspiel zwischen Kopf und Bauch in eine entspannte Balance.
Ziel ist es, dem eigenen Instinkt und den individuellen Bedürfnissen klarer zu folgen. Mit einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des Essverhaltens wird den ursprünglichen Körpersignalen wie Hunger und Sättigung sowie persönlichen Bedürfnissen wieder Raum gegeben. Dabei darf sich ein von Regeln und Zwängen befreites Essverhalten entwickeln, mit den positiven Nebenwirkungen von entspannter Genussfähigkeit und differenzierterem Körpererleben.
Aus- und Weiterbildung am IKP
Aus- und Weiterbildung am IKP Das eduQua-zertifizierte IKP Institut für Körperzentrierte Psychotherapie bietet die 2- bzw. 4-jährige berufsbegleitende Ausbildung in Ernährungs-Psychologischer Beratung IKP an. Die Ausbildung ist von diversen Krankenkassen über die Zusatzversicherung anerkannt und entspricht den Anforderungen der ASCA.
Zudem besteht die Möglichkeit, nach einer 4-jährigen Ausbildungszeit einen Diplomabschluss als «Berater(in) im psychosozialen Bereich mit eidg. Diplom» zu erlangen.
Weiterführende Informationen zur Ernährungs-Psychologischen Beratung IKP:
IKP Institut für Körperzentrierte Psychotherapie, Zürich und Bern, Telefon 044 242 29 30
Helena Kistler-Elmer ist dipl. Ernährungsberaterin FH und arbeitet als Dipl. Ernährungs-Psychologische Beraterin beim Institut für Körperzentrierte Psychotherapie IKP. Sie hat mehrjährige Erfahrung als Ausbilderin in den Fachbereichen Ernährung und Psychologie.